Vertragsarzt - Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzung - Berücksichtigung von bestandskräftigen Feststellungen anderer Behörden oder Gerichte (hier: Strafverfahren) - Gericht - Berücksichtigung und unterschiedliche Bewertung von nicht einbezogenen oder bereits angesprochenen Vorgängen seitens der Zulassungsgremien
Gesetze: § 95 Abs 6 SGB 5, § 12 StGB, § 177 Abs 1 StGB
Instanzenzug: Az: S 39 KA 626/08vorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 12 KA 106/08 Urteil
Gründe
1I. Streitig ist die Entziehung einer vertragsärztlichen Zulassung.
2Gegen den Kläger, einen Radiologen, der seit 1993 in N. zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen war, wurden Vorwürfe erhoben, er habe Minderjährige, die sich für einen Ausbildungsplatz in seiner Praxis interessierten, - jeweils mit der Begründung, sie wegen möglicher Strahlenbelastungen untersuchen zu müssen - dazu veranlasst, sich teilweise oder ganz auszuziehen, und an ihnen Untersuchungen gynäkologischer Art durchgeführt. Die Vorwürfe betrafen vor allem Handlungen an der 17-jährigen M.B., die er mehrfach dementsprechend untersucht habe (28.11., 1.12. und ), aber auch an einer 14-Jährigen und an einer weiteren namentlich nicht benannten ca 15- bis 17-Jährigen (jeweils im November 2003).
3Diese Vorwürfe führten zunächst zu einem Verbot der Berufsausübung (Amtsgericht <AG> Memmingen vom , dann Aufhebung vom , aber erneutes Verbot durch Landgericht <LG> Memmingen vom ). Darauf folgend wurde der Kläger auch strafrechtlich schuldig gesprochen und verurteilt (AG Memmingen vom : 2 Jahre 11 Monate; LG Memmingen vom : 3 Jahre wegen Straftaten gegenüber M.B. am 28.11., 1.12. und ; Oberlandesgericht <OLG> München vom : Freispruch hinsichtlich des , Schuldspruch betreffend Beleidigungen und Vergewaltigung wegen der Vorfälle am 1.12. und , Zurückverweisung für einen neuen Rechtsfolgenausspruch; Bundesverfassungsgericht <Kammer> vom : Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde).
4Der Kläger strengte ein Wiederaufnahmeverfahren an, das bisher erfolglos geblieben ist (LG Kempten vom , Zurückverweisung durch weiterer Fortgang vom Kläger nicht angegeben).
5Sich mit dem Strafverfahren zeitlich noch teilweise überschneidend wurde ein Verfahren auf Entziehung der Kassenzulassung eingeleitet und durchgeführt (Zulassungsausschuss vom /; Berufungsausschuss vom 24.4./: Zulassungsentziehung wegen rechtskräftig festgestellter Vergewaltigung, bezogen auf die vom OLG benannten Vorfälle vom 1.12. und mit Anordnung sofortiger Vollziehung). Rechtsmittel gegen die vom Beklagten ausgesprochene Anordnung sofortiger Vollziehung sind erfolglos geblieben (Bayerisches ).
