BGH Urteil v. - 3 StR 394/10

Sicherungsverwahrung: Anordnung der Maßregel im Nachverfahren nach fehlerhaftem Vorbehalt

Gesetze: § 66a Abs 2 StGB vom

Instanzenzug: LG Lüneburg Az: 31 KLs 3/10 - 2302 Js 31301/04 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hatte den vielfach vorbestraften Verurteilten, der u.a. im Jahre 1984 wegen fortgesetzter Vergewaltigung und fortgesetzter sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten sowie im September 1995 wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden war, mit Urteil vom wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 76 Fällen, davon in 17 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern zur Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a Abs. 1 StGB aF). Nach den Feststellungen führte er mit seinen minderjährigen Töchtern ungeschützten Oral-, Anal- und Vaginalverkehr aus.

2Mit Urteil vom hat das Landgericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet (§ 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF). Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

3I.  Folgendes liegt zugrunde:

41. Im Urteil vom hatte das Landgericht zur vorbehaltenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. F.     , Facharzt für Psychiatrie, im Wesentlichen ausgeführt:

5Es sei ein Hang des Verurteilten zur Begehung erheblicher Straftaten zu bejahen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die von ihm begangenen zahlreichen Sexualstraftaten, die deutlich auf eine Pädophilie hinwiesen, beruhten auf einem eingeschliffenen Verhaltensmuster, das sich über einen Zeitraum von vielen Jahren entwickelt habe. Beim Verurteilten seien dissoziale Persönlichkeitszüge vorhanden, die sich darin  äußerten, dass er gegenüber den Gefühlen anderer herzlos unbeteiligt sei, andauernd soziale Normen und Regeln missachte sowie unfähig sei, Schuldbewusstsein zu erleben oder aus Strafen zu lernen.

6Wegen dieser Persönlichkeitszüge, der vielfachen Formen der Sexualdelinquenz, der Zunahme der Rückfallgeschwindigkeit, der Steigerung der Anzahl der begangenen Sexualdelikte sowie fehlender ausreichend tragfähiger Sozialkontakte und Beschäftigungsperspektiven bestehe eine erhebliche, naheliegende Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte in Freiheit gleichartige Sexualdelikte begehen werde und deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei, und zwar auch noch zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug. Für den Fall einer erfolgreichen sozialtherapeutischen Behandlung während des Strafvollzugs sei eine Minderung der Gefährlichkeit aber nicht auszuschließen.

72. Die Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung im angefochtenen Urteil vom hat das Landgericht auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Dr. F.      und des Sachverständigen L.   , Diplompsychologe und psychologischer Psychotherapeut, im Wesentlichen wie folgt begründet:

8Es sei weiterhin ein Hang des Verurteilten zur Begehung erheblicher  Sexualstraftaten zu bejahen. Wegen der unzureichend behandelten Pädophilie in Kombination mit den dissozialen Persönlichkeitszügen seien von ihm - insbesondere in Belastungssituationen - nach wie vor mit hoher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen in seinem sozialen Umfeld, aber auch von abhängigen oder schwachen Frauen zu erwarten. Trotz der Behandlung in der Sozialtherapie neige der Verurteilte immer noch zu sexuellen Übergriffen auf Mädchen und schwache Frauen, was sich vor allem darin zeige, dass er lustvolle Erinnerungen an den begangenen Kindesmissbrauch bekundet habe.

9Die Behandlung in der Sozialtherapie sei zwar insoweit als positiv zu beurteilen, als der Verurteilte seine pädophilen Neigungen offen zeige. Er habe jedoch bis heute nicht den erforderlichen Zugang zum Schweregrad sowie dem Ausmaß seiner sexuellen Devianz gefunden und die notwendige Distanz zu seinen Sexualstraftaten aufbauen können. Gefahrensituationen bemerke er nicht und könne mit möglichen Bewältigungsstrategien nicht umgehen.

10II. Die gegen die Maßregelanordnung erhobenen Beanstandungen des Verurteilten greifen nicht durch.

