Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bei Verletzung der Ermittlungspflicht durch die Finanzbehörde
Leitsatz
Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dann entgegen, wenn dem Finanzamt Tatsachen aufgrund einer Verletzung seiner Ermittlungspflichten unbekannt geblieben sind, der Steuerpflichtige seinerseits aber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarerer Weise erfüllt hat.
Gesetze: AO § 173 Abs. 1 Nr. 1, FGO § 118 Abs. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Im Streitjahr 1999 erzielte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) als Arbeitnehmerin der X-GmbH, einer Tochtergesellschaft der Y-AG (AG), Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
2 Am machte sie von ihrem Wandlungsrecht aus einem am mit der AG abgeschlossenen Darlehensvertrag Gebrauch. Die Klägerin als Darlehensgeberin hatte der AG als Darlehensnehmerin ein mit 2 % verzinsliches Darlehen in Höhe von 5.000 DM gewährt. Das Darlehen war mit einem Wandlungsrecht dahingehend ausgestattet, dass die Darlehensgeberin berechtigt war, erstmalig am für maximal 50 % der Darlehenssumme Beträge von je 5 DM in Aktien der AG im Nennwert von je 5 DM zu wandeln.
3 Die am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) eingegangene Einkommensteuererklärung für 1997 enthielt zunächst keine Hinweise auf diesen Vorgang. Mit Schreiben vom zeigte die Klägerin an, dass die abgegebene Steuererklärung unvollständig gewesen sei. Als Arbeitnehmerin einer Tochtergesellschaft der AG habe sie am von der Möglichkeit der Zeichnung eines Wandeldarlehens Gebrauch gemacht. Der Vorstand der AG habe ihr mitgeteilt, dass sie mit der Zeichnung des Darlehens einen steuerpflichtigen Arbeitslohn in Höhe von 6.736,50 DM erzielt habe. Basis hierfür sei eine Berechnung der Z-Bank. Dem Schreiben waren der Darlehensvertrag, ein Schreiben der AG betreffend die steuerliche Behandlung des Wandeldarlehens sowie die Berechnung der Z-Bank beigefügt.
4 Mit Bescheid vom änderte das FA die Einkommensteuerveranlagung der Klägerin für 1997 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und erfasste den nacherklärten Betrag zusätzlich bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit.
5 Im Mantelbogen der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1999 war hinsichtlich der Anlage KSO angekreuzt, dass die Einnahmen nicht mehr als 6.100 DM betragen hätten. Zusätzlich war eine „Erläuterung zu Zeile 31, Mantelbogen” beigefügt. Darin war ausgeführt, dass „aus den 1999 aus Wandeldarlehen bezogenen Y-Aktien noch keine Dividenden zugeflossen seien (vgl. Schreiben vom zu Einkommensteuer 1997)”. Beigefügt war auch eine „Zinsbestätigung 1999” über einen im Jahre 1999 ausbezahlten Zinsbetrag in Höhe von 83,05 DM für das „der Y zur Verfügung gestellte Darlehen, (Vertrag vom )”. Zusätzlich war in dem Schreiben ausgeführt, der Rückgang der Darlehenssumme resultiere aus der vorgenommenen Wandlung.
6 Der Einkommensteuerbescheid für 1999 vom erging im Wesentlichen erklärungsgemäß.
7 Mit Schreiben vom übersandte das Finanzamt A dem FA eine Auswertung von Anzeigen des Arbeitgebers gemäß §§ 38 Abs. 4, 41c Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes. Aus den Angaben in einer dem Schreiben beigefügten tabellarischen Aufstellung mit Stand ergab sich, dass die Klägerin am einen Teilbetrag ihres Wandeldarlehens in Höhe von 2.500 DM in 25 000 Aktien gewandelt hatte. Die Kursspanne war mit 45,03 bis 47,20 € angegeben. Als Anschaffungskosten waren 18.702,35 DM vermerkt. Unter Berücksichtigung des niedrigsten Kurswerts errechnete das FA hieraus einen geldwerten Vorteil in Höhe von 2.183.048 DM. Mit Bescheid vom änderte es die Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und erhöhte die Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit entsprechend.
