BVerwG Beschluss v. - 10 B 34/12

Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens; gerichtliches Ermessen

Leitsatz

Das gerichtliche Ermessen bei der Entscheidung über Beweisanträge verdichtet sich nur dann zur Pflicht der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, wenn sich die in bisher vorliegenden Gutachten behandelten Fragestellungen auf Grund tatsächlicher Entwicklungen oder wegen einer Änderung der Rechtsprechung oder der Rechtslage als unzureichend erweisen.

Gesetze: § 98 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, § 412 Abs 1 ZPO, § 244 Abs 4 S 2 StPO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 3 L 152/09 Urteilvorgehend VG Magdeburg Az: 7 A 256/05

Gründe

1Die auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde rügt zu Unrecht, das Berufungsgericht habe zwei Beweisanträge rechtsfehlerhaft abgelehnt.

2In der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht hat der Kläger mit der Begründung, die bereits vorliegenden Gutachten seien nicht mehr haltbar, die Einholung gutachtlicher Stellungnahmen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und eines von ihm benannten Gutachters zum Beweis der Tatsache beantragt, dass

"die Muslime in den Siedlungsgebieten der Yeziden die verbliebenen und zurückkehrenden Yeziden auch weiterhin einzuschüchtern und zu vertreiben versuchen, um sich ihre Dörfer und die dazugehörenden landwirtschaftlichen Nutzflächen anzueignen"

und dass

"die zuständigen türkischen Behörden weiterhin weder willens noch in der Lage sind, die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Yeziden nachhaltig zu unterbinden".

3Das Oberverwaltungsgericht hat diese Beweisanträge unter Verweis auf zwei konkret benannte Gutachten, von denen eines durch den vom Kläger benannten Gutachter erstellt worden ist, und zwei Lageberichte des Auswärtigen Amtes mit der Begründung abgelehnt, dem Senat lägen zu den Beweistatsachen bereits ausreichende Erkenntnismittel vor, so dass keine Veranlassung für eine weitere Sachaufklärung gegeben sei. Diese Begründung steht in der gegebenen prozessualen Situation im Einklang mit Prozessrecht.

4Liegen zu einer erheblichen Tatsache bereits amtliche Auskünfte oder gutachtliche Stellungnahmen vor, richtet sich die im Ermessen des Gerichts stehende Entscheidung über einen Antrag auf Einholung weiterer Auskünfte oder Gutachten nach § 98 VwGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO. Danach kann das Gericht eine weitere Begutachtung anordnen, wenn es die vorliegenden Auskünfte oder Gutachten ohne Rechtsverstoß für ungenügend erachtet (§ 412 Abs. 1 ZPO); einer erneuten Begutachtung bedarf es jedenfalls dann nicht, wenn das Gegenteil der erneut behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist (§ 244 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 StPO). Ungenügend sind Auskünfte und Gutachten insbesondere dann, wenn sie erkennbare Mängel aufweisen, etwa unvollständig, widersprüchlich oder sonst nicht überzeugend sind, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder wenn der Gutachter erkennbar nicht sachkundig ist bzw. Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen. Das gerichtliche Ermessen kann sich auch dann zu der Pflicht neuerlicher Begutachtung verdichten, wenn durch neuen entscheidungserheblichen Sachvortrag der Beteiligten oder eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichts die Aktualität der vorliegenden Auskünfte zweifelhaft oder wenn sonst das bisherige Beweisergebnis ernsthaft erschüttert wird. Schließlich kann die Erforderlichkeit der Einholung weiterer Auskünfte oder Gutachten auch darauf beruhen, dass die Fragestellung der bisherigen Gutachten sich - auf Grund tatsächlicher Entwicklungen oder wegen einer Rechtsprechungsänderung (vgl. etwa die Rechtsprechung des Senats zur Änderung der Maßstäbe bei religiöser Verfolgung: BVerwG 10 C 23.12 - Rn. 15, 17, 22 ff., 31, 44 f.) - als unzureichend erweist. Reichen indes die in das Verfahren bereits eingeführten Erkenntnismittel zur Beurteilung der geltend gemachten Gefahren aus, kann das Gericht einen Beweisantrag auf Einholung weiterer Auskünfte unter Berufung auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen, wenn es seine Sachkunde ggf. im Rahmen der Beweiswürdigung darstellt und belegt (Beschlüsse vom - BVerwG 2 B 73.09 - Rn. 9 und vom - BVerwG 1 B 84.05 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 11 Rn. 7; stRspr).