111. Die Aufklärungsrüge ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet. Ergänzend bemerkt der Senat, dass sich aufgrund der Angaben des Verurteilten zu seinen fortbestehenden sexuellen Phantasien über Kindesmissbrauch, die für die Gefährlichkeitsprognose von entscheidender Bedeutung sind, eine Vernehmung des Wohngruppenleiters, des Vollzugsabteilungsleiters sowie der Gruppentherapeutin der Justizvollzugsanstalt zum Vollzugsverhalten und Therapieverlauf des Verurteilten nicht aufdrängte.

122. Die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung stand.

13a) Gemäß § 2 Abs. 6 StGB, Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB richtet sich die revisionsrechtliche Überprüfung der Unterbringungsanordnung nach § 66a StGB in der bis zum geltenden Fassung (vgl. § 354a StPO).

14b) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach deren Vorbehalt festgestellt. Es ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände, vor allem der weiterhin vorhandenen dissozialen Persönlichkeitszüge des Verurteilten, seiner bisherigen Sexualdelinquenz und seiner Pädophilie, die in der während des Strafvollzugs durchgeführten Sozialtherapie nur unzureichend behandelt werden konnte, zu dem Ergebnis gelangt, dass von ihm wegen eines fortbestehenden Hanges zu erheblichen Straftaten nach der Entlassung aus dem Strafvollzug weiterhin schwerwiegende Sexualstraftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und er deshalb für die Allgemeinheit aktuell gefährlich ist.

15c) Der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF aufgrund des im Urteil vom ausgesprochenen Vorbehalts steht nicht entgegen, dass dieses Urteil die Sicherungsverwahrung mit fehlerhafter Begründung lediglich vorbehalten hatte.

16aa) Da das Landgericht die Gefährlichkeit des Verurteilten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung im Mai 2005 ausdrücklich festgestellt hatte und lediglich nicht zweifelsfrei hatte ausschließen können, dass diese durch eine therapeutische Behandlung im Strafvollzug verringert werden könnte, hätte es nach pflichtgemäßen Ermessen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB aF entscheiden müssen, nicht aber deren Vorbehalt aussprechen dürfen. Denn der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt gemäß § 66a Abs. 1 StGB aF voraus, dass die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar ist, wobei für die Beurteilung der Gefährlichkeit der Zeitpunkt der Aburteilung, nicht der der Entlassung aus dem Strafvollzug maßgeblich ist. Eine bloße Hoffnung auf eine Verringerung der Gefährlichkeit während des Strafvollzugs steht ihrer aktuellen Feststellung nicht entgegen; denkbare, nur erhoffte Haltungsänderungen durch eine therapeutische Behandlung bleiben daher regelmäßig der Prüfung gemäß § 67c Abs. 1 Satz 1 StGB vorbehalten (, NStZ 2009, 27 f.; , NStZ 2007, 401; Fischer, StGB, 58. Aufl.,  § 66 Rn. 36).

17bb) Diese Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung hindert indes nicht die Maßregelanordnung im Nachverfahren nach § 66a Abs. 2 StGB aF. Dabei kann dahinstehen, ob im Falle der Anfechtung des Urteils vom durch den Verurteilten dessen Revision erfolglos hätte bleiben müssen, weil er wegen der zweifelsfrei gegebenen Anordnungsvoraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB aF durch den lediglichen Vorbehalt der Sicherungsverwahrung als nicht beschwert anzusehen gewesen wäre (vgl. ), oder ob das Rechtsmittel hätte durchgreifen müssen, weil die Voraussetzungen für den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nicht vorlagen, und dies zur Folge gehabt hätte, dass nach Zurückweisung der Sache wegen des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB aF nicht mehr zulässig gewesen wäre (vgl. , NStZ 2009, 27; s. auch , BGHSt 50, 188, 192 ff.). Der Angeklagte hat dieses Urteil nicht angefochten, dieses ist daher rechtskräftig geworden.

18Damit stand aber fest, dass das Nachverfahren gemäß § 66a Abs. 2 StGB aF durchzuführen und bis zu dem in § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB aF genannten Zeitpunkt die in § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF vorgesehene Prüfung der aktuellen Gefährlichkeit des Verurteilten vorzunehmen war. Dieses Nachverfahren war nicht etwa aufgrund der Fehlerhaftigkeit des Urteils vom ausgeschlossen. Vielmehr führte die Rechtskraft dieser fehlerhaften Entscheidung zu einem Perspektivwechsel im Rahmen des § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF. Es war nicht - wie bei rechtsfehlerfreier Anordnung des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung - zu prüfen, ob nunmehr bei einer Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs seine Gefährlichkeit erstmals positiv festzustellen ist; vielmehr musste das Landgericht unter Heranziehung dieser Beurteilungskriterien entscheiden, ob die im Urteil vom festgestellte Gefährlichkeit des Verurteilten inzwischen entfallen ist.

