Rückwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007
Leitsatz
1. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.
2. Die in § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 geregelte rückwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.
Gesetze: EStG i.d.F. des JStG 2007 § 46 Abs. 2 Nr. 1EStG i.d.F. des JStG 2008 § 46 Abs. 2 Nr. 8EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 § 52 Abs. 55jAO §§ 169 Abs. 2 Nr 2, 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1GG Art. 20 Abs. 3GG Art. 2 Abs. 1
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Streitig ist, ob für die Veranlagungszeiträume 2002 bis 2004 noch Einkommensteuerveranlagungen durchzuführen sind.
2 Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Daneben erwirtschaftete er nach den Angaben in seinen Einkommensteuererklärungen, die am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) eingingen, Überschüsse der Werbungskosten über die Mieteinnahmen aus der langfristigen Vermietung einer Doppelhaushälfte in Höhe von 2.833 € (2002), in Höhe von 2.348 € (2003) und in Höhe von 2.030 € (2004). Mit Bescheiden vom lehnte das FA die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen ab, weil für die Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei.
3 Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) stattgegeben. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Jahr 2006 entschieden, dass eine Veranlagung von Amts wegen auch dann durchzuführen sei, wenn die negative Summe der Nebeneinkünfte den Betrag von 410 € übersteige. Danach habe der Kläger vorliegend einen Anspruch auf Abgabe der Einkommensteuererklärungen innerhalb der Festsetzungsfrist und Durchführung der Amtsveranlagungen erworben. Dieser Anspruch sei bereits mit Ablauf der jeweiligen Kalenderjahre und nicht erst mit Abgabe der Einkommensteuererklärungen entstanden und nicht durch Festsetzungsverjährung erloschen. Auch sei die Rechtslage für die Streitjahre nicht durch das Jahressteuergesetz (JStG) 2007 vom (BGBl I 2006, 2878, BStBl I 2007, 28) wirksam geändert worden. Zwar habe der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) inzwischen dahingehend geändert, dass nur weitere positive Einkünfte von mehr als 410 € zu einer Amtsveranlagung führen, diese Änderung des Einkommensteuergesetzes wirke jedoch nicht auf die Streitjahre zurück.
4 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 46 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 2007.
5 Es beantragt,
das angefochtene Urteil des aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung).
8 1. Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist die Amtsveranlagung nur durchzuführen, wenn, was hier nicht der Fall ist, die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 410 € beträgt (zur früheren Rechtslage s. , BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47; VI R 52/04, BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45). § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes (StVereinfG) 2011 (früher § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. des JStG 2007) auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 und damit die Streitjahre anzuwenden. Wortlaut und Gesetzeszweck der Vorschriften sind insoweit eindeutig.
9 a) Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen die bisherige Verwaltungspraxis, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 € bzw. 800 DM übersteigt, fortgesetzt wissen (Schmidt/Kulosa, EStG, 31. Aufl., § 46 Rz 12). Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Neuregelungen lediglich eine klarstellende Bedeutung beigemessen hat (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.; BTDrucks 16/3036, S. 22 „Zu Nummer 17”). Zum anderen macht die rück(be)wirkende Geltungsanordnung deutlich, dass der Gesetzgeber an seiner Lesart der bisherigen Fassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nur zukünftig, sondern auch für die Vergangenheit festhalten wollte (vgl. Paetsch in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 46 Rz 26b). Nach der durch die allgemeinen Regeln der Mathematik unterstützten wörtlichen Auslegung der Vorschrift sei eine negative Summe der Einkünfte niedriger als 0 und könne damit nicht mehr als 410 € bzw. 800 DM betragen (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.).
10 b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des Klägers verstößt diese Auslegung des § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 nicht gegen das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze. Dabei kann der Senat offenlassen, ob der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Geltungsanordnung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. des JStG 2007 tatsächlich in einen abgeschlossenen steuerlichen Sachverhalt ändernd eingegriffen hat. Denn selbst wenn ein solches Verhalten des Gesetzgebers vorläge, sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) jedoch —ohne dass dies abschließend wäre— Fallgruppen anerkannt, in denen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) durchbrochen ist (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 2 Bvl 2/83, BVerfGE 72, 200 <258 ff.>; vom 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67 <79 f.>; , BVerfGE 101, 239 <263>). So tritt das Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, namentlich dann zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 101, 239 <263>), etwa weil die Rechtslage unklar und verworren war (vgl. , BVerfGE 13, 261 <272>) oder eine gefestigte Rechtsanwendungspraxis zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage nach Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird (BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, BVerfGE 81, 228; vom 1 BvR 1138/06, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 14, 338, und vom 1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, 1 BvR 2530/05, BVerfGE 126, 369, 393 f.).