8 Nach erfolglosem Einspruchsverfahren wandte sich die Klägerin mit der Klage gegen den Ansatz eines geldwerten Vorteils aufgrund der Wandlung. Sie vertrat die Auffassung, die Voraussetzung für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO lägen nicht vor. Die Klage hatte Erfolg. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 1995 veröffentlicht.
9 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
10 Das FA beantragt,
das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
11 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
12 II. 1. Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des FG, das FA sei im Streitfall nicht berechtigt gewesen, die Steuerfestsetzung für das Streitjahr 1999 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, hält einer revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.
13 2. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
14 a) Da § 173 AO nach seinem rechtlichen Gehalt keine Fehlerberichtigungsvorschrift ist, rechtfertigt nur das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln eine Änderung nach dieser Vorschrift, nicht hingegen ein nachträglich erkannter Rechtsfehler (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs —BFH— vom GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen, nicht hingegen rechtliche Erwägungen, müssen für eine auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützte Korrektur maßgeblich sein (, BFH/NV 1997, 853). Allerdings steht der Grundsatz von Treu und Glauben einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dann entgegen, wenn dem FA Tatsachen aufgrund einer Verletzung seiner Ermittlungspflichten unbekannt geblieben sind, der Steuerpflichtige seinerseits aber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt hat. Im Falle einer beiderseitigen Pflichtverletzung ist nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung vorzunehmen (z.B. , BFH/NV 2004, 1502, und vom II R 4/08, BFH/NV 2009, 1599, m.w.N.).
15 b) Im Streitfall kann offenbleiben, ob bereits die Rechtserheblichkeit nachträglich bekanntgewordener Umstände zu verneinen ist. Denn das FG ist auf der Grundlage seiner Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, das FA habe seine Ermittlungspflichten verletzt, weil es aufgrund der vorliegenden Unterlagen sich aufdrängende Ermittlungen nicht vorgenommen habe, während die Klägerin —ausgehend von der von ihr vertretenen Rechtsauffassung hinsichtlich des Zeitpunkts der Versteuerung eines geldwerten Vorteils— ihrer Mitwirkungspflicht in zumutbarer Weise nachgekommen sei. Hieran sieht sich der Senat revisionsrechtlich gebunden. Denn diese in erster Linie der Tatsacheninstanz obliegende Tatsachenwürdigung ist verfahrensrechtlich ordnungsgemäß durchgeführt worden und verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze (vgl. § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—; vgl. , BFH/NV 1998, 423).
16 3. Die vom FA erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
17 Der Vortrag des FA, das FG habe seine Pflicht zur Sachverhaltsermittlung (§ 76 FGO) verletzt, weil es den zuständigen Veranlagungsbeamten nicht vernommen habe, kann bereits deshalb nicht zum Erfolg der Revision führen, weil das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung ist (, BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951, m.w.N.).
18 Soweit das FA mit seinem Vorbringen, das FG habe sein Urteil auf bisher nicht erörterte Gesichtspunkte gestützt, die Verletzung rechtlichen Gehörs in Form einer sog. Überraschungsentscheidung geltend macht, liegt der behauptete Verstoß gegen Art. 103 des Grundgesetzes i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO nicht vor.
19 Ein Urteil darf zwar nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ein bisher nicht erörterter Umstand, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, darf daher nicht zur Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung gemacht werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Gericht die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend erörtern und den Beteiligten seine Rechtsauffassung im Einzelnen mitteilen müsste. Entsprechend muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ggf. prozessuale Anträge stellen. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt erst dann vor, wenn das Gericht auf Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte, so dass dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt (, BFHE 220, 332, BStBl II 2009, 842). Die in der Öffentlichkeit bekannten Umstände, insbesondere auch die Kursentwicklung der Y-Aktie, hängen so eng mit dem verwirklichten Besteuerungssachverhalt zusammen, dass ein kundiger Verfahrensbeteiligter damit rechnen musste, sie könnten in der Würdigung des FG —hier im Bereich der Anforderungen an die Ermittlungspflichten des FA— eine Rolle spielen. Eine Verletzung des Anspruchs des FA auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt danach nicht vor.
20 Im Übrigen sieht der Senat gemäß § 126 Abs. 6 FGO von einer weiteren Begründung ab.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2012 S. 692 Nr. 5
DStRE 2012 S. 707 Nr. 11
StBW 2012 S. 247 Nr. 6
NAAAE-03556