Verlesung eines ärztlichen Attests im Strafverfahren: Schlussfolgerung aus der attestierten Körperverletzung auf ein anderes Delikt
Leitsatz
Die Vernehmung eines Arztes kann auch dann durch die Verlesung eines ärztlichen Attests ersetzt werden, wenn die ärztliche Sicht zu Schlüssen aus der attestierten Körperverletzung auf ein anderes Delikt nichts beitragen kann. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn die Körperverletzung bei einer nachfolgenden Sexualstraftat allein als Drohung fortgewirkt haben kann .
Gesetze: § 250 StPO, § 256 Abs 1 Nr 2 StPO
Instanzenzug: LG Schweinfurt Az: 1 KLs 8 Js 13032/09 Urteil
Gründe
I.
1Die Strafkammer hat festgestellt:
2Der Angeklagte fragte am gegen 3.45 Uhr eine ihm unbekannte junge Frau, die aus einer Diskothek kam, vergeblich nach ihrem Namen. Er folgte ihr zu einem nahen Parkplatz, wo ihr Fahrrad stand und bot ihr seine Begleitung an. Als sie nicht reagierte, packte er sie an den Oberarmen. Als sie sich dies verbat, stieß er sie in ein Dornengebüsch. Im weiteren Verlauf entriss er ihr das Handy, mit dem sie um Hilfe rufen wollte. Nach einem „Gerangel“ packte er sie und zerrte sie zu einem etwa 20 m entfernten, schlecht beleuchteten Teil des Parkplatzes, wo er sie auf den Mund küsste und versuchte, ihr Zungenküsse zu geben. Aus Angst vor weiterer Misshandlung manipulierte sie mehrere Minuten an seinem entblößten Geschlechtsteil, bis sie schließlich fliehen konnte.
II.
3Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
4Seine auf eine Verfahrensrüge und die nicht näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
51. Der Verfahrensrüge liegt Folgendes zu Grunde:
6a) Die Geschädigte hatte sich durch den Stoß in das Dornengebüsch unter anderem Einstichverletzungen an den Händen und Armen zugezogen; abgebrochene Dornenstücke blieben in den Händen und im Unterarm stecken und konnten erst nach einigen Tagen entfernt werden. Die Strafkammer stellt fest, dass die Behauptungen der Geschädigten über ihre Verletzungen mit den sonstigen Feststellungen übereinstimmten („sie passen“) und dass konkret die Verletzungen durch die Dornen von einem in der Hauptverhandlung verlesenen ärztlichen Attest über die Verletzungen der Geschädigten „bestätigt“ würden.
7b) Die Revision meint, der Arzt hätte als Zeuge gehört werden müssen; die Voraussetzungen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO hätten nicht vorgelegen, weil der Inhalt des Attests auch hinsichtlich der Feststellungen zu dem tateinheitlich mit der Körperverletzung verwirklichten Sexualdelikt Bedeutung gehabt hätte.
82. Die Rüge greift nicht durch.
9a) § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO erlaubt aus letztlich pragmatischen Gründen (vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 256 Rn. 1 und 3 mwN), ärztliche Atteste zu, wie hier, nicht schweren Körperverletzungen (i.S.d. § 226 StGB) zu verlesen, nicht aber zu Erkenntnissen, die der Arzt nur bei Gelegenheit der Feststellung einer Verletzung gewonnen hat, z.B. über Angaben zur Ursache der Verletzungen, wenn diese ebenfalls in dem Attest dokumentiert sind (, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Dallinger, MDR 1955, 397; , StV 1984, 142, 143; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 19 mwN).
10Dieser Gesichtspunkt ist hier nicht einschlägig. Der Arzt hat hinsichtlich der Dornen nicht etwa eine für ihn ohne Angaben der Geschädigten nicht erkennbare Ursache der Verletzung in seinem Attest festgehalten, sondern er hat attestiert, dass die Geschädigte auch - für ihn sichtbar - dadurch verletzt war, dass sich in ihrem Körper noch abgebrochene Dornenstücke befanden.
