BSG Urteil v. - B 13 R 90/09 R

Fremdrentenrecht - Übergangsregelung - Kürzung der Entgeltpunkte aus fremdrechtlichen Beitrags- und Beschäftigungszeiten - Verfassungsmäßigkeit

Gesetze: Art 6 § 4c Abs 2 S 1 Nr 1 FANG vom , Art 6 § 4c Abs 2 S 1 Nr 2 FANG vom , Art 6 § 4c Abs 2 S 1 Nr 3 FANG vom , Art 6 § 4c Abs 2 S 3 FANG vom , Art 6 § 4c Abs 2 S 4 Nr 1 FANG vom , Art 6 § 4c Abs 2 S 6 FANG vom , § 22 Abs 1 FRG vom , § 22 Abs 3 FRG vom , § 22 Abs 4 FRG vom , § 100 Abs 4 SGB 6, § 27 Abs 1 SGB 10, § 27 Abs 5 SGB 10, § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 1 SGB 10, § 44 Abs 4 S 3 SGB 10, § 48 Abs 1 SGB 10, § 48 Abs 2 SGB 10, § 48 Abs 4 S 1 SGB 10, § 79 Abs 2 S 1 BVerfGG, Art 16 Nr 2 RVAltGrAnpG, Art 3 Nr 4 Buchst b WFG, Art 3 Abs 1 GG, Art 14 Abs 1 GG, § 54 Abs 1 SGG, § 54 Abs 4 SGG, § 77 SGG

Instanzenzug: SG Detmold Az: S 20 (2) R 307/07 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 3 R 95/09 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Altersrente für Frauen ohne Kürzung der nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzurechnenden Entgeltpunkte (EP) zusteht.

2Die im Jahre 1939 geborene Klägerin siedelte im Juni 1989 aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland über. Auf ihren Antrag vom September 1999 bewilligte die Beklagte Altersrente für Frauen ab (Bescheid vom ). Bei der Berechnung kürzte sie die EP der nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten der Klägerin um 40 vH durch Multiplikation mit dem Faktor 0,6.

3Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin die "Rücknahme des Bescheides vom " gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und die Neufeststellung ihrer Altersrente ohne Kürzung der Beitragszeiten nach dem FRG um 40 vH unter Hinweis auf den (BVerfGE 116, 96 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5). Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheids vom ab, weil die Klägerin ihren Überprüfungsantrag erst nach dem gestellt habe, so dass sie allein deshalb die Voraussetzungen der nach der Entscheidung des BVerfG getroffenen Übergangsregelung nicht erfülle (Bescheid vom ). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ; Urteil des Sozialgerichts Detmold vom ).

4Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch nach § 44 SGB X auf Rücknahme des Rentenbescheids vom und auf Gewährung einer Altersrente ohne Kürzung der nach dem FRG anzurechnenden EP um 40 vH. Gemäß § 22 Abs 4 FRG seien die EP für Zeiten nach §§ 15 und 16 FRG mit dem Faktor 0,6 zu vervielfältigen. Die Klägerin könne eine ungekürzte Altersrente auch nicht aus der rückwirkend zum eingefügten Fassung von Art 6 § 4c Abs 2 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG <2007>) beanspruchen. Diese - auf die Entscheidung des zurückzuführende - Übergangsregelung greife nicht zugunsten der Klägerin. Zwar sei unstreitig, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik vor dem (am ) genommen und Altersrente nach dem (ab ) bezogen habe. Es fehle jedoch an einem Rentenantrag oder an einem bis zum gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheids, über den am noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. Am Stichtag der Vorschrift () sei kein unbeschiedener Antrag der Klägerin anhängig gewesen. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass der Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X auf Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheids vom erst am gestellt worden sei.