11 Gemessen hieran durfte der Gesetzgeber für eine Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG (weiterhin) positive Nebeneinkünfte voraussetzen. Denn mit der Neuregelung hat er lediglich die Rechtslage wiederhergestellt, die bis zu den Entscheidungen des (in BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47, und in BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45) der jahrzehntelangen Besteuerungspraxis (vgl. z.B. , BFHE 214, 141, BStBl II 2006, 801; , Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2006, 1523; , EFG 2007, 593; , juris; , juris) und der nahezu einhelligen Meinung im Fachschrifttum (z.B. Schmidt/Glanegger, EStG, 24. Aufl., § 46 Rz 50 f.; Haase, Steuern und Bilanzen 2005, 157) entsprochen hat. Ein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der hiervon abweichenden Rechtslage und damit der Rechtsprechung des konnte in der Zeit bis zum Erlass der Neuregelungen nicht entstehen (vgl. , 12 K 479/08, EFG 2011, 533). Denn der Gesetzgeber hat bereits am angekündigt, dass er zur bisherigen Rechtslage zurückkehren werde, nach der eine Pflichtveranlagung zur Einkommensteuer bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum Einkünfte aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe 410 € bzw. 800 DM übersteigt (BRDrucks 622/1/06, S. 21 f.).
12 c) Ob und inwieweit anderes für die Zeit nach dem Ergehen der Urteile des BFH in BFHE 215, 149, BStBl II 2007, 47 und in BFHE 215, 144, BStBl II 2007, 45 bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss am bzw. der Verkündung des JStG 2007 am (BGBl I 2006, 2878) oder jedenfalls bis zur entsprechenden Gesetzesinitiative (, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2012, 2322, m.w.N.) —hier der Veröffentlichung der BRDrucks 622/1/06— gilt, kann vorliegend ebenfalls dahinstehen. Denn der Kläger hat seine Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre erst am abgegeben; etwaige im Vertrauen auf die erfolgte Rechtsprechungsänderung getätigte Dispositionen in der Zeit bis zum Erlass der Neuregelung stehen damit nicht zur Entscheidung. Im Übrigen genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, wenn —wie hier— keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. BVerfG-Beschluss in DStR 2012, 2322, m.w.N.).
13 2. Damit kommt vorliegend allein eine Veranlagung des Klägers nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. des JStG 2008 (EStG n.F.) vom (BGBl I 2007, 3150, BStBl I 2008, 218) in Betracht. Danach wird eine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Die —frühere zusätzliche— Voraussetzung, dass der Antrag bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres zu stellen war, ist entfallen.
14 a) § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. ist gemäß § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 (früher § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG n.F.) erstmals für den Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden und in Fällen, in denen am über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist. Letzteres trifft zu. Eine bestandskräftige Ablehnung des Antrags des Klägers auf Durchführung der Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre liegt nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Senats ist es nicht erforderlich, dass der Antrag auf Veranlagung für Veranlagungszeiträume vor 2005 bereits vor dem bei den Finanzbehörden eingegangen ist (Senatsentscheidung vom VI R 1/09, BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406).
15 b) Im Streitfall steht der Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 4 EStG i.d.F. des StVereinfG 2011 jedoch der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen.
16 Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vier Jahre. Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Einkommensteuer für 2002, 2003 und 2004 verjährte demnach mit Ablauf der Jahre 2006, 2007 und 2008. Nach den Feststellungen des FG hat der Kläger den erforderlichen Antrag durch Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (erst) im Jahre 2009 beim FA gestellt.
17 Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nach der neuen Rechtsprechung des BFH nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung auf die Senatsentscheidung vom VI R 53/10 (BFHE 233, 311, BStBl II 2011, 746) verwiesen.
18 Nach alldem war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2013 II Seite 439
BFH/NV 2013 S. 822 Nr. 5
BFH/PR 2013 S. 190 Nr. 6
BStBl II 2013 S. 439 Nr. 11
DB 2013 S. 1028 Nr. 19
DStR 2013 S. 12 Nr. 13
DStR 2013 S. 700 Nr. 14
DStRE 2013 S. 567 Nr. 9
EStB 2013 S. 172 Nr. 5
FR 2013 S. 672 Nr. 14
HFR 2013 S. 404 Nr. 5
KÖSDI 2013 S. 18361 Nr. 5
NWB-Eilnachricht Nr. 15/2013 S. 1061
StB 2013 S. 138 Nr. 5
StBW 2013 S. 339 Nr. 8
StBW 2013 S. 501 Nr. 11
GAAAE-32711