19Danach stellt sich das angefochtene Urteil auch nicht lediglich als unzulässige Korrektur der fehlerhaften Entscheidung vom durch Neubewertung ausschließlich schon damals bekannter Tatsachen dar (s. dazu , NStZ-RR 2007, 267, 268; MünchKommStGB/Ullenbruch, 1. Aufl., § 66a Rn. 53 ff.; SK-StGB/Sinn, § 66a Rn. 21, Stand: Februar 2008). Vielmehr musste und durfte das Landgericht aufgrund des dargestellten Perspektivwechsels bei seiner Entscheidungsfindung die bisher ohne Erfolg gebliebene therapeutische Behandlung des Verurteilten im Strafvollzug als gewichtige neue Prognosetatsache berücksichtigen. Dies hat es rechtsfehlerfrei getan. Dass es darüber hinaus auch die schon im Ausgangsverfahren bekannten Umstände in der Person des Verurteilten sowie seine bisherigen Straftaten einbezogen hat, ist nicht zu beanstanden, sondern vielmehr durch § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB aF vorgegeben. Es hat diese Prognoseaspekte auch nicht neu, sondern in gleicher Weise wie im Urteil vom bewertet.

20Letztlich steht der Anordnung der Sicherungsverwahrung auch nicht entgegen, dass dem Landgericht die Möglichkeit der Erfolglosigkeit der Therapie bis zum Prüfungszeitpunkt nach § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB aF bereits bei Erlass des Urteils vom erkennbar war. Bei einer vorbehaltenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 StGB aF sind an die Qualität der neuen Tatsachen nicht die gleichen strengen Anforderungen zu stellen wie sie die Rechtsprechung bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung des § 66b StGB aF entwickelt hat (vgl. dazu , BGHSt 50, 121, 125 f.; , BGHSt 51, 185, 186 ff.; Fischer, aaO, § 66b Rn. 17 ff. mwN). Denn zwischen beiden Rechtsinstituten bestehen deutliche Unterschiede.

21Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist eine Maßnahme, die - unbeschadet der hier nicht zu erörternden Frage ihrer Vereinbarkeit mit grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen - den Grundsatz "ne-bis-in-idem" und den Bestand eines rechtskräftigen Urteils zu Lasten des Verurteilten tangiert. Dies ist von der bisherigen Rechtsprechung für zulässig gehalten worden, weil ein überragendes Gemeinschaftsinteresse dahingehend besteht, die Gesellschaft vor Personen schützen, von denen nach Verbüßung der Strafhaft schwerwiegende Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder die Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. , NJW 2006, 3483, 3484; Fischer, aaO, § 66b Rn. 5 f.). Da § 66b StGB aF nicht der nachträglichen Korrektur eines fehlerhaften rechtskräftigen Urteils dienen darf, setzt die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass diese auf neuen Tatsachen gründet, die bei der früheren Verurteilung nicht bekannt und auch nicht erkennbar waren und daher nach dem Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO hätten aufgeklärt werden müssen (vgl. , BGHSt 50, 275, 278; , BGHSt 51, 185, 188; Fischer, aaO, § 66b Rn. 19 ff. mwN).

22Völlig anders stellt sich die Situation bei der Entscheidung über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach deren Vorbehalt dar. Der Verurteilte weiß aufgrund der Ausgangsentscheidung, dass die Strafkammer vor der Entlassung aus dem Strafvollzug nochmals seine Gefährlichkeit unter Berücksichtigung des Vollzugsverhaltens bewerten wird. Sein Verhalten im Strafvollzug, insbesondere seine Mitarbeit an einer Therapie, kann er darauf einrichten. Er kann somit - im Gegensatz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung - zu keinem Zeitpunkt darauf vertrauen, nach Verbüßung der verhängten Strafe aus dem Vollzug entlassen zu werden.

Fundstelle(n):
IAAAD-82531