11b) Im Übrigen hat der Bundesgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass - über den Wortlaut von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO hinaus (, BGHSt 33, 389, 391) - eine Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO) durch Verlesung eines Attestes nicht zulässig ist, wenn sich die Bedeutung der aus dem Attest ersichtlichen Verletzungen nicht in der Feststellung ihres Vorliegens erschöpft (st. Rspr.; vgl. , BGHR, StPO, § 256 Abs. 1 Körperverletzung 2).
12aa) Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl (, StV 1996, 649), oder, in der forensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten (vgl. nur , NJW 1980, 651; , bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 <Nr. 17>; , NStZ 2008, 474). Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für das andere Delikt vor.
13bb) Tateinheit zwischen der Körperverletzung und dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zwingend aus, wie der Bundesgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzulässigkeit einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugrunde liegenden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend klargestellt hat (, BGHSt 33, 389, 392). Erforderlich ist vielmehr ein „überzeugender Grund“ (BGHSt, aaO, 393) für die Annahme, nach Sinn und Zweck des Gesetzes (BGHSt, aaO, 391, 393) reiche eine Verlesung des Attests nicht aus.
14Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn es um die Vernehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verletzungen hinsichtlich des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Vernehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare Eindruck eine zuverlässigere Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung des Attestes (, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209, 211 <Nr. 21>; , NStZ 2008, 474), etwa dazu, ob Verletzungen im Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hindeuten. Kann ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht regelmäßig auch kein überzeugender Grund für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von § 256 StPO unberührt bleibt (vgl. schon , BGHSt 1, 94, 96; , BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; , bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 <zu § 244 Abs. 2 StPO>; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV).
15cc) Im vorliegenden Fall kann die ärztliche Sicht zur Beantwortung der Frage, ob die attestierten Verletzungen durch die Dornen die Verletzte nachfolgend aus Furcht vor erneuter Misshandlung zu Manipulationen am Geschlechtsteil des Verletzers veranlasst haben könnten, offensichtlich nichts beitragen. Anderes ist auch dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Die Verlesung des Attestes überschreitet daher die Grenzen der Anwendbarkeit von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht.
16c) Von alledem abgesehen, beruhte das Urteil ohnehin nicht auf der Verlesung des Attestes. Dies ergibt sich zwar nicht aus den Angaben des Angeklagten, der bestritten hat, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, und auf die Möglichkeit verwiesen hat, dass ihn die Geschädigte mit einer anderen Person verwechselt. Die Urteilsgründe verweisen jedoch über die Angaben der Geschädigten hinaus auf eine Reihe gewichtiger, von dem Attest unabhängiger Indizien, wie etwa im Gesicht der Geschädigten gesicherter DNA-Abrieb, der dem Angeklagten zuzuordnen ist. Unter diesen Umständen besteht, so im Ergebnis auch der Generalbundesanwalt, kein Anhaltspunkt für die Annahme, die Strafkammer wäre entgegen ihrer ausdrücklichen Feststellung, wonach das Attest (nur) ihre (ohnehin getroffenen) Feststellungen „bestätigt“ (vgl. ; mwN), ohne das Attest möglicherweise zu anderen Feststellungen gelangt.
173. Auch die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
III.
18Die Art der Abfassung der Urteilsgründe veranlasst den Senat zu dem Hinweis, dass diese nicht sämtliche Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und der Hauptverhandlung in allen Details dokumentieren, sondern nur belegen sollen, warum bedeutsame tatsächliche Umstände, so wie geschehen, festgestellt sind. Nur soweit hierfür erforderlich, sind Angaben des Angeklagten, Zeugenaussagen und sonst angefallene Erkenntnisse heranzuziehen. Urteilsgründe, die demgegenüber die Ergebnisse der Beweisaufnahme in der Art eines Protokolls referieren und sich mit einer Vielzahl wenig bedeutsamer Details befassen, können - von dem damit verbundenen, sachlich nicht gebotenen Aufwand abgesehen - den Blick für das Wesentliche verstellen und damit letztlich sogar den Bestand des Urteils gefährden (st. Rspr.; vgl. zuletzt mwN). Auch Ausführungen zur Verwertbarkeit von Beweismitteln sind rechtlich nicht geboten, sondern führen nur zu einer (weiteren) Überfrachtung der Urteilsgründe (vgl. ; , NJW 2009, 2612, 2613 mwN).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 8 Nr. 50
NJW 2012 S. 694 Nr. 10
BAAAD-95953