BSG Beschluss v. - B 9 VG 16/10 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - ohne hinreichende Begründung unterlassenen Beweiserhebung - Zurückverweisung

Gesetze: § 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Instanzenzug: SG Hildesheim Az: S 7 VG 31/00 Urteilvorgehend SG Hildesheim Az: S 7 VG 29/00 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 5 VG 9/04 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 5 VG 8/05 Urteilvorgehend Az: B 9/9a VG 2/06 R Urteilvorgehend Az: B 9/9a VG 3/06 R Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 10 VG 27/07 ZVW Urteil

Gründe

1I. Streitig ist die Zuerkennung verschiedener Versorgungsleistungen an die Kläger nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz.

2Die Kläger sind die Eltern des am geborenen und am unter bisher nicht vollständig aufgeklärten Umständen in dem Fluss N. ertrunkenen F. Insbesondere ist nicht vollständig geklärt, wie F. in den Hochwasser führenden Fluss geraten ist. Die Kläger machen geltend, er sei von dem am geborenen Y. in den Fluss gestoßen worden.

3Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurden von verschiedenen Beamten mehrere Kinder vernommen, die Y. und F. auf bzw in der Nähe einer Brücke über die N. gesehen hatten. Ferner wurden der Bruder sowie die Mutter von Y. über dessen Äußerungen nach dem Vorfall befragt.

4Die im Juni 1998 von den Klägern gestellten Versorgungsanträge lehnte das beklagte Land mit Bescheiden vom und in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom und ab, weil ein vorsätzlich tätlicher Angriff auf F. nicht feststellbar nachgewiesen sei. Es sei nicht bewiesen, dass Y. den F. gewaltsam und in feindlicher Absicht in den Fluss geschubst habe.

5Das von den Klägern angerufene Sozialgericht Hildesheim (SG) hat durch Urteil vom (S 7 VG 31/00) und Gerichtsbescheid vom (S 7 VG 29/00) die Klagen abgewiesen. Mit Urteilen vom hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) die Berufungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Ansprüche scheiterten daran, dass es sich bei dem Ereignis vom nach allen drei denkbaren Sachverhaltsvarianten nicht um einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gehandelt habe. Selbst wenn Y. den F. in den Fluss geschubst haben sollte, fehle es an einem tätlichen Angriff oder zumindest am Vorsatz. In diesem Fall liege nach Auffassung der gehörten Sachverständigen aus entwicklungspsychologischer Sicht keine willentliche Handlung des Y. vor.

6Auf die dagegen eingelegten Revisionen der Kläger hat das Bundessozialgericht (BSG) mit zwei Urteilen vom (- B 9/9a VG 2/06 R - und - B 9/9a VG 3/06 R - = SozR 4-3800 § 1 Nr 11) die Urteile des LSG aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen: Entgegen der Auffassung des LSG lasse sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff des Y. auf F. nach dem Stand der Sachverhaltsaufklärung nicht aus Rechtsgründen ausschließen. Mit natürlichem Vorsatz vermöge auch zu handeln, wer weder seine Tat moralisch bewerten noch seine Impulse kontrollieren könne. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, betreffe die Schuldfähigkeit des Täters, auf die es nach § 1 OEG nicht ankomme. Dass es sich bei dem Vorfall am lediglich um eine unter Kindern übliche Rangelei oder Schubserei gehandelt habe, sei bisher nicht festgestellt. Danach komme es entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens an, den das LSG, allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen - nicht aber des Y.-, noch nicht hinreichend aufgeklärt und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben habe.

8Durch Urteil vom hat das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Nach Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel habe der Ablauf des Geschehens am nicht mehr aufgeklärt werden können. Bedeutende Beweismittel seien die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, die im unmittelbaren bzw zeitnahen Anschluss an das Geschehen aufgrund der Aussagen der Kinder C., G. und M. angefertigt worden und im vorliegenden Rechtsstreit urkundsbeweislich heranzuziehen seien. Aus diesen zeitnahen polizeilichen Vernehmungsprotokollen lasse sich nicht eindeutig auf einen bestimmten Geschehensablauf schließen. Auch die Vernehmung der Zeugen durch den Senat habe keine weitere Aufklärung des Geschehenshergangs erbringen können. Die Vernehmung weiterer Zeugen erachte der Senat nicht für erforderlich. Insbesondere sei die von den Klägern hilfsweise beantragte Vernehmung der namentlich genannten Polizeibeamten nicht geboten. Denn insoweit könne der Senat unterstellen, dass die Aussagen der Kinder von diesen Beamten richtig und vollständig in den Protokollen niedergelegt worden seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeibeamten selbst Zeugen des Geschehens am gewesen seien, lägen nicht vor. Dies sei auch von den Klägern nicht behauptet worden.

9Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger als Verfahrensmangel die Verletzung des § 103 SGG geltend. Das LSG sei ohne hinreichende Begründung ihrem mit Schriftsatz vom und erneut in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf Vernehmung der Polizeibeamten nicht gefolgt, die im Februar 1997 die Kinder vernommen hätten. Diese hätten als Zeugen auch Angaben über das Verhalten der Kinder während der Vernehmungen machen können. Dies gelte insbesondere für KHM G., der den Augenzeugen C. vernommen habe. Zudem habe das LSG die vorliegenden Beweismittel unzutreffend gewürdigt.

10II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Das angefochtene ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen. Dieser Verfahrensmangel ist von den Klägern schlüssig gerügt worden. Er führt, anders als die gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossene Rüge unzutreffender Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

11Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es entgegen dem von den Klägern in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, die im Februar 1997 im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen tätig gewesenen Polizeibeamten nicht als Zeugen ua dazu befragt hat, wie sich die Kinder während ihrer damaligen Vernehmungen verhalten haben.

12Zwar ist das im Rahmen des Hilfsantrags aufgeführte Beweisthema, dass F."zum Vorfallszeitpunkt gestoßen wurde bzw Opfer eines tätlichen Angriffs war", einerseits zu allgemein formuliert und andererseits nicht allein auf die Aufklärung von Tatsachen gerichtet ("tätlicher Angriff" ist ein Rechtsbegriff). Die Kläger hatten jedoch mit Schriftsatz vom , auf den sie in ihrem Beweisantrag ausdrücklich verwiesen haben, hinreichend deutlich gemacht, dass insbesondere KHM G. zu seinen Erinnerungen an die Aussagen der Kinder befragt werden sollte. Danach ging es nicht um die Frage, ob die Aussagen der Kinder seinerzeit vollständig und richtig protokolliert worden sind und/oder ob die Polizeibeamten etwa selbst Augenzeugen des Vorfalls gewesen sind, sondern um die näheren Umstände der Vernehmungen, insbesondere das dabei von den Kindern gezeigte Verhalten.

13Soweit das LSG die Befragung der Polizeibeamten für nicht geboten erachtet hat, weil es unterstelle, dass die protokollierten Aussagen richtig und vollständig niedergelegt worden seien, und Anhaltspunkte dafür nicht vorlägen, dass die Beamten selbst Augenzeugen des Geschehens am gewesen seien, hat es das mit dem Beweisantrag erkennbar verfolgte Anliegen der Kläger nicht hinreichend berücksichtigt. Etwaige Zweifel betreffend das genaue Beweisthema hätte es ausräumen müssen (vgl § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 SGG). Das LSG ist damit dem Beweisantrag schon ohne hinreichende "Begründung" nicht gefolgt.

14Überdies bestand auch in der Sache kein hinreichender Grund, den Beweisantrag abzulehnen. Ohne hinreichende Begründung iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG bedeutet, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 49). Es bestand hier zwingende Veranlassung, dem Beweisantrag zu folgen. Das LSG hat entgegen seiner Pflicht aus § 103 SGG eine Beweislastentscheidung zu Lasten der Kläger getroffen, ohne alle verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft zu haben. Dem Verhalten der Kinder während ihrer polizeilichen Vernehmung könnten durchaus Anhaltspunkte zur Beurteilung ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit und zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen entnommen werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf den von KHM G. befragten Augenzeugen C. Insoweit hat das LSG noch nicht alle geeigneten Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts genutzt.

15Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen, denn es ist nicht auszuschließen, dass bei Durchführung der beantragten Zeugenvernehmungen der Rechtsstreit einer anderen, für die Kläger günstigeren Lösung hätte zugeführt werden können.

16Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:070411BB9VG1610B0

Fundstelle(n):
IAAAD-86818