Haftung für Umsatzsteuer
Leitsatz
1. Die Haftungsinanspruchnahme für einen Umsatzsteuerrückforderungsanspruch wegen (angeblich) materiell-rechtlich zu Unrecht festgesetzter und ausgezahlter negativer Umsatzsteuer (Vorsteuerüberschüsse) setzt voraus, dass aufgrund der formellen Bescheidlage (Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung) beim Steuerpflichtigen (Primärschuldner) festgestellt wurde, dass der Umsatzsteuererstattungs- bzw. Vergütungsanspruch nicht bestanden hat.
2. Es genügt nicht, dass materiell-rechtlich kein Anspruch auf Festsetzung der negativen Umsatzsteuer und die Auszahlung des Überschusses bestand. Die Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen (Primärschuldner) muss zunächst entsprechend der materiellen Rechtslage korrigiert werden.
Gesetze: AO § 37 Abs. 2AO § 38AO § 69AO § 150 Abs. 1 Satz 3AO § 168 Sätze 1 und 2AO § 191 Abs. 1 Satz 1AO § 218 Abs. 1
Instanzenzug: (EFG 2011, 938) (Verfahrensverlauf),
Gründe
I.
1 Streitig ist, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) als Geschäftsführer einer GmbH für Umsatzsteuer der GmbH mit Haftungsbescheid zu Recht in Anspruch genommen wurde.
2 Der Kläger war seit dem Geschäftsführer der Y-GmbH (GmbH), die mit Gesellschaftsvertrag vom gegründet wurde und deren Sitz im Inland lag. Gegenstand der GmbH war die Vermietung von Baugerüsten sowie der Alleinvertrieb von Y Baugerüsten in Griechenland.
3 Die GmbH machte in verschiedenen Umsatzsteuer-Voranmeldungen Vorsteuerbeträge geltend, die ihr durch den Beklagten und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) erstattet wurden.
4 Aufgrund einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung im Jahr 2004 stellte sich heraus, dass die GmbH ihr operatives Geschäft bereits im Gründungsjahr 2003 nach Griechenland verlegt hatte. Nach Ansicht des FA war die GmbH kein inländisches Unternehmen mehr, so dass ihr die Vorsteuern zu Unrecht erstattet worden seien.
5 Nach Angaben des FA hob es die Umsatzsteuer-Voranmeldungen mit Bescheid vom auf und erteilte Abrechnungsbescheide über die zuviel erstattete Umsatzsteuer, die dem Bevollmächtigten der GmbH Dr. K zugesandt wurden. Der Kläger bestritt den Zugang dieser Bescheide.
6 Das FA nahm den Kläger mit Haftungsbescheid vom gemäß § 191 i.V.m. §§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO) für Umsatzsteuerschulden der GmbH u.a. für die Voranmeldungszeiträume Februar, April, Juni bis September und Dezember 2004 zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt ... € in Anspruch, da er als Geschäftsführer der GmbH deren Steuern nicht abgeführt habe.
7 Mit Einspruchsentscheidung vom wies das FA den Einspruch insoweit als unbegründet zurück.
8 Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage statt. Es führte zur Begründung aus, da die GmbH im Jahr 2004 im Inland nicht (mehr) tätig gewesen sei, habe sie im Jahr 2004 keinen Vorsteuererstattungsanspruch gehabt. Die vom FA „bereits gezahlten Beträge seien daher als Rückforderungsanspruch gegen die GmbH nach § 37 Abs. 2 AO zu qualifizieren.” Nachdem aber die Erstattungen aufgrund von Voranmeldungen und damit aufgrund von Steuerbescheiden erfolgt seien, müssten zunächst diese Bescheide geändert oder die Jahressteuer auf 0 € festgesetzt werden. Davon könne im Streitfall nicht ausgegangen werden. Es sei nicht erwiesen, dass der Aufhebungsbescheid vom wirksam bekannt gegeben worden sei. Die Beweislast für den Zugang trage das FA. Folglich sei nicht „von einer wirksamen Aufhebung der festgesetzten Vorsteuerbeträge” auszugehen. Ein Rückforderungsanspruch aus § 37 Abs. 2 AO und damit ein Haftungsanspruch bestehe daher nicht.