5Eine günstigere Regelung könne die Klägerin auch nicht aus der Formulierung in der og Entscheidung des BVerfG herleiten, wonach bereits bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte von der Entscheidung "für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt" blieben. Dadurch habe das BVerfG klargestellt, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet gewesen sei, Verwaltungsverfahren, die im Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung des BVerfG bereits (bestandskräftig) abgeschlossen waren, für Zeiträume bis zur Entscheidung des BVerfG in eine gesetzliche Neuregelung einzubeziehen. Dadurch habe der Gesetzgeber der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Bestandskraft von Verwaltungsakten, die auch in § 79 Abs 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zum Ausdruck komme, Rechnung getragen. Im Umkehrschluss bedeute dies nicht, dass für diese bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakte eine Neuregelung für die Zukunft hätte getroffen werden müssen. Dies richte sich vielmehr danach, inwieweit das BVerfG die streitige Norm für nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt habe. Entscheidend sei daher, ob für die Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustands eine Änderung der Norm nur für in der Vergangenheit zurückliegende oder auch für zukünftige Zeiträume erforderlich sei. Die Neuregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) sei jedenfalls mit den Vorgaben des BVerfG vereinbar. Mit der nach Zeiträumen gestaffelten Kürzung der EP in dieser Übergangsregelung habe der Gesetzgeber den Betroffenen hinreichend Zeit gelassen, um sich auf niedrigere Rentenhöhen einzustellen. Gerade die vom BVerfG für ausreichend erachtete Möglichkeit zur Anpassung der Lebensführung an den deutlich niedrigeren Rentenbetrag lasse auf eine verfassungsrechtlich zulässige Absenkung der Rentenhöhe für rentennahe Jahrgänge schließen.

6Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verfassungswidrigkeit der Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007). Rechte nach dem FRG seien bereits mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Nachfolgende Gesetzesänderungen hätten daher in ihre bereits entstandenen Ansprüche eingegriffen. Aus diesem Grund habe das BVerfG auch eine Übergangsregelung für notwendig erachtet. Diese erfasse jedoch nur einen Teil der durch die Gesetzesänderungen Betroffenen. Insbesondere berücksichtige die Norm nicht jenen Personenkreis, dem sie zugehörig sei. Auch für diese Personen gelte der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Unter Beachtung der Vorgaben des BVerfG hätte sie in die Übergangsregelung einbezogen werden müssen.

9Sie hält Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) für verfassungsgemäß. Im Übrigen beruft sie sich auf das Urteil des 5. Senats vom (BSG SozR 4-5050 § 22 Nr 9), wonach die Übergangsregelung auch dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz für die von dieser Vorschrift erfassten Betroffenen entspreche.

10Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

Gründe

11Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung zu Recht zurückgewiesen. Mit ihrem Überprüfungsbegehren verfolgt die Klägerin eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG; vgl BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 3 RdNr 8; BSGE 88, 75, 77 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 132; BSGE 81, 150, 152 = SozR 3-3100 § 30 Nr 18 S 43; BSGE 76, 156, 157 f = SozR 3-4100 § 249e Nr 7 S 52; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 8 S 19), die unbegründet ist. Der angefochtene Ablehnungsbescheid der Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn sie hat keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Rentenbewilligungsbescheids vom sowie auf Neufeststellung einer höheren Altersrente ohne Kürzung der nach dem FRG ermittelten EP um den Faktor 0,6.

12Die Beklagte ist weder nach Art 6 § 4c Abs 2 FANG (1.) noch nach der Rechtsfolgenanordnung des BVerfG (2.) oder nach verfahrensrechtlichen Vorschriften (3.) zur Änderung des bestandskräftigen Rentenbescheids vom verpflichtet. Zugunsten der Klägerin greift auch nicht der sozialrechtliche Herstellungsanspruch (4.). Das Überprüfungsbegehren scheitert daran, dass die ab vorgenommene Absenkung der EP für nach dem FRG anerkannte Beitragszeiten um 40 vH gemäß § 22 Abs 4 FRG ohne Ausgleich gesetzeskonform und verfassungsgemäß (5.) ist.

131. Gemäß § 22 Abs 4 FRG in der hier maßgeblichen Fassung von Art 3 Nr 4 Buchst b Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom (BGBl I 1461) sind die nach § 22 Abs 1 und 3 FRG maßgeblichen EP mit dem Faktor 0,6 zu vervielfältigen, also um 40 vH abzusenken. Diese Vorschrift, die bereits mit Wirkung vom in Kraft getreten ist (Art 12 Abs 2 WFG), hat die Beklagte rechtsfehlerfrei angewandt.

