BVerwG Beschluss v. - 9 B 56/11

Ermittlung des Klagebegehrens; anwaltlich vertretener Kläger

Leitsatz

Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist gemäß § 88 VwGO nicht die Fassung des Klageantrages, sondern das wirkliche Rechtsschutzziel, wie es sich aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, erschließt (im Anschluss an stRspr). Unbeschadet der gesteigerten Bedeutung, die der Fassung des Klageantrages eines anwaltlich vertretenen Klägers zukommt, hat das Gericht auch im Anwaltsprozess dem wirklichen Klageziel Rechnung zu tragen, sofern dieses eindeutig von der Antragsfassung abweicht.

Gesetze: § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 88 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 14 A 1594/09 Urteilvorgehend VG Gelsenkirchen Az: 2 K 3884/07 Urteil

Gründe

1Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Zwar rechtfertigt das Beschwerdevorbringen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (1.). Jedoch hat die Verfahrensrüge mit dem Ergebnis Erfolg (2.), dass der Rechtsstreit in dem im Tenor bezeichneten Umfang zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

21. Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greift nicht durch. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtsfrage dann, wenn für die Entscheidung des vorinstanzlichen Gerichts eine konkrete fallübergreifende Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) von Bedeutung war, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; vgl. Beschlüsse vom - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>, vom - BVerwG 11 B 96.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 10 S. 15, vom - BVerwG 1 B 11.05 - NVwZ 2005, 709 und vom - BVerwG 9 B 9.06 - NVwZ 2006, 1290). Daran fehlt es.

3a) Soweit die Beschwerde die Frage aufwirft,

"Ist es mit dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem aus Art. 3 GG folgenden Willkürverbot vereinbar, wenn § 3 Abs. 3 KAG NRW dahingehend ausgelegt wird, dass es als zwingende Voraussetzung für die Prognoseentscheidung der Gemeinde bezüglich zu erhebender Vorauszahlungen keiner Steuerfestsetzung aus dem Vorjahr bedarf?",

wendet sie sich gegen die Auslegung von Landesrecht (§ 3 Abs. 3 KAG NRW), die vom Revisionsgericht nicht nachgeprüft wird und eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung deswegen nicht begründen kann. Abweichendes folgt nicht daraus, dass die Frage die Vereinbarkeit der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung mit Bestimmungen des Bundesverfassungsrechts thematisiert. Revisibilität könnte sie nur erlangen, wenn die angeführten bundesrechtlichen Maßstabsnormen, an denen die Auslegung und Anwendung der landesrechtlichen Vorschrift zu messen sind, ihrerseits ungeklärte Fragen von fallübergreifender Bedeutung aufwerfen würden (stRspr; vgl. etwa BVerwG 6 B 11.96 - Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 7). Das ist nicht ansatzweise dargetan.

4b) Zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führt ebenfalls nicht die Frage,

"Wie ist § 139 BGB analog in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem aus Art. 3 GG folgenden Willkürverbot auszulegen, wenn eine Gemeinde in einer Satzung bewusst ein zweigleisiges Festsetzungssystem dergestalt geschaffen hat, dass dem Steuerschuldner zwei Festsetzungs- und Zahlungsmodalitäten eröffnet werden."

5Bei sachgerechter Auslegung dieser Frage will die Beschwerde die Voraussetzungen einer Teil- oder Gesamtnichtigkeit von Satzungen mit den genannten Regelungen geklärt wissen. Dazu bedarf es jedoch keiner revisionsgerichtlichen Entscheidung. Die abstrakt-generellen, von der entsprechenden Anwendung des § 139 BGB ausgehenden Fragen der Gesamt- oder bloßen Teilnichtigkeit von Satzungen sind höchstrichterlich bereits geklärt. Danach steht fest, dass die Entscheidung, ob ein Rechtsmangel zur Gesamtnichtigkeit der Satzung oder nur zur Nichtigkeit einzelner Vorschriften führt, davon abhängt, ob - erstens - die Beschränkung der Nichtigkeit eine mit höherrangigem Recht vereinbare sinnvolle (Rest-)Regelung des Lebenssachverhalts belässt und ob - zweitens - hinreichend sicher ein entsprechender hypothetischer Wille des Normgebers angenommen werden kann (vgl. u.a. Beschlüsse vom - BVerwG 4 NB 3.91 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 59 S. 81 ff. und vom - BVerwG 9 B 40.08 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 56 Rn. 13). Von diesen Grundsätzen ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Im Übrigen hängt die Beantwortung der Frage maßgeblich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, die einer verallgemeinerungsfähigen Beantwortung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich sind.

62. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) macht die Klägerin geltend, das Oberverwaltungsgericht habe ihr Klagebegehren unter Verstoß gegen § 88 VwGO unzutreffend ausgelegt und deshalb über einen Teil der Klage entgegen dem Klageantrag nicht in der Sache entschieden. Es habe zu Unrecht angenommen, das Verwaltungsgericht sei - seinerseits unter Verstoß gegen § 88 VwGO - mit der Aufhebung der Vorauszahlungsfestsetzungen für 2009 und die Folgejahre über das Klagebegehren hinausgegangen. Demgegenüber ergebe sich aus der Klagebegründung vom , wie auch aus der Interessenlage der Klägerin, dass das Verwaltungsgericht das Klageziel zutreffend erkannt habe. Diese Rüge greift durch.

7Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln ( BVerwG 8 C 72.90 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19 S. 4 f.; Beschlüsse vom - BVerwG 2 B 56.97 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 25 und vom - BVerwG 6 B 30.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 38 Rn. 3). Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (stRspr; Urteil vom a.a.O.; BVerwG 9 B 20.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 2). Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück ( BVerwG 8 C 70.88 - Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5; BVerwG 6 B 12.10 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 55 Rn. 4). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. BVerwG 1 C 62.81 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 11 S. 5 f.; Beschlüsse vom a.a.O. und vom a.a.O.).

8Ist aber der Kläger bei der Fassung des Klageantrages anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht.

9Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Oberverwaltungsgericht das Klagebegehren nicht zutreffend ausgelegt. Es ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass nach dem Klageantrag die Aufhebung des Bescheides vom nur hinsichtlich der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr 2007 und der Festsetzung von Vorauszahlungen für das Kalenderjahr 2008, nicht aber für das Kalenderjahr 2009 beantragt war. Dagegen hat es die Klagebegründung unberücksichtigt gelassen, die im Zusammenhang mit der Interessenlage der Klägerin deutlich erkennen lässt, dass Klageziel die Aufhebung der Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt war. In der Klagebegründung hat die Klägerin ihr Aufhebungsbegehren auf die Rechtsauffassung gestützt, die Vergnügungssteuersatzung der Beklagten sei nichtig. Diese Satzung bildete die Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Vorausleistungen nicht nur für das Jahr 2008, sondern in gleicher Weise für die Folgejahre. Indem die Klagebegründung daraus den Schluss gezogen hat, "die angefochtene Festsetzung von Vorausleistungen (sei) ebenfalls unwirksam", hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Festsetzung uneingeschränkt angegriffen werden sollte. Gestützt wird dieses Auslegungsergebnis durch die Interessenlage. Die Klägerin wurde durch die Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt belastet. Ein sachlicher Grund, warum sie gegen diese Belastung nur teilweise hätte vorgehen sollen, ist nicht erkennbar.

10Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel. Denn das Oberverwaltungsgericht hat den Teil des erstinstanzlichen Urteils, der die Festsetzung der Vergnügungssteuervorauszahlung für das Jahr 2009 betrifft, wegen Verstoßes gegen § 88 VwGO aufgehoben, aber nicht in der Sache entschieden.

11Da weitere Zulassungsgründe nicht eingreifen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil im Umfang des Verfahrensfehlers aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

123. Die Kostenentscheidung folgt, soweit über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden war, aus § 154 Abs. 2 VwGO. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde entsteht eine Gerichtsgebühr nur, soweit die Beschwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Die sonstigen Kosten des Beschwerdeverfahrens, namentlich die außergerichtlichen Kosten, waren verhältnismäßig zu teilen, und zwar in der Weise, dass die Klägerin die Kosten im Maße ihres Unterliegens trägt und die Entscheidung über diejenigen Kosten, die dem Anteil der erfolgreichen Beschwerde am gesamten Beschwerdeverfahren entsprechen, der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgt.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
HFR 2012 S. 1115 Nr. 10
NJW 2012 S. 8 Nr. 10
CAAAE-02313