6Das vom Kläger angerufene SG hat seine Klage gegen die Zulassungsentziehung abgewiesen (Urteil vom : Globalbezugnahme auf die Ergebnisse des Strafverfahrens). Die Berufung des Klägers zum LSG ist erfolglos geblieben (Urteil vom ). Dieses hat in seiner Urteilsbegründung darauf abgestellt, dass es zulässig sei, eine Zulassungsentziehung auf bestandskräftige Entscheidungen im Strafverfahren und deren Inhalt zu stützen. Ein Wiederaufnahmeverfahren ändere daran nichts, solange dem Wiederaufnahmeantrag nicht stattgegeben worden sei. Das Berufungsgericht dürfe die Beweisergebnisse im Strafverfahren ohne eigene Ermittlungen zugrunde legen. Dementsprechend ergäben sich aus den Vorfällen am 1.12. und gröbliche Verletzungen vertragsärztlicher Pflichten. Schon allein damit erweise sich die Zulassungsentziehung als rechtmäßig.Darüber hinaus lägen aber auch unabhängig davon, ob von einem strafrechtlich relevanten Verhalten auszugehen sei, Verstöße gegen vertragsärztliche Pflichten vor. Die vaginale Untersuchung der B. am sei nicht vom Überweisungsauftrag erfasst gewesen. Der Kläger hätte B. am 28.11. und jeweils darauf hinweisen müssen, dass sie solche Untersuchung auch von dem eher dafür zuständigen Frauen- oder Hausarzt durchführen lassen könne. Mit seinem Einwand, dass am die Zeit zwischen den beiden Untersuchungsfrequenzen in der Body-Array-Spule für die ihm vorgeworfenen Handlungen gar nicht habe ausreichen können, habe sich bereits das LG auseinandergesetzt; dem schließe sich das LSG an. Der Kläger habe unter Vorspiegelung medizinischer Notwendigkeit zwei überflüssige kernspintomografische Untersuchungen des Unterleibs der B. durchgeführt, und dies ohne Kontrastmittel, sodass sie nicht einmal medizinisch aussagekräftig hätten sein können; allein die Vornahme dieser zwei Untersuchungen stelle auch ohne jedwede sexuelle Handlung eine schwerwiegende Verletzung vertragsärztlicher Pflichten dar. Das Gericht sei allerdings überzeugt, dass er sich von sexuellen Beweggründen habe leiten lassen, was schon allein, zumal die Betroffenen minderjährig bzw potenzielle Auszubildende gewesen seien, ihn als ungeeignet zur Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit erweise. Dies begründe die Gefahr, dass er auch anderen (jungen) weiblichen Versicherten oder Auszubildenden zu nahe treten würde. Ferner lägen nicht hinnehmbare Grenzüberschreitungen auch darin, dass er von Bewerberinnen um eine Ausbildungsstelle habe Fragebögen ausfüllen lassen mit Fragen danach, ob sie einen Freund hätten, ob sie die Pille zur Verhütung nähmen, wann sie ihre letzte Periode und ihren letzten Geschlechtsverkehr gehabt hätten. Schließlich habe er auch bei einer 14-Jährigen deren Brüste abgetastet und eine Untersuchung gynäkologischer Art durchgeführt. Dasselbe falle ihm bei einer namentlich nicht benannten 15- bis 17-Jährigen zur Last. Schließlich ergebe sich ein weiterer schwerwiegender Grund für seine Ungeeignetheit als Vertragsarzt daraus, dass er während des Berufsverbots weiterhin vertragsärztliche Leistungen erbracht und abgerechnet habe.
7Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger Verfahrensmängel und in mehrfacher Hinsicht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
8II. Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Seine Rügen sind, soweit sie zulässig sind, jedenfalls unbegründet.
9In der Rechtsprechung des BSG ist geklärt, dass die Annahme gröblicher Pflichtverletzungen sich auf die Tatsachenfeststellungen in anderweitigen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen kann, insbesondere auf Strafurteile und Strafbefehle, aber zB auch auf Disziplinarentscheidungen und Bußgeldbescheide wegen Qualitätsmängeln (vgl BSGE 61, 1, 4 = SozR 2200 § 368a Nr 16 S 60 und - die Rechtsprechung zusammenfassend - - in Juris dokumentiert - RdNr 12 mwN). Dabei ist zugleich anerkannt, dass es sich bei den Vorgängen, die gröbliche Pflichtverletzungen darstellen können, nicht um Straftaten handeln muss, sondern dass insoweit auch zB berufsrechtliche oder wettbewerbliche Verstöße herangezogen werden können (vgl zB BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10, 17; BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 13). Es kann sich auch um Handlungen mit sexuellem Einschlag handeln (vgl - in Juris dokumentiert; BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 13; - in Juris dokumentiert - RdNr 11; - in Juris dokumentiert - RdNr 18). Ein Vorgang, der als Pflichtverstoß gewertet wird, kann auch längere Zeit zurückliegen; auf solche, die länger zurückliegen als fünf Jahre vor der Entscheidung des Berufungsausschusses, kann allerdings nur dann zurückgegriffen werden, wenn sie besonders gravierend sind (BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 14). Die Gerichte dürfen auch solche Vorgange berücksichtigen und bei der Wertung als gröbliche Pflichtverletzung zugrunde legen, die von den Zulassungsgremien nicht einbezogen wurden (BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 14).
10Vor dem Hintergrund dieser bereits erfolgten Klärungen ist weder ein weiterer Klärungsbedarf ersichtlich, noch greifen die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen durch.
