BFH Beschluss v. - VI R 15/12

Keine Aufhebung eines zu Unrecht erhobenen Beiladungsbeschlusses

Leitsatz

1. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung begründet einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, der vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist.
2. Eine vom Finanzgericht (FG) zu Unrecht beschlossene notwendige Beiladung kann im Revisionsverfahren nicht aufgehoben werden. Auch ein vom FG zu Unrecht Beigeladener ist am Revisionsverfahren beteiligt.
3. Bei dem Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff. EStG und dem Erstattungsanspruch bzw. dem Rückerstattungsanspruch handelt es sich um eigenständige Ansprüche, die aber so eng miteinander zusammenhängen, dass eine gerichtliche Entscheidung gegenüber dem Kindergeldberechtigten und dem Erstattungsberechtigten nur einheitlich ergehen kann (§ 60 Abs. 3 Satz 1 FGO).

Gesetze: EStG § 62, EStG § 74 Abs. 2, SGB X § 104, SGB X § 107, SGB X § 103, SGB XII § 3 Abs. 2, FGO § 60 Abs. 3, FGO § 110, FGO § 123 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), die die kroatische Staatsangehörigkeit besitzt, beantragte im August 2004 unter Vorlage einer Haushaltsbescheinigung für ihre drei Kinder A, B sowie C die Bewilligung von Kindergeld. Dies lehnte das damals zuständige Arbeitsamt mit Bescheid vom ab.

2 Im Oktober 2004 beantragte die Klägerin, ebenfalls unter Vorlage einer Haushaltsbescheinigung aus Oktober 2004, erneut die Festsetzung von Kindergeld. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom , der unter dem nochmals abgesandt worden war, bestandskräftig abgelehnt.

3 Unter Hinweis auf einen veränderten ausländerrechtlichen Status stellte die Klägerin im Februar 2008 bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) einen Antrag auf (auch rückwirkende) Festsetzung von Kindergeld.

4 Noch bevor über diesen Antrag entschieden worden war, wandte sich der Arbeitsmarktservice im Landkreis . unter dem an die Familienkasse und machte gemäß den §§ 102 ff. des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) einen Ersatzanspruch auf die Nachzahlung des Kindergeldes geltend und führte in diesem Zusammenhang aus:

5 „Frau… (= Klägerin) hat für ihre Tochter C, Kindergeld beantragt. Frau…und ihre Tochter erhalten seit dem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

6 Auf fernmündliche Nachfrage durch die Familienkasse erklärte der Arbeitsmarktservice, dass sich der Erstattungsanspruch auf die Monate März und April 2008 erstrecke und bezifferte diesen mit Schreiben vom auf einen Betrag in Höhe von ... €.

7 Unter dem machte die Stadt . gegenüber der Familienkasse ebenfalls einen Erstattungsanspruch gemäß § 102 SGB X i.V.m. § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Bezug auf die Kinder der Klägerin, nämlich C, A und B, geltend und verwies hierzu auf folgenden Sachverhalt:

8 „Familie…hat bei mir bis zum laufende Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), ohne Anrechnung von Kindergeld, erhalten. (...)

9 Seitens der Familie…wurde mitgeteilt, dass das Kindergeld eventuell rückwirkend ab dem Jahr 2004 bewilligt wird. Sollte dies zutreffen, bitte ich meinen Erstattungsanspruch zu berücksichtigen.”

10 Auf diesem Schreiben der Stadt . befindet sich ein handschriftlicher Vermerk mit dem Namenszeichen „...” und einem Datumsstempel „”, wonach der Erstattungsanspruch auf die gesamte Nachzahlung 12/04-02/08 gerichtet sei.

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Mit Bescheid vom setzte die Familienkasse gegenüber der Klägerin Kindergeld ab Dezember 2004 wie folgt fest:  
 
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Dezember 2004 bis August 2005 für A, B und C mit 462 Euro/Monat  
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September 2005 bis August 2006 für B und C über 308 Euro/Monat  
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September 2006 bis Februar 2008 für A, B und C in Höhe von 462 Euro/Monat  
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ab März 2008 für B und C mit 308 Euro/Monat.

12 Die Familienkasse führte weiter aus, dass die Klägerin für den Zeitraum von Dezember 2004 bis Februar 2008 das in Höhe von insgesamt ... € festgesetzte Kindergeld nicht ausgezahlt erhalte, da dieser Anspruch ihr gegenüber nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X als erfüllt gelte. Denn die Stadt . habe in dieser Höhe gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 103, 104 SGB X einen Erstattungsanspruch geltend gemacht, da für diesen Zeitraum Sozialleistungen ohne Anrechnung von Kindergeld gewährt worden seien.

