BAG Beschluss v. - 1 ABR 38/10

Zuständigkeit der erweiterten Paritätischen Kommission bei Reklamationen - ERA-TV Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg

Gesetze: § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 17 BV 50/09 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 3 TaBV 3/09 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Durchführung des Reklamationsverfahrens nach dem Entgeltrahmen-Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (ERA-TV).

2Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen der Automobilindustrie. Sie ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. Antragsteller ist der Betriebsrat ihres Werks in S.

Am schlossen der Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. und die Industriegewerkschaft Metall den räumlich für das Land Baden-Württemberg geltenden ERA-TV sowie den Einführungstarifvertrag zum ERA-TV (ETV-ERA). Im ERA-TV ist bestimmt:

Im ETV-ERA ist bestimmt:

5Bei der Arbeitgeberin fand die Einführung des ERA-TV zum statt. Danach beanstandeten mehrere Arbeitnehmer und der Betriebsrat Entgeltgruppenzuordnungen mit der Begründung, die tatsächlich ausgeführte Arbeitsaufgabe stimme nicht mit der bewerteten Arbeitsaufgabe überein. Die Reklamationen wurden in Paritätischen Kommissionen beraten, wobei die Arbeitgeberin allerdings die Auffassung vertrat, diese seien hierfür nicht zuständig, die Beratungen erfolgten vielmehr allein auf freiwilliger Basis. In den Fällen, in denen keine Einigung erzielt wurde, ordnete die Arbeitgeberin den Beschäftigten einseitig die jeweilige Entgeltgruppe zu. Der Betriebsrat forderte die Arbeitgeberin daraufhin auf, einen Vertreter der Tarifvertragspartei zu benennen, um die Beschwerden in der erweiterten Paritätischen Kommission zu verhandeln. Dies lehnte die Arbeitgeberin ab.

6Der Betriebsrat hat geltend gemacht, die Arbeitgeberin habe nach § 10.4 iVm. § 7.3.3 ERA-TV einen sachkundigen stimmberechtigten Vertreter der Tarifvertragspartei zu benennen und die von ihr benannten Mitglieder in die erweiterte Paritätische Kommission zu entsenden. Sie habe außerdem ihre Vertreter anzuweisen, an Beratungen und Entscheidungen der erweiterten Paritätischen Kommission über die Reklamationen mitzuwirken. Diese sei für die Bearbeitung der Reklamationen in den Fällen zuständig, in denen eine einseitige arbeitgeberseitige Zuordnung erfolgt sei und in der Paritätischen Kommission keine Einigung über die Reklamation zustande gekommen sei.

Der Betriebsrat hat beantragt:

Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Für den Fall des Unterliegens hat sie hilfsweise beantragt

9Die Arbeitgeberin hat geltend gemacht, die erweiterte Paritätische Kommission sei für Reklamationen, die - wie hier - Tatsachenfragen betreffen, nicht zuständig. Mit dem Hilfswiderantrag verlange sie die Feststellung, dass keine Befugnis der erweiterten Paritätischen Kommission oder der Schiedsstelle bestehe, die Übereinstimmung der tatsächlich ausgeführten Arbeitsaufgabe mit der bewerteten Arbeitsaufgabe zu überprüfen.

10Das Arbeitsgericht hat den Hauptanträgen des Betriebsrats stattgegeben und den Hilfswiderantrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt sie ihren Abweisungsantrag sowie den hilfsweise gestellten Feststellungsantrag weiter.

11B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin hat teilweise Erfolg. Der Antrag zu 2. ist unbegründet, der Antrag zu 3. ist unzulässig. Soweit die Arbeitgeberin die Abweisung des Antrags zu 1. begehrt und ihren hilfsweise gestellten Widerantrag weiterverfolgt, ist die Rechtsbeschwerde unbegründet.

12I. Das Landesarbeitsgericht hat über die Anträge zutreffend im Beschlussverfahren entschieden. Es handelt sich um eine Angelegenheit aus dem Betriebsverfassungsgesetz iSd. § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, denn der Betriebsrat beruft sich auf Rechtspositionen, die er durch den ERA-TV begründet sieht. Dieser ergänzt in den §§ 7 ff. die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte aus §§ 99 ff. BetrVG bei Ein- und Umgruppierungen, ohne diese jedoch auszuschließen ( - Rn. 11).