9 Das Urteil ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 938.
10 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es führt im Wesentlichen aus, nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO könne derjenige, der für eine Steuer hafte, durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Ein Festsetzungserfordernis hinsichtlich der Steuerschuld (Primärschuld) bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht. Entscheidend sei die materiell-rechtliche Existenz des Steueranspruchs. Es sei ausreichend, dass der Primäranspruch entstanden sei und bei Erlass des Haftungsbescheids bzw. im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung noch bestehe. Dies gelte auch bei einem Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO.
11 Sei eine negative Umsatzsteuer angemeldet worden, so ergebe sich die Rückleistungspflicht des Steuerschuldners zwar erst, wenn diese Festsetzung später durch förmlichen Bescheid aufgehoben worden sei. Einer solchen Festsetzung gegenüber dem Steuerschuldner bedürfe es jedoch nach der Rechtsprechung des BFH für die Inanspruchnahme eines anderen als Haftungsschuldner nicht. Der für die Haftung maßgebliche Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO bestehe in Höhe der materiell-rechtlich unberechtigt festgesetzten negativen Umsatzsteuer.
12 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
13 Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
II.
14 Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
15 Es kann dahingestellt bleiben, ob das FA die negative Umsatzsteuer zu Unrecht an die GmbH gezahlt hat. Denn solange die den Zahlungen zugrunde liegenden Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide —wie im Streitfall— Geltung haben, ist weder ein Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO) noch ein etwaiger Haftungsanspruch (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO) durchsetzbar.
16 1. Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner) —wie der Geschäftsführer einer GmbH unter den Voraussetzungen der §§ 34, 69 AO—, kann nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Dies gilt auch für die Haftung für einen Erstattungsanspruch i.S. des § 37 Abs. 2 AO (vgl. , BFH/NV 1987, 618, unter II.1.).
17 Ist eine Steuer oder eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegen den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten oder zurückgezahlten Betrages. Für die Finanzverwaltung ergibt sich aus dieser Vorschrift ein öffentlich-rechtlicher Rückforderungsanspruch, wenn der Rechtsgrund für eine Steuererstattung von Anfang an fehlt oder später weggefallen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFHE 155, 40, BStBl II 1989, 223; vom VII R 55/86, BFH/NV 1989, 751, m.w.N.).
18 2. Das FG hat zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch des FA nach § 37 Abs. 2 AO nicht erfüllt sind. Denn die Vorsteuerbeträge sind nicht ohne rechtlichen Grund an die GmbH gezahlt worden.
19 a) Ob eine Steuer oder eine Steuervergütung i.S. des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist, richtet sich regelmäßig nach den zugrunde liegenden Steuerbescheiden. Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) sind die Steuerbescheide; die Steueranmeldungen (§ 168 AO) stehen den Steuerbescheiden gleich (§ 218 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO; vgl. z.B. , BFHE 149, 440, BStBl II 1988, 521; vom V R 117/86, BFHE 163, 112, BStBl II 1991, 281).
20 b) Im Streitfall ist danach der rechtliche Grund für die Auszahlung der Umsatzsteuer (Vorsteuerüberschüsse) an die GmbH deren Umsatzsteuer-Voranmeldungen für Februar, April, Juni bis September und Dezember 2004. Diese Steueranmeldungen (§ 150 Abs. 1 Satz 3 AO) stehen grundsätzlich jeweils einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich (§ 168 Satz 1 AO). Da die Steueranmeldungen in den einzelnen streitbefangenen Voranmeldungszeiträumen jeweils zu Steuervergütungen führten, trat diese Folge jeweils mit der Zustimmung des FA (vgl. § 168 Satz 2 AO) ein, die spätestens konkludent in der Auszahlung der Erstattungsbeträge zu sehen ist.
