BGH Beschluss v. - V ZB 265/10

Ausländerrecht: Prognose über mögliche Abschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer

Leitsatz

Auch wenn der Haftrichter Abschiebungshaft für einen Zeitraum von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann .

Gesetze: § 62 Abs 2 S 4 AufenthG, § 26 FamFG

Instanzenzug: LG Dresden Az: 2 T 738/10 Beschlussvorgehend AG Dresden Az: 272 XIV 117/10 Beschluss

Gründe

I.

1Der Betroffene, der russischer Staatsangehöriger ist und aus Tschetschenien stammt, reiste am über Tschechien gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau nach Deutschland ein. Die Eheleute verfügten nicht über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet.

2Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom hat das Amtsgericht nach persönlicher Anhörung des Betroffenen Sicherungshaft bis längstens verhängt und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Im Rahmen der Anhörung stellte der Betroffene einen Asylantrag, nach dessen Eingang beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am ein Asylverfahren eröffnet worden ist.

3Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht die Haftdauer nach persönlicher Anhörung des Betroffenen bis längstens verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Am ist der Betroffene aus der Sicherungshaft entlassen worden.

4Mit der Rechtsbeschwerde möchte er die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Feststellung der Rechtsverletzung erreichen.

II.

5Das Beschwerdegericht stützt die Sicherungshaft auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Der Betroffene werde sicher nicht untertauchen, solange über seinen Asylantrag noch nicht entschieden sei. Das ändere sich aber, wenn der Asylantrag zurückgewiesen werde. Dann sei die Versuchung groß unterzutauchen, um Zeit zu gewinnen. Denn die Zurückschiebung werde immer unwahrscheinlicher, je näher der Entbindungstermin der Ehefrau des Betroffenen rücke. Die Behörde müsse die Abläufe auf das Äußerste beschleunigen, zumal eine Flugreise mit voranschreitender Schwangerschaft kritisch zu sehen sei.

III.

61. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist trotz Erledigung ohne Zulassung statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom , V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rn. 10) und auch im Übrigen zulässig, § 71 FamFG. Allerdings ist die neben der Feststellung begehrte Aufhebung der Beschwerdeentscheidung infolge der Erledigung nicht mehr möglich. Der Antrag ist dem Rechtsschutzziel entsprechend dahingehend auszulegen, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Entscheidung des Amtsgerichts als auch des Beschwerdegerichts begehrt wird.

72. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Falle der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (Senat, Beschluss vom - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 14; Beschluss vom - V ZB 119/10, Rn. 6, juris, einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Die Anordnung der Sicherungshaft war schon deshalb rechtswidrig, weil weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose gemäß § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vorgenommen haben.

8a) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschluss vom - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rn. 14; Beschluss vom - V ZB 226/10, Rn. 15, juris).

9b) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 22; Beschluss vom - V ZB 119/10, Rn. 22, juris). Zu der Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363; Beschluss vom - V ZB 89/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom - V ZB 119/10, Rn. 22 aaO).

10c) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht.

11aa) Aus der Entscheidung des Amtsgerichts geht eine Prognose nicht hervor. Die Tatsachengrundlage ist zudem unzureichend, weil sich der Entscheidung nicht entnehmen lässt, dass das Gericht überhaupt Kenntnis von dem Umstand hatte, dass der Betroffene in Begleitung seiner hochschwangeren Ehefrau eingereist war.

12bb) Ebenso wenig lässt sich der Entscheidung des Beschwerdegerichts die erforderliche Prognose entnehmen. Es hat allerdings den Sachverhalt weiter aufgeklärt und ist davon ausgegangen, dass angesichts der Schwangerschaft eine Zurückschiebung des Betroffenen nur gemeinsam mit seiner Ehefrau in Betracht kommen werde. Wegen der laufenden Asylverfahren und der bevorstehenden Entbindung hat das Beschwerdegericht allenfalls ein kurzes Zeitfenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat es zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die Durchführbarkeit der Abschiebung als solche hat es aber nicht geprüft. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Ehefrau den Feststellungen zufolge im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen, ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gemäß § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Ehefrau eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt gerechnet werden konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte.

13Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte, kommt hier nicht ernsthaft in Betracht. Der Betroffene ist bereits am und damit knapp drei Wochen nach der Beschwerdeentscheidung entlassen worden.

IV.

14Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, der Bundesrepublik Deutschland als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128 c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger                                        Stresemann                                     Roth

                      Brückner                                           Weinland

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
RAAAD-84002