Fremdrentenrecht - Spätaussiedler - Entgeltpunktebegrenzung bei Hinterbliebenenrente neben begrenzter Rente aus eigener Versicherung - Verfassungsmäßigkeit
Gesetze: Art 6 § 4 Abs 4a FANG vom , § 22b Abs 1 S 1 FRG vom , § 22b Abs 1 S 1 FRG vom , § 22b Abs 3 FRG, § 33 Abs 2 SGB 6, § 64 SGB 6, § 67 Nr 1 SGB 6, § 67 Nr 7 SGB 6, § 82 Nr 7 SGB 6, § 300 Abs 1 SGB 6, § 300 Abs 2 SGB 6, § 300 Abs 3 SGB 6, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, Art 9 Nr 2 RVNG, Art 15 Abs 3 RVNG, GG
Instanzenzug: Az: S 6 KNR 47/03 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 2 RS 3/05 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren darüber, ob die Beklagte der Klägerin ab dem große Witwenrente zahlen muss.
2Die Klägerin ist Witwe des 1991 in der UdSSR verstorbenen Versicherten, lebt seit dem in der Bundesrepublik Deutschland und ist als Spätaussiedlerin anerkannt. Seit dem Tag ihrer Einreise bezieht sie Regelaltersrente aus eigener Versicherung nach dem FRG, wobei die Beklagte die ermittelten Entgeltpunkte (EP) auf den Höchstwert von 25 begrenzte (Bescheid vom ). Mit Bescheid vom erkannte die Beklagte einen Anspruch der Klägerin auf große Witwenrente dem Grunde nach an, lehnte aber gleichzeitig eine Zahlung ab, weil der Höchstwert von 25 EP für anrechenbare Zeiten nach dem FRG bereits vorrangig in der Regelaltersrente berücksichtigt worden sei.
3Im Februar 2002 beantragte die Klägerin, den Bescheid vom bezüglich der Anwendung des § 22b FRG zu überprüfen. Die Beklagte lehnte es ab, die große Witwenrente neu festzustellen (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ).
4Das SG Koblenz hat die Bescheide vom und sowie den Widerspruchsbescheid vom aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin große Witwenrente ohne Begrenzung auf 25 EP zu zahlen (Urteil vom ). Die Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom ): Die Beklagte sei bei Erlass des Witwenrentenbescheids vom nicht befugt gewesen, die ermittelten EP auf Null zu kürzen. Auf § 22b Abs 1 Satz 1 FRG (idF des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom , BGBl I 1461; im Folgenden: aF) habe sie sich nicht stützen können, weil diese Norm das Zusammentreffen von Renten aus eigener Versicherung mit Hinterbliebenenrenten nicht erfasse. Dass § 22b Abs 1 Satz 1 FRG idF des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz - RVNG) vom (BGBl I 1791; im Folgenden: nF) rückwirkend seit dem eine entsprechende Kürzung vorsehe, sei unerheblich. Denn nach § 300 Abs 3 SGB VI bleibe altes Recht, das bei der Rentenerstfeststellung gegolten habe, auch dann maßgeblich, wenn die Rente später neu festzustellen sei und sich das Rentenrecht zwischenzeitlich geändert habe.
5Mit der Revision, die das LSG zugelassen hat, rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X): Der Klägerin seien Rentenleistungen nicht zu Unrecht vorenthalten worden. Denn § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF bestimme ausdrücklich, dass für anrechenbare Zeiten nach dem FRG für Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt höchstens 25 EP der allgemeinen Rentenversicherung zugrunde zu legen seien. Dass der Gesetzgeber diese Vorschrift erst im Juli 2004 verkündet und rückwirkend zum in Kraft gesetzt habe, sei verfassungsgemäß, wie das ua - SozR 4-5050 § 22b Nr 9) entschieden habe. Keinesfalls schließe § 300 SGB VI die Anwendbarkeit des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF aus. Denn der Witwenrentenanspruch der Klägerin sei erst mit ihrem Zuzug im Juli 2000 und damit nicht iS von § 300 Abs 1 SGB VI vor Inkrafttreten des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF am entstanden und er habe mithin auch nicht iS des § 300 Abs 2 SGB VI vor der Aufhebung der früheren Gesetzesfassung bestanden. Die Verkündung des RVNG erst im Juli 2004 ändere daran nichts. Im Verhältnis von § 300 Abs 1 zu Abs 2 SGB VI bezeichne der Begriff "Aufhebung" in § 300 Abs 2 SGB VI nicht den tatsächlichen Akt der Aufhebung im Sinne der Verkündung des Änderungsgesetzes, sondern den Zeitpunkt für das Außerkrafttreten des alten Rechts.
7Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten gewesen.
Gründe
8Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ist rechtmäßig. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, ihren bestandskräftigen Rentenbescheid vom hinsichtlich der Rentenhöhe zurückzunehmen und der Klägerin große Witwenrente zu zahlen.
9Der geltend gemachte Rücknahmeanspruch richtet sich nach § 44 SGB X. Nach dessen Abs 1 Satz 1 ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen für die Rücknahme des Rentenbescheids vom sind hinsichtlich der Rentenhöhe nicht erfüllt. Dabei kann offen bleiben, ob die Beklagte bei Erlass (Bekanntgabe iS von § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X) dieses Bescheids das Recht richtig angewendet hat. Denn sie hat jedenfalls die große Witwenrente zu Recht nicht ausgezahlt (dazu 1.), ohne damit Bundesrecht (dazu 2.) oder Verfassungsrecht (dazu 3.) verletzt zu haben.
101. Selbst wenn die Beklagte bei Erlass des Bescheids vom das Recht fehlerhaft angewandt hätte, würde dies keinen Rücknahmeanspruch begründen. Denn es fehlt die weitere Voraussetzung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, dass wegen der unrichtigen Rechtsanwendung Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Ob diese (weitere) Voraussetzung erfüllt ist, richtet sich nach der materiellen Rechtslage, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Überprüfungsentscheidung besteht (vgl - Juris RdNr 14 und vom - 5 RJ 30/93 - HVBG-INFO 1995, 424 sowie - BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f mwN zum Fall nachträglicher Änderung der Rechtsprechung). Maßgeblicher Zeitpunkt ist daher grundsätzlich die letzte mündliche Verhandlung. Hat sich das Recht während des anhängigen Rechtsstreits geändert, so ist das neue Recht auch im Revisionsverfahren zu beachten, wenn es das streitige Rechtsverhältnis nach seinem zeitlichen Geltungswillen erfasst (stRspr, vgl - BSGE 73, 25, 27 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4 S 26; Vorlagebeschluss vom - 8 RKn 27/95 - SozR 3-2600 § 93 Nr 3 S 27 f; Urteile vom - 9 RVs 9/96 - Juris und vom - B 8 KN 11/02 R - SozR 4-2600 § 93 Nr 4 RdNr 7; Beschluss vom - B 8 KN 18/03 B - Juris).
11Dieser Fall ist hier gegeben. § 22b Abs 1 Satz 1 FRG aF ist während des anhängigen Verfahrens zunächst mit Art 9 Nr 2 iVm Art 15 Abs 3 RVNG rückwirkend zum durch eine Neufassung (§ 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF) ersetzt worden, wonach für anrechenbare Zeiten nach dem FRG für Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt höchstens 25 EP der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zu Grunde gelegt werden. Sodann sind mit Wirkung zum die Worte "Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten" durch die Worte "allgemeine Rentenversicherung" ersetzt worden (Art 45 Nr 2 des Gesetzes zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung vom , BGBl I 3242). Schließlich sind nach § 22b Abs 3 FRG, der nachträglich durch Art 12 Nr 2 RRG 1999 vom (BGBl I 2998) mit (Rück-)Wirkung zum (Art 33 Abs 7 RRG 1999) angefügt wurde, EP aus der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor vorrangig zu berücksichtigen. Hieran gemessen hat die Klägerin kein Recht auf eine der Höhe nach bestimmte Rente. EP aus ihrer Regelaltersrente sind gemäß § 22b Abs 3 FRG vorrangig zu berücksichtigen. Denn der Rentenartfaktor für persönliche EP bei dieser Rentenart (§ 33 Abs 2 SGB VI) ist mit 1,0 höher (§ 67 Nr 1 SGB VI) als die Rentenartfaktoren bei großen Witwenrenten nach Ablauf des sog Sterbevierteljahres für persönliche EP in der allgemeinen Rentenversicherung gemäß § 67 Nr 6 SGB VI in Höhe von 0,6 (ab : 0,55) und in der knappschaftlichen Rentenversicherung gemäß § 82 Nr 7 SGB VI in Höhe von 0,8 (ab : 0,7333). Da bei der Regelaltersrente der Klägerin bereits 25 EP für anrechenbare Zeiten nach dem FRG zu berücksichtigen waren, war damit schon die Höchstpunktzahl erreicht, die § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF für ein Zusammentreffen von Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes höchstens zulässt. Folglich war für die große Witwenrente kein "Monatsbetrag der Rente" (§ 64 SGB VI) festzustellen. Im Ergebnis ist die Klägerin damit lediglich Inhaberin eines "leeren Rechts" auf Witwenrente und bleibt auf den Wert ihrer eigenen Rente und die hieraus monatlich erwachsenden Einzelansprüche beschränkt.