13II. Der Betriebsrat ist antragsbefugt. Er macht mit seinen Anträgen geltend, ihm seien durch den ERA-TV eigene Rechte eingeräumt worden. Ob diese tatsächlich bestehen, ist eine Frage der Begründetheit der Anträge.

14III. In dem Verfahren war die Paritätische Kommission nicht nach § 83 Abs. 3 ArbGG zu hören. Diese ist nicht beteiligtenfähig iSd. § 10 Satz 1 Halbs. 2 ArbGG, weil sie nicht selbst Träger eigener betriebsverfassungsrechtlicher Rechte ist ( - Rn. 13).

15IV. Der Antrag zu 1. ist zulässig und begründet.

161. Der Antrag erfüllt die Anforderungen des auch im Beschlussverfahren anwendbaren § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Auslegung des Antrags ergibt, dass sich dieser - wie die Beteiligten in der Anhörung vor dem Senat klargestellt haben - auf die in der Antragsschrift des Betriebsrats genannten Reklamationsfälle bezieht. Diese sind hinreichend konkret bezeichnet und den Beteiligten bekannt. Soweit im Antrag zu 1. die Entsendung eines „sachkundigen stimmberechtigten“ Vertreters verlangt wird, handelt es sich um einen Tarifbegriff, dem in Bezug auf die Sachkunde im Vollstreckungsverfahren keine eigenständige Bedeutung zukommt. Diese ist nicht gesondert nachzuweisen. Durch die Bezugnahme auf § 7.3.3 ERA-TV ist klargestellt, dass der Vertreter auch stimmberechtigt sein muss.

172. Der Antrag zu 1. ist begründet. Der Betriebsrat hat gegen die Arbeitgeberin einen Anspruch auf tarifgemäße Durchführung des Reklamationsverfahrens nach § 10 ERA-TV. Dazu gehört das Verfahren in der erweiterten Paritätischen Kommission, wenn eine Einigung über die Reklamation in der Paritätischen Kommission nicht möglich ist. Die Arbeitgeberin hat deshalb gemäß § 10.4 iVm. § 7.3.3 ERA-TV einen Vertreter der Tarifvertragspartei zu benennen und die von ihr benannten Mitglieder in die zu bildende erweiterte Paritätische Kommission zu entsenden.

18a) Nach § 10.1 ERA-TV können der Beschäftigte oder der Betriebsrat die mitgeteilte Entgeltgruppe schriftlich beim Arbeitgeber reklamieren. Nach der Reklamation ist die Entgeltgruppe und ggf. die Einstufung der Arbeitsaufgabe gemäß § 10.2 ERA-TV durch den Arbeitgeber zu überprüfen. Das Ergebnis der Überprüfung ist dem Beschäftigten und dem Betriebsrat unverzüglich schriftlich mitzuteilen. Wird über das Ergebnis der Überprüfung kein Einverständnis erzielt, erfolgt nach § 10.3 ERA-TV eine weitere Überprüfung der Einstufung in der Paritätischen Kommission. § 10.3 ERA-TV verweist auf § 7.1 ERA-TV, wonach die zu bildende Paritätische Kommission aus je drei Vertretern des Arbeitgebers einerseits sowie der Beschäftigten andererseits besteht (§ 7.1.1 ERA-TV). Kommt es in der Paritätischen Kommission zu keiner Einigung, wird auf Antrag einer Seite eine erweiterte Paritätische Kommission durch Hinzuziehung je eines sachkundigen stimmberechtigten Vertreters der Tarifvertragsparteien gebildet (§ 10.4 iVm. § 7.3.3 ERA-TV). Entsteht immer noch keine mehrheitliche Meinung, tritt gemäß § 10.4 iVm. § 7.3.4 ERA-TV auf Antrag einer Seite eine Schiedsstelle zusammen, die sich aus den Mitgliedern der erweiterten Paritätischen Kommission und einem Vorsitzenden zusammensetzt. Der Vorsitz wird durch Los aus einem durch die Tarifvertragsparteien festgelegten Personenkreis ermittelt. Der Betriebsrat ist (neben dem Arbeitgeber) gemäß § 10.4 iVm. § 7.3.7 Abs. 2 ERA-TV berechtigt, die Entscheidung der Paritätischen Kommission, der erweiterten Paritätischen Kommission oder der Schiedsstelle gerichtlich auf Verfahrensfehler und eine grobe Verkennung der Grundsätze in §§ 4 bis 6 ERA-TV überprüfen zu lassen.