21 Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, die für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindend sind, hat das FA diese Steuerbescheide nicht wirksam aufgehoben. In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat sich das FG davon überzeugt, dass der Zugang der Aufhebungsbescheide vom und der entsprechenden Abrechnungen nicht nachgewiesen ist. Die angebliche Bekanntgabe der Bescheide erfolgte mit einfachem Brief. Ein Empfangsnachweis liegt nicht vor. Der Kläger hat den Zugang bestritten. Anhaltspunkte aus dem anderweitigen Schriftverkehr für den Erhalt des Schreibens sind nicht ersichtlich.
22 c) Aber auch soweit der VII. Senat des BFH im Rahmen der Beurteilung, ob i.S. des § 37 Abs. 2 AO „ohne rechtlichen Grund” gezahlt wurde, auf das materielle Steuerrecht abstellt (vgl. auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 37 AO Rz 27 ff.; Ratschow in Klein, AO, 11. Aufl., § 37 Rz 3 ff.) rechtfertigt dies im Ergebnis keine abweichende rechtliche Würdigung.
23 Danach ist der Steuererstattungsanspruch zwar bereits mit der Zahlung eines nach materiellem Recht nicht geschuldeten Betrages entstanden. Für die Durchsetzung (Verwirklichung) des materiell bereits entstandenen Erstattungsanspruchs bedarf es jedoch auch nach dieser Auffassung der vorherigen Änderung einer bestehenden, dem materiellen Steuerrecht widersprechenden Steuerfestsetzung (vgl. , BFH/NV 1994, 839; vom II R 56/94, BFHE 184, 111, BStBl II 1997, 796; vom VII R 2/02, BFHE 200, 88, BStBl II 2003, 43, unter II.2.b; vgl. ferner , BFH/NV 1991, 791; vom VII R 50/95, BFHE 179, 556, BStBl II 1997, 112).
24 Denn unabhängig von der Frage der Entstehung des Erstattungsanspruchs kommt eine Rückforderung materiell zu viel entrichteter Steuer nur dann in Betracht, wenn eine entgegenstehende Steueranmeldung, die gemäß § 218 Abs. 1 Satz 2 AO einem Steuerbescheid gleichsteht, aufgehoben oder geändert worden ist. Dies ergibt sich aus § 218 Abs. 1 AO (vgl. , BFHE 160, 108, BStBl II 1990, 523; in BFHE 184, 111, BStBl II 1997, 796). Der Steueranspruch entsteht zwar nach § 38 AO mit der Verwirklichung des Tatbestands, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft, durch den Steuerbescheid wird jedoch erst die Grundlage für die Verwirklichung des Steueranspruchs geschaffen (§ 218 Abs. 1 AO). Der —ggf. materiell unrichtige— Steuerbescheid beeinflusst zwar nicht die materielle Höhe des Steuererstattungsanspruchs, solange er jedoch besteht, legt er fest, ob und in welcher Höhe ein Erstattungsanspruch geltend gemacht werden kann (vgl. BFH-Urteile in BFHE 184, 111, BStBl II 1997, 796; in BFHE 200, 88, BStBl II 2003, 43, unter II.2.b). Dem Steuererstattungsanspruch des FA stehen daher die bestehenden —wenn auch ggf. materiell unrichtigen— Steueranmeldungen entgegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 184, 111, BStBl II 1997, 796; in BFHE 200, 88, BStBl II 2003, 43, unter II.2.b).
25 d) Aus dem vom FA angeführten (BFH/NV 2004, 1368), wonach die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht voraussetzt, dass die Steuerschuld gegen den Erstschuldner bereits festgesetzt wurde (vgl. auch § 191 Abs. 3 Satz 4 AO), ergibt sich keine abweichende Beurteilung, da dem Beschluss ein anderer Sachverhalt zugrunde lag. Dort sind wirksame Änderungsbescheide gegenüber der Rechtsnachfolgerin der GbR ergangen —und entgegen der Auffassung des FA nicht (ebenfalls) aufgehoben worden—, woran es in dem hier zu entscheidenden Streitfall gerade fehlt.