122. Übergangsrechtlich schließen weder § 300 SGB VI, der gemäß § 14 FRG auch für Änderungen des FRG gilt (vgl - BSGE 93, 15 RdNr 13 = SozR 4-5050, § 22b Nr 3), noch Art 6 § 4 Abs 4a des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom (BGBl I 93) idF des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom (BGBl I 1827) die Anwendbarkeit des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF aus (vgl Senatsurteil vom - B 5 RJ 39/04 R - Juris RdNr 13 f sowie - BSGE 95, 29 = SozR 4-5050 § 22b Nr 4; - B 8 KN 9/04 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 5; - B 8 KN 7/04 R - Juris RdNr 14 f). Nach dem Grundsatz des § 300 Abs 1 SGB VI sind die Vorschriften dieses Gesetzbuchs von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Anspruch oder einen Sachverhalt auch dann anzuwenden, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Als Ausnahme von diesem Grundsatz schreibt § 300 Abs 2 SGB VI vor, dass aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuchs und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird.
13Die Neufassung des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG ist gemäß Art 9 Nr 2 iVm Art 15 Abs 3 RVNG am in Kraft getreten und nach der Grundregel des § 300 Abs 1 SGB VI auch auf einen Sachverhalt anzuwenden, der - wie die Biographie des Versicherten - bereits vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen war. Die gleichzeitig aufgehobene Altfassung des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG gilt nicht nach § 300 Abs 2 SGB VI ausnahmsweise fort. Denn die Klägerin hatte am (noch) keinen durchsetzbaren Anspruch (§ 194 Abs 1 BGB) auf Witwenrente (vgl zum Begriff des Anspruchs: BSG SozR 3-2600 § 301 Nr 1). Ihr Witwenrentenanspruch ist nämlich erst mit ihrem Zuzug im Juli 2000 entstanden. Dass das RVNG erst im Juli 2004 verkündet worden ist, ändert an diesem Ergebnis nichts. Denn der Begriff "Aufhebung" in § 300 Abs 2 SGB VI bezeichnet nicht die bloße Existenz des Änderungsgesetzes auf Grund seiner Verkündung (Art 82 Abs 1 Satz 1 GG), sondern den Zeitpunkt für das Außerkrafttreten des alten Rechts, der sich aus den entsprechenden Anordnungen des in Kraft getretenen (Art 82 Abs 2 GG) Änderungsgesetzes ergibt (Senatsurteil vom - B 5 RJ 57/03 R - Juris RdNr 16 und - BSGE 95, 29 = SozR 4-5050 § 22b Nr 4; - B 8 KN 9/04 R - SozR 4-1300 § 4 Nr 5; - B 8 KN 7/04 R - Juris RdNr 15 sowie vom - B 13 RJ 46/03 R - BSGE 93, 15 RdNr 19).
14Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ergibt sich aus § 300 Abs 3 SGB VI nichts anderes. Danach gilt Folgendes: Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen EP neu zu ermitteln, sind die Vorschriften maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren. Diese allgemeine Übergangsnorm wird durch den spezielleren Art 6 § 4 Abs 4a FANG verdrängt (vgl dazu auch Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, Stand: Oktober 2001 Band 3, § 300 RdNr 33e), der seit dem in Kraft ist und speziell für das FRG - im Wesentlichen wortgleich - das Folgende regelt: Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen EP neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des FRG maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs 2a SGB VI nichts anderes bestimmt. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser vorrangigen Spezialnorm sind offensichtlich nicht erfüllt. Am hatte die Klägerin bereits dem Grunde nach kein Recht auf eine große Witwenrente. Erst recht wurde eine derartige Rente daher vor Inkrafttreten des anzuwendenden Rechts weder geleistet noch waren aus diesem Grund EP "neu" zu ermitteln.
153. Art 15 Abs 3 RVNG, der § 22b Abs 1 Satz 1 FRG nF rückwirkend zum in Kraft setzte, verletzt keine verfassungsmäßigen Rechte der Klägerin, wie das ua - SozR 4-5050 § 22b Nr 9) entschieden hat.
16Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:250111UB5R4610R0
Fundstelle(n):
UAAAD-80959