19b) Der Betriebsrat hat gegen die Arbeitgeberin einen Anspruch auf Durchführung dieses Reklamationsverfahrens. Das folgt aus der Tarifsystematik und dem Zweck des Reklamationsverfahrens. Dieses kann durch den Betriebsrat eingeleitet (§ 10.1 ERA-TV) und bei fehlender Einigung weiterbetrieben werden (§ 10.4 iVm. § 7.3.3 ff. ERA-TV). Ihm steht am Ende auch das Recht zu, das Ergebnis des Verfahrens gerichtlich überprüfen zu lassen (§ 10.4 iVm. § 7.3.7 ERA-TV). Diese Systematik und die mit dem Verfahren in der Paritätischen Kommission bezweckte betriebsnahe einfache Konfliktlösung sprechen dafür, dass der Betriebsrat vom Arbeitgeber zur effektiven Durchführung des tariflichen Regelungsauftrags die Benennung und Entsendung von Vertretern in die erweiterte Paritätische Kommission verlangen kann. Insoweit gilt nichts anderes als für die Benennung und Entsendung von Vertretern in die Paritätische Kommission (dazu  - Rn. 22). Andernfalls könnte der Arbeitgeber die tarifvertraglich vorgesehene Lösung von Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung von Reklamationen verhindern. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist vor Durchführung des Reklamationsverfahrens nicht durch den Arbeitgeber vorab zu prüfen, ob die erhobene Reklamation des Betriebsrats zulässig und begründet ist. Hierüber ist gerade in der Paritätischen Kommission und nachfolgend ggf. in der erweiterten Paritätischen Kommission zu entscheiden. Dem Arbeitgeber steht insoweit kein „Vorprüfungsrecht“ zu ( - Rn. 18). Selbst wenn eine Reklamation unbegründet sein sollte, weil entgegen § 3.2.3 ETV-ERA innerhalb der ersten drei Jahre nach ERA-Einführung die Einstufung der Arbeitsaufgabe reklamiert wird, berechtigt dieser Umstand den Arbeitgeber nicht, die Entsendung und Benennung von Vertretern zu verweigern. Es ist nicht Sache des Arbeitgebers, sondern - nach erfolgter Anrufung durch eine der Betriebsparteien - der erweiterten Paritätischen Kommission, über die Begründetheit einer Reklamation zu entscheiden.

20c) Soweit die Arbeitgeberin in diesem Zusammenhang geltend macht, das Landesarbeitsgericht habe unzutreffend angenommen, bei ihr seien ständige erweiterte Paritätische Kommissionen zu bilden, und habe die Rechtsfrage, ob die jeweiligen Vertreter der Tarifvertragsparteien bereits im Vorfeld und nicht fallbezogen zu benennen seien, in der mündlichen Verhandlung nicht angesprochen, hat sie damit keine den Anforderungen des § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO entsprechende zulässige Verfahrensrüge erhoben. Die Arbeitgeberin hat nicht dargelegt, dass der Beschluss auf dem behaupteten Verfahrensfehler beruht. Es ist nicht erkennbar, weshalb das Landesarbeitsgericht den Antrag zu 1. abgewiesen hätte, wenn es nicht von einer „ständigen“ erweiterten, sondern von einer im Einzelfall zu bildenden erweiterten Paritätischen Kommission ausgegangen wäre. Vorliegend geht es nicht um die Entsendung und Benennung von Vertretern im Vorfeld möglicher Reklamationen, sondern um bereits anhängige Reklamationsverfahren.

21V. Der Antrag zu 2. ist zulässig, aber unbegründet.