11Es ist nicht klärungsbedürftig, dass das LSG die Entziehung der Zulassung allein unter Hinweis auf die Tatsachenfeststellungen bestätigen durfte, die im Strafverfahren bei der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers ua wegen Vergewaltigung einer Ausbildungsplatzbewerberin in seiner Praxis zugrunde gelegt wurden (vgl die oben angeführte Rechtsprechung). Auf die Beanstandungen, die der Kläger im Berufungsverfahren gegen die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen des LG erhoben hat, hat das LSG nicht näher eingehen müssen. Ob diese Einwendungen substanziiert vorgetragen worden sind, kann dahingestellt bleiben. Der Grundsatz, dass das Vorliegen einer Pflichtverletzung iS des § 95 Abs 6 SGB V aus bestandskräftigen Feststellungen anderer Behörden oder Gerichte abgeleitet werden kann - und dass im Falle eines Verbrechens (§ 177 Abs 1 iVm § 12 Strafgesetzbuch) im Zusammenhang mit der ärztlichen Tätigkeit in aller Regel eine gröbliche Verletzung anzunehmen ist -, bedarf keiner Einschränkung. Wer wegen eines Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde, muss die dieser Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen im Zulassungsentziehungsverfahren gegen sich gelten lassen. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (§ 366 Strafprozessordnung <StPO>) ändert daran nichts, solange er nicht für begründet erklärt worden ist. Ob die Sozialgerichte bei Erfolg des Wiederaufnahmeantrags, aber noch vor Durchführung der neuen Hauptverhandlung (vgl § 370 Abs 2 StPO) den Angriffen des Arztes gegen die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen nachzugehen hätten, bedarf hier keiner Klärung. Vorliegend steht weder fest noch ist etwas dafür ersichtlich und wird auch vom Kläger nicht vorgetragen, dass sein Wiederaufnahmegesuch für begründet erklärt worden wäre.
12Erfolglos ist auch die weitere Rüge des Klägers, das LSG hätte den Beweisanträgen folgen müssen, die er in seinen Schriftsätzen vom und vom gestellt habe. Denn diese Beweisanträge hat er nicht, wie erforderlich, erkennbar bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung des LSG aufrechterhalten (vgl dazu LSG-Sitzungsniederschrift LSG-Akten Bl 248, 249; zum Erfordernis des Aufrechterhaltens der Beweisanträge siehe zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 29 S 49; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5).
13Ebenso erfolglos ist die Rüge, eine Überraschungsentscheidung liege darin, dass das LSG die Handlungen des Klägers gegenüber der B. am schon ausreichen lasse, nachdem dies weder vom Beklagten noch vom SG so gesehen worden sei. Nach der Rechtsprechung dürfen die Gerichte, wie erwähnt, auch solche Vorgänge berücksichtigen und bei der Wertung als gröbliche Pflichtverletzung zugrunde legen, die von den Zulassungsgremien nicht einbezogen wurden (s oben mit Hinweis auf BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 14). Davon kann ein anwaltlich vertretener Kläger nicht überrascht werden. Erst recht ist es nicht zu beanstanden, wenn Gerichte auf von den Zulassungsgremien bereits angesprochene Vorgänge zurückgreifen und diese lediglich anders bewerten.
14Umstände, derentwegen die Zulassungsentziehung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar sein könnte, sind nicht ersichtlich und werden auch vom Kläger nicht geltend gemacht.
15Auf der Grundlage der nach alledem tragfähigen Feststellungen und Ausführungen des LSG, dass die strafgerichtlich festgestellten Untersuchungen des Klägers an B. am 1.12. und am schon allein für sich zur Rechtfertigung der Zulassungsentziehung ausreichen, bedarf es keines Eingehens auf die weiteren Rügen des Klägers im Zusammenhang mit anderen Vorgängen. Insoweit fehlt es - soweit er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht - an der Entscheidungserheblichkeit (Klärungsfähigkeit) und - soweit er Verfahrensrügen erhebt - am "Beruhen" auf dem gerügten Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
16Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 SGG abgesehen.
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt der Kläger die Kosten des von ihm erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO).
18Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 3, § 40 Gerichtskostengesetz. Seine Bemessung erfolgt entsprechend den Ausführungen der Vorinstanz, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden sind (siehe Bayerisches ).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:050510BB6KA3209B0
Fundstelle(n):
VAAAD-62728