13 Für den Zeitraum März bis April 2008 sah die Familienkasse den Anspruch der Klägerin in Höhe von ... € nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X als erfüllt an, da die ALG II-Stelle im Landkreis . in dieser Höhe gleichfalls einen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe. Für diesen Zeitraum seien Sozialleistungen ohne Anrechnung von Kindergeld gewährt worden.

14 Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) weitgehend abgewiesen. Zuvor hat es mit Beschluss vom   12 K 326/09 zunächst die Stadt . (Beigeladene zu 1.) und den Landkreis . zu dem Verfahren beigeladen. Auf die Beschwerde des Landkreises . ist die ihm gegenüber erfolgte Beiladung aufgehoben und die ALG II-Stelle im Landkreis . (Beigeladene zu 2.) zu dem Verfahren beigeladen worden (Beschluss vom   12 K 326/09).

15 Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.

16 II. Der Landkreis . ist zu dem Verfahren notwendig beizuladen.

17 1. Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat eine Beiladung dann zu erfolgen, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die gerichtliche Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das ist der Fall, wenn die Entscheidung nach Maßgabe des materiellen Steuerrechts notwendigerweise und unmittelbar Rechte oder Rechtsbeziehungen des Dritten gestaltet, bestätigt, verändert oder zum Erlöschen bringt (z.B. , BFH/NV 2010, 1291, m.w.N.; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 60 FGO Rz 43; Gräber/Levedag, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 60 Rz 23; Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 60 FGO Rz 19). Die notwendige Beiladung soll sicherstellen, dass eine Sachentscheidung, die die Rechte eines Dritten in der vorbezeichneten Weise betrifft und aus diesem Grunde auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann, nicht ohne Beteiligung dieses Dritten erlassen wird (, BFHE 209, 101, BStBl II 2005, 776, m.w.N.).

18 a) Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO vor. Nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X gilt der Anspruch der Klägerin gegen die Familienkasse auf Kindergeld als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch des nunmehr beigeladenen Landkreises . nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X besteht. Der Erfolg der Klage ist somit davon abhängig, ob die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch vorliegen. Kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass kein Erstattungsanspruch besteht, hat der Beigeladene die von der Familienkasse gezahlten Beträge gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 112 SGB X zurückzuerstatten. Deshalb beeinflusst die Entscheidung über die Auszahlung des Kindergeldanspruchs auch die Rechtsposition des beigeladenen Landkreises. Denn dieser ist der im Streitfall örtlich zuständige Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch —SGB XII—) und damit Inhaber des Erstattungsanspruchs nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X, auch wenn der Erstattungsanspruch vorliegend gemäß der Satzung des Landkreises . über die Heranziehung der kreisangehörigen Städte, Gemeinden und Samtgemeinden zur Durchführung der dem Landkreis als örtlichem Träger der Sozialhilfe obliegenden Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch (SGB), Zwölftes Buch (SGB XII) —Sozialhilfe— (Heranziehungssatzung SGB XII) vom ., zuletzt geändert am ., von der Gemeinde . verfolgt wird. Zwar handelt es sich bei dem Kindergeldanspruch nach §§ 62 ff. EStG und dem Erstattungsanspruch bzw. dem Rückerstattungsanspruch um eigenständige Ansprüche. Sie hängen aber so eng miteinander zusammen, dass eine gerichtliche Entscheidung gegenüber dem Kindergeldberechtigten und dem Erstattungsberechtigten nur einheitlich ergehen kann (vgl. , BFH/NV 2007, 720, m.w.N.).

19 b) Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung (hier des Landkreises .) begründet einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, der vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 720). Da die Beiladung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO in der Revisionsinstanz nachgeholt werden kann, macht der Senat von dem ihm in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass er von einer Zurückverweisung der Sache an das FG absieht und die Beiladung selbst vornimmt.

20 c) Die vom FG zu Unrecht beschlossene notwendige Beiladung der Stadt ., die vorliegend gemäß § 2 Abs. 1 der Heranziehungssatzung SGB XII lediglich den Erstattungsanspruch des Landkreises . verfolgt, kann im Revisionsverfahren —anders als im sozialgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren— nicht aufgehoben werden (, BFHE 133, 526, BStBl II 1982, 192; vom VIII R 26/94, BFHE 191, 1, BStBl II 2000, 300, und vom I R 83/03, BFH/NV 2004, 1482; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 60 FGO Rz 109). Auch ein vom FG zu Unrecht Beigeladener ist am Revisionsverfahren beteiligt (, BFHE 191, 1, BStBl II 2000, 300, m.w.N.); welche Wirkung die Entscheidung des FG im Hinblick auf einen zu Unrecht Beigeladenen entfaltet (§ 110 FGO; vgl. auch , BFHE 91, 406, BStBl II 1968, 396), ist im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2013 S. 1242 Nr. 8
DAAAE-38700