26 e) Ohne Erfolg beruft sich das FA ferner auf das (BFHE 190, 25, BStBl II 2000, 486).
27 Nach diesem Urteil kann der Haftungsschuldner auch nach Ergehen des Umsatzsteuer-Jahresbescheids gegenüber dem Steuerschuldner noch durch Haftungsbescheid für rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen in Anspruch genommen werden, wenn die Haftungsvoraussetzungen (nur) bezüglich der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen vorlagen.
28 Der BFH hat unter II.2. der Urteilsgründe zwar u.a. ausgeführt, die Festsetzung des Steueranspruchs gegenüber dem Steuerschuldner sei für die Inanspruchnahme des Haftenden ohne Bedeutung; denn die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners setze nicht voraus, dass die Steuerschuld gegen den Erstschuldner festgesetzt worden sei; ausreichend sei, dass der Primäranspruch gegen die GmbH bei Erlass des Haftungsbescheids bzw. im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über diesen noch bestehe.
29 Diese Aussagen haben aber nicht die ihnen vom FA beigelegte Bedeutung für den hier gegebenen Sachverhalt, dass gegen einen Dritten ein Haftungsbescheid wegen einer Steuerschuld einer GmbH erlassen wurde, die nach Lage der gegen die GmbH ergangenen Steuerbescheide gar nicht bestand.
30 3. Der erkennende Senat ist nach dem Geschäftsverteilungsplan (GVPL) des BFH für die Entscheidung der Sache zuständig.
31 a) Die Zuständigkeit des XI. Senats des BFH ergibt sich aus der allgemeinen Senatszuständigkeit für Fragen aus dem Rechtsgebiet der Umsatzsteuer für Steuerpflichtige mit den Anfangsbuchstaben L bis Z (Buchst. A, XI. Senat Nr. 1 GVPL).
32 In Haftungsfällen richtet sich die Zuständigkeit nach II. Nr. 7 der Ergänzenden Regelungen des GVPL nach dem Namen des Steuerschuldners, in dessen Person die Steueransprüche entstanden sind. Trägt die Firma des Steuerschuldners —wie hier— die Firma der GmbH einen Familiennamen, ist in entsprechender Anwendung des nach II. Nr. 5 Buchst. a der Ergänzenden Regelungen des GVPL der erste Buchstabe des ersten Familiennamens maßgebend, im Streitfall somit der Anfangsbuchstabe M des Familiennamens M...
33 b) Die Zuständigkeit des VII. Senats des BFH nach Buchst. A, VII. Senat Nr. 5 Buchst. b GVPL (Haftung für Umsatzsteuer, wenn diese nicht auf dem Einzelsteuergesetz beruht und Grund oder Höhe der Steuer nicht streitig ist) ist nicht gegeben. Denn der Kläger hat bestritten, dass materiell-rechtlich ein Rückforderungsanspruch des FA gegen die GmbH besteht.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2014 II Seite 607
AO-StB 2012 S. 296 Nr. 10
BB 2012 S. 2145 Nr. 35
BB 2012 S. 2356 Nr. 38
BFH/NV 2012 S. 1686 Nr. 10
BFH/PR 2012 S. 353 Nr. 10
BStBl II 2014 S. 607 Nr. 14
DB 2012 S. 2026 Nr. 36
DStR 2012 S. 8 Nr. 34
DStRE 2012 S. 1206 Nr. 19
GmbH-StB 2012 S. 296 Nr. 10
GmbHR 2012 S. 1094 Nr. 19
HFR 2012 S. 1037 Nr. 10
KÖSDI 2012 S. 18092 Nr. 10
NWB-Eilnachricht Nr. 35/2012 S. 2830
StB 2012 S. 339 Nr. 10
StBW 2012 S. 819 Nr. 18
StuB-Bilanzreport Nr. 24/2012 S. 967
UR 2012 S. 776 Nr. 19
UStB 2012 S. 278 Nr. 10
Ubg 2012 S. 770 Nr. 11
AAAAE-15742