Übertragung des Freibetrages für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf verstößt nicht gegen das Grundgesetz; Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auch bei nicht bestandskräftigen Ereignis
Leitsatz
1. § 32 Abs. 6 Satz 7 Halbsatz 2 EStG i.d.F. der Jahre 2000 und 2001 und § 32 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des Jahres 2002 sind verfassungsgemäß.
2. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Das spätere Ereignis muss den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestalten und sich darüber hinaus steuerrechtlich in der Weise auswirken, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht.
3. Ein Ereignis, das die Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO rechtfertigt, kann auch vorliegen, wenn der Steuerbescheid, in dem der Vorgang mit steuerlicher Wirkung zu berücksichtigen ist, noch nicht bestandskräftig ist.
Gesetze: EStG § 32 Abs. 6 Satz 7, AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden in den Streitjahren 2000 bis 2002 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Vater von zwei Kindern aus einer früheren Ehe, die bei ihrer Mutter leben. Die Klägerin ist ebenfalls Mutter von zwei Kindern aus einer früheren Ehe, die bei ihrem Vater leben. Auf Antrag der Mutter der Kinder des Klägers wurden der Betreuungsfreibetrag bzw. der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf (BEA-Freibetrag) des Klägers auf diese übertragen und blieben folglich in den Einkommensteuerbescheiden der Kläger für die Streitjahre ohne Berücksichtigung. Während des dagegen gerichteten Klageverfahrens änderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2001 und 2002 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung —AO— (2002) bzw. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (2001) in der Weise, dass er nach entsprechender Antragstellung durch den Vater der Kinder der Klägerin den Betreuungsfreibetrag bzw. den BEA-Freibetrag nicht mehr bei den Klägern berücksichtigte.
2 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Kläger neben der Verfassungswidrigkeit des Betreuungs- und BEA-Freibetrags geltend machten, für die Entziehung eines bereits berücksichtigten Freibetrags fehle es an einer verfahrensrechtlichen Grundlage, ab (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2011, 1703).
3 Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
4 Sie beantragen sinngemäß, das angefochtene Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre in der Weise zu ändern, dass für die Kinder der Kläger Betreuungsfreibeträge bzw. BEA-Freibeträge berücksichtigt werden.
5 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
6 II. Die Revision ist unbegründet und daher gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
7 1. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer wird in den Streitjahren 2000 und 2001 für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen ein Kinderfreibetrag sowie für jedes Kind, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder behindert ist, zusätzlich ein Betreuungsfreibetrag vom Einkommen abgezogen (§ 32 Abs. 6 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes —EStG— i.d.F. der Streitjahre 2000 und 2001). Im Streitjahr 2002 ist für jedes zu berücksichtigende Kind neben dem Kinderfreibetrag ein BEA-Freibetrag des Kindes vom Einkommen abzuziehen (§ 32 Abs. 6 Satz 1 i.d.F. des Streitjahres 2002). Nach § 32 Abs. 6 Satz 7 Halbsatz 2 EStG i.d.F. der Streitjahre 2000 und 2001 wird der dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind nicht gemeldet ist, zustehende Betreuungsfreibetrag auf Antrag auf den anderen Elternteil übertragen. Entsprechendes gilt im Streitjahr 2002 bei minderjährigen Kindern für den BEA-Freibetrag (§ 32 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des Streitjahres 2002).
8 Die Voraussetzungen für die Übertragung des Betreuungsfreibetrags (2000 und 2001) bzw. BEA-Freibetrags (2002) auf die geschiedene Ehefrau des Klägers bzw. den geschiedenen Ehemann der Klägerin liegen vor, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist.
9 Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind § 32 Abs. 6 Satz 7 Halbsatz 2 EStG i.d.F. der Streitjahre 2000 und 2001 und § 32 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des Streitjahres 2002 verfassungsgemäß (, BFHE 214, 120, BStBl II 2008, 352; vom III R 42/07, BFHE 236, 10, BFH/NV 2012, 839; a.A. Greite, Finanz-Rundschau 2012, 684). Der erkennende Senat schließt sich trotz der von den Klägern geltend gemachten Bedenken dieser Auffassung an. Zur Begründung wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die zitierten Entscheidungen Bezug genommen.
10 2. Soweit das FA in den geänderten Bescheiden für 2001 und 2002 den hälftigen Betreuungsfreibetrag bzw. BEA-Freibetrag für die Kinder der Klägerin nicht mehr berücksichtigt hat, begegnet dies auch verfahrensrechtlich keinen Bedenken. Das FA war zu der Änderung jedenfalls gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO berechtigt (Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 32 Rz 912; zur Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO s. , EFG 2007, 1245; v. Groll in Hübschmann/Hepp/ Spitaler —HHSp—, § 173 AO Rz 100).
11 a) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Das spätere Ereignis muss den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestalten und sich darüber hinaus steuerrechtlich in der Weise auswirken, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht (, BFHE 193, 129, BStBl II 2001, 641, m.w.N.). Ein Ereignis, das die Anwendung der Vorschrift rechtfertigt, kann auch vorliegen, wenn —wie hier— der Steuerbescheid, in dem der Vorgang mit steuerlicher Wirkung zu berücksichtigen ist, noch nicht bestandskräftig ist (, BFHE 196, 507, BStBl II 2002, 49; vom VIII R 67/02, BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 175 Rz 53; a.A. v. Groll in HHSp, § 175 AO Rz 325, 233, 273).
12 b) Im Streitfall ist, wie dargestellt, die maßgebliche materiell-rechtliche Vorschrift § 32 Abs. 6 Satz 7 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des Streitjahres 2001 bzw. § 32 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des Streitjahres 2002. Der entsprechende Antrag auf Übertragung des Betreuungsfreibetrags bzw. BEA-Freibetrags, der bis zur Bestandskraft der Veranlagung des antragstellenden Elternteils gegenüber seinem Wohnsitz-FA gestellt werden kann (Grönke-Reimann in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32 EStG Rz 188, 181), wirkt unmittelbar und nachträglich auf die Steuerschuld ein, weil er die Berücksichtigung des halben Freibetrags nicht mehr beim Steuerpflichtigen, sondern beim anderen Elternteil zur Folge hat.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2013 S. 909 Nr. 6
ZAAAE-33237