5Aus der Beschwerdebegründung folgt indes nicht, dass den Auskünften und Gutachten, auf die das Berufungsurteil und die Ablehnung der Beweisanträge gestützt sind, derartige Mängel anhaften. Vielmehr verweist sie für die Erforderlichkeit einer erneuten sachverständigen Begutachtung fast ausschließlich auf Erkenntnismittel, die den Zeitraum bis 2006/2007 betreffen, während das Berufungsgericht sich im Kern auf seine Einschätzung der Lage der Yeziden in der Türkei in einem Grundsatzurteil vom Oktober 2007 sowie darauf stützt, dass auch für die Zeit nach 2007 hinsichtlich der Verfolgungslage der Yeziden in der Türkei - wie im Einzelnen unter Heranziehung neuerer Erkenntnismittel und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung anderer Gerichte ausgeführt wird - eine veränderte Situation nicht feststellbar ist. Der Beschwerdebegründung lässt sich insbesondere nicht entnehmen, dass die vom Berufungsgericht für die Ablehnung der Beweisanträge angeführten Erkenntnismittel vom und , und fehlerhaft oder überholt sein könnten und deshalb die Feststellungen des Berufungsgerichts in Frage stellen würden.

6Auch die weitere Rüge der Beschwerde, die vom Berufungsgericht zur Begründung seiner Ablehnung der Beweisanträge herangezogenen Auskünfte seien im Hinblick auf die Beweistatsachen inhaltslos oder ließen sich eher für als gegen die Erforderlichkeit einer erneuten Begutachtung anführen, geht fehl. Insbesondere soweit die Beschwerdebegründung den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom zitiert, hebt sie zwar die Formulierung hervor, "in Einzelfällen" komme es "zu Schwierigkeiten mit den politisch gut vernetzten Klans der Region", übergeht indes die in demselben Textabsatz enthaltene Feststellung des Auswärtigen Amtes, es seien "aus der jüngsten Vergangenheit ... keine Fälle bekannt, in denen der Staat den Betroffenen keinen Schutz gewährt hat".

7Soweit die Beschwerde schließlich bemängelt, das Berufungsgericht stütze sich auf nicht mehr aktuelle Lageberichte des Auswärtigen Amtes, führt sie ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision und genügt im Übrigen nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Das Berufungsgericht hat allerdings zur Begründung seiner Ablehnung der beiden Beweisanträge (Nr. 5 und Nr. 6), die allein Gegenstand der Beschwerde ist, lediglich auf die Lageberichte von 2009 und 2010, nicht aber auf den zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aktuellen Lagebericht von 2011 verwiesen. Dies ist unter den Umständen des vorliegenden Falles jedoch nicht verfahrensfehlerhaft. Zwar sind die mit Asylsachen befassten Gerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt ( BVerwG 1 B 217.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 329). Diesem aus § 86 Abs. 1 VwGO abzuleitenden Gebot ist das Berufungsgericht allerdings gerecht geworden. Denn es hat den aktuellen Lagebericht von 2011 nicht nur in der den Verfahrensbeteiligten vor dem Termin übersandten Erkenntnismittelliste - Stand - aufgeführt (vgl. BVerwG 1 B 352.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 272), sondern sich sowohl im Urteil als auch in dem Beschluss über die Ablehnung der Beweisanträge an anderer Stelle (zu den Beweisanträgen Nr. 1 und Nr. 2) mehrfach auf diesen Bericht bezogen. Der Umstand, dass es im Zusammenhang mit der Ablehnung der Beweisanträge Nr. 5 und Nr. 6 lediglich die Lageberichte von 2009 und 2010 erwähnt hat, ist deshalb kein Indiz dafür, dass es die aktuelle Erkenntnislage nicht zur Kenntnis genommen hätte, zumal der Beweisantrag Nr. 1, zu dessen Ablehnung sich das Berufungsgericht u.a. auf den Lagebericht 2011 gestützt hatte, eine thematische Überschneidung mit dem Beweisantrag Nr. 5 aufweist. Im Übrigen hat die Beschwerde nicht dargelegt, dass der Lagebericht vom asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse beschreibt. Sie hat im Gegenteil zutreffend darauf verwiesen, dass jedenfalls die Lageberichte 2009 und 2010 hinsichtlich der Ausführungen zu den Yeziden textidentisch sind. Sie hätte deshalb dartun müssen, ob der Lagebericht von 2011 gegenüber dem Bericht von 2010 veränderte Aussagen enthält, die die Position des Klägers hätten stützen können; Anlass hierzu bestand schon deshalb, weil die Textpassage zur Lage der Yeziden auch im Lagebericht 2011 identisch mit den entsprechenden Formulierungen der Vorjahre ist. Ausführungen hierzu enthält die Beschwerdebegründung indes nicht.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
HFR 2013 S. 954 Nr. 10
NJW 2013 S. 10 Nr. 24
NJW 2013 S. 10 Nr. 25
RAAAE-35279