221. Der Antrag des Betriebsrats, der Arbeitgeberin aufzugeben, die von ihr benannten Mitglieder der Paritätischen Kommission anzuweisen, an Beratungen und Entscheidungen der erweiterten Paritätischen Kommission über diejenigen Reklamationen mitzuwirken, bei denen nach Beratung der Paritätischen Kommission eine arbeitgeberseitige Zuordnung erfolgte oder über die sonst keine Einigung in der örtlichen Paritätischen Kommission zustande kam, bedarf der Auslegung. Er ist nach der Antragsbegründung darauf gerichtet, die Arbeitgeberin zu verpflichten, ihre Vertreter in der erweiterten Paritätischen Kommission anzuhalten, an deren Beratungen teilzunehmen und bei der Entscheidung ihr Stimmrecht auszuüben. So verstanden ist der Antrag hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

232. Der Antrag zu 2. ist jedoch unbegründet. Der Betriebsrat hat nach dem ERA-TV keinen Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten der in die erweiterte Paritätische Kommission entsandten Vertreter. Hierfür gibt es keine Rechtsgrundlage. Dem Wortlaut und Gesamtzusammenhang des Tarifvertrags kann nur entnommen werden, dass der Betriebsrat vom Arbeitgeber die Entsendung von Vertretern in die erweiterte Paritätische Kommission verlangen kann. Mehr ist nach dem Regelungszweck des Verfahrens in der erweiterten Paritätischen Kommission auch nicht erforderlich. Insoweit gilt für die erweiterte Paritätische Kommission nichts anderes als für die Paritätische Kommission, für die der Senat bereits das Bestehen eines derartigen Anspruchs verneint hat ( - Rn. 23). Weigern sich die Vertreter einer Seite in der erweiterten Paritätischen Kommission, an den Beratungen teilzunehmen und bei der Entscheidung ihr Stimmrecht auszuüben, sind entsprechend den zu § 76 Abs. 5 Satz 2 BetrVG entwickelten Grundsätzen nur die tatsächlich abgegeben Stimmen zu zählen. Hierdurch wird eine Blockade des Reklamationsverfahrens durch eine der Betriebsparteien verhindert, weil die erschienenen und abstimmungswilligen Mitglieder der erweiterten Paritätischen Kommission eine Sachentscheidung herbeiführen können.

24VI. Der Hilfsantrag des Betriebsrats ist unzulässig. Er ist nicht auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet.

251. Nach dieser auch im Beschlussverfahren anwendbaren Vorschrift kann die gerichtliche Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses beantragt werden, wenn der Antragsteller ein rechtliches Interesse an der entsprechenden richterlichen Entscheidung hat. Ein Rechtsverhältnis ist jede durch die Herrschaft einer Rechtsnorm über einen konkreten Sachverhalt entstandene rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Der Antrag nach § 256 Abs. 1 ZPO muss sich dabei nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis als Ganzes erstrecken. Er kann sich auch auf daraus folgende einzelne Beziehungen, Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Rechtspflicht beschränken. Bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses können jedoch ebenso wie abstrakte Rechtsfragen nicht Gegenstand eines Feststellungsantrags sein. Das liefe auf die Erstellung eines Rechtsgutachtens hinaus, was den Gerichten verwehrt ist ( - Rn. 12, EzA ZPO 2002 § 256 Nr. 10).

262. Nach diesen Grundsätzen ist der Antrag zu 3. nicht auf die Feststellung einer rechtlichen Beziehung einer Person (des Betriebsrats) zu einer anderen Person (der Arbeitgeberin) gerichtet. Dem Betriebsrat geht es mit dem Hilfsantrag vielmehr um die Feststellung des Umfangs der Prüfungskompetenz der erweiterten Paritätischen Kommission und dabei insbesondere um die Frage, ob diese für die Bearbeitung der Reklamationen in den Fällen zuständig ist, in denen eine „arbeitgeberseitige Zuordnung“ erfolgte oder sonst keine Einigung in der örtlichen Paritätischen Kommission erzielt wurde. Das betrifft indes kein Rechtsverhältnis, sondern zielt auf die Erstattung eines Rechtsgutachtens zum Umfang der Prüfungskompetenz der erweiterten Paritätischen Kommission.

VII. Der Hilfsantrag der Arbeitgeberin ist unzulässig. Er ist ebenso wie der Hilfsantrag des Betriebsrats auf die Erstattung eines Rechtsgutachtens zum Umfang der Prüfungskompetenz der erweiterten Paritätischen Kommission gerichtet.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

Fundstelle(n):
DB 2012 S. 1392 Nr. 24
PAAAE-04523