14a) Die - ebenfalls mit Wirkung vom (Art 12 Abs 2 WFG) in Kraft getretene - als Übergangsregelung hierzu durch Art 6 § 4c FANG (1996) idF von Art 4 Nr 4 WFG geschaffene Ausnahme beließ es für "Berechtigte, die vor dem ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente vor dem beginnt", bei dem bis dahin geltenden Recht. In Verbindung mit der früheren Übergangsregelung des Art 6 § 4 Abs 5 FANG (1996) galt der Rentenabschlag in Höhe von 40 vH damit für alle nach dem FRG Berechtigten unabhängig vom Datum ihres Zuzugs mit einem Rentenbeginn ab dem , wenn sie nicht unter das Abkommen vom zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung fielen (vgl hierzu BVerfGE 116, 96, 101 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 22; BSG SozR 4-5050 § 22 Nr 9 RdNr 14). Zu diesem Personenkreis zählt auch die Klägerin. Die Beklagte hat diese Vorschriften ebenfalls rechtsfehlerfrei auf sie angewandt. .

15b) Eine günstigere Rechtsposition kann die Klägerin auch nicht aus der durch Art 16 Nr 2 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom (BGBl I 554) rückwirkend zum (Art 27 Abs 2 aaO) angefügten Bestimmung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) herleiten. Diese Übergangsregelung geht auf die Entscheidung des (BVerfGE 116, 96 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5) zurück (vgl BT-Drucks 16/3794, S 48 zu Art 16), wonach es mit Art 2 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip unvereinbar ist, dass § 22 Abs 4 FRG auf Berechtigte, die vor dem ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem begonnen hat, ohne eine Übergangsregelung für die zum damaligen Zeitpunkt rentennahen Jahrgänge zur Anwendung kommt.

17c) Der Klägerin stehen aus dieser Übergangsregelung weder eine ungekürzte Rente unter voller Anrechnung der EP für die nach dem FRG anerkannten Zeiten noch ein Rentenzuschlag zu. Zwar hat sie vor dem ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen (Juni 1989) und ihre Rente hat nach dem (Dezember 1999) begonnen (Abs 2 Satz 1 Nr 1 und 2). Die Voraussetzungen von Abs 2 Satz 1 Nr 3 sind jedoch nicht erfüllt. Denn über ihren Rentenantrag vom September 1999 war bereits mit Bewilligungsbescheid vom bindend (§ 77 SGG) entschieden worden. Es fehlt an einem "bis gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheids", weil die Klägerin den Antrag auf Rücknahme dieses Rentenbescheids erst mit Schreiben vom gestellt hat.

18d) Gründe für eine Wiedereinsetzung in die am abgelaufene Frist zur Beantragung der Überprüfung des Rentenbescheids (§ 27 Abs 1 SGB X) sind vom LSG nicht festgestellt und von der Klägerin auch nicht behauptet worden - unabhängig von der Frage, ob eine Wiedereinsetzung zulässig wäre (§ 27 Abs 5 SGB X).

192. Die Klägerin kann auch keine Änderung des bindenden Rentenbescheids aus der Rechtsfolgenanordnung im Abschnitt D der Entscheidung des (BVerfGE 116, 96, 135 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 111 ff), die für alle Gerichte und Behörden bindend ist (§ 31 Abs 1 BVerfGG), beanspruchen; weder für den Leistungszeitraum ab noch ab .

21Mit der in Art 6 § 4c Abs 2 Satz 1 Nr 3 FANG (2007) normierten Regelung ("über deren Rentenantrag oder über deren bis gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheids am noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist") ist der Gesetzgeber nicht hinter den Vorgaben des BVerfG zurückgeblieben (wonach "noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Gerichts- und Verwaltungsverfahren" ausgesetzt bleiben oder auszusetzen sind). Hierbei hat der Gesetzgeber auch im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG am (durch Pressemitteilung des BVerfG Nr 58/2006) anhängige Überprüfungsverfahren in bestimmten zeitlichen Grenzen in die Übergangsregelung mit einbezogen.

22Welche Gründe den Gesetzgeber bewogen haben, die Antragstellung für Überprüfungsverfahren auf den zu befristen, ergibt sich zwar nicht aus den Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 16/3794, S 48 zu Art 16; 16/4372; vgl auch BR-Drucks 2/07 S 122). Die Befristung erschließt sich aber aus dem zeitlich gestaffelten Rentenzuschlag in Art 6 § 4c Abs 2 Satz 3 FANG (2007). Sie trägt § 44 Abs 4 SGB X Rechnung (insoweit zutreffend LSG Bayern vom - L 13 R 909/08 - Juris RdNr 31), auf den Art 6 § 4c Abs 2 Satz 6 FANG (2007) verweist. Anträge auf Rücknahme des Rentenbescheids, die während des von der Vorschrift nicht erfassten Zeitraums ab gestellt worden sind, lösen von vornherein keinen Überprüfungsanspruch aus, weil die Rücknahme eines bindenden Rentenbescheids in diesem Fall keine Auswirkung mehr haben kann (vgl BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr 1 S 4 mwN). Für ab gestellte Überprüfungsanträge hätte ein Rentenzuschlag allenfalls im Zeitraum von 2001 bis 2004 beansprucht werden können. Der gestaffelte Rentenzuschlag lief aber bereits mit Ablauf des gänzlich aus (Art 6 § 4c Abs 2 Sätze 3 und 4 FANG <2007>).

23Für die Klägerin, die ihren Überprüfungsantrag erst am , mithin nach der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG gestellt hat, gilt daher die verbindliche Rechtsfolgenanordnung, dass bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte von der Entscheidung des BVerfG für die Zeit vor dessen Bekanntgabe unberührt bleiben. Zwar war es demnach dem Gesetzgeber unbenommen, die Wirkung der Entscheidung auch auf bereits bestandskräftige Bescheide zu erstrecken. Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber in Art 6 § 4c Abs 2 Satz 1 Nr 3 Alt 2 FANG (2007) nur in Bezug auf bis gestellte Überprüfungsanträge Gebrauch gemacht.

243. Die Klägerin kann auch keine Änderung des bindenden Rentenbescheids aus verfahrensrechtlichen Normen herleiten, weder für den Leistungszeitraum ab noch ab .

25a) Ein Anspruch auf Rücknahme des bindenden Rentenbescheids aus § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X für den Leistungszeitraum vom bis besteht nicht. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Gemäß § 44 Abs 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist (Satz 1). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (Satz 3).

26Kann die Rücknahme eines bindenden Verwaltungsakts aber keine Auswirkung mehr haben, so besteht von vornherein kein Überprüfungsanspruch mehr (BSG SozR 3-6610 Art 5 Nr 1 S 4 mwN). So verhält es sich hier. Die Klägerin könnte selbst bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X auf ihren im Februar 2007 gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheids vom allenfalls Leistungen im Zeitraum von 2003 bis 2006 beanspruchen (§ 44 Abs 4 SGB X). Der in Art 6 § 4c Abs 2 Satz 3 FANG (2007) gestaffelte Rentenzuschlag lief aber mit Ablauf des gänzlich aus.

27b) Ebenso wenig wirkt sich § 100 Abs 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), der durch Art 1 Nr 30 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom (BGBl I 554) mit Wirkung zum (Art 27 Abs 7) angefügt worden ist, zugunsten der Klägerin aus. Denn diese Bestimmung setzt ua einen Rücknahmeanspruch nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X voraus, der nicht vorliegt (s soeben unter a).

28c) Auch eine Anwendung von § 48 Abs 1 oder 2 SGB X anstelle von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X könnte die Klägerin nicht günstiger stellen. § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X verweist insoweit ebenso auf die vierjährige Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X. Dadurch werden bei der Aufhebung nach §§ 44 und 48 SGB X hinsichtlich der nachträglichen Erbringung von Sozialleistungen gleiche Ergebnisse erzielt (vgl Schütze in von Wulffen, 7. Aufl 2010, § 48 SGB X RdNr 33 mwN).

294. Die Klägerin kann für sich schließlich kein Recht aus dem - von der Rechtsprechung entwickelten - sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Dieser erfordert eine Pflichtverletzung und einen hierdurch hervorgerufenen Schaden auf dem Gebiet des Sozialrechts; als Rechtsfolge ist der Zustand wiederherzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestehen würde, wobei dies jedoch nur durch eine zulässige Amtshandlung geschehen darf (stRspr, vgl zu den Einzelheiten zB Senatsurteil vom - BSGE 92, 241, 243 f = SozR 4-2600 § 58 Nr 3 RdNr 19 mwN).

30Ein Übergangszuschlag nach Art 6 § 4c Abs 2 Satz 3 FANG (2007) aufgrund des Herstellungsanspruchs könnte in der vorliegenden Fallgestaltung allenfalls damit begründet werden, dass die Beklagte die Klägerin dahingehend hätte kontaktieren müssen, dass sie bis zum einen Antrag auf Rücknahme ihres (bindenden) Rentenbescheids vom hätte stellen müssen. Ein solches Beratungsverlangen ist aber abwegig. Denn der Ausgang des Verfahrens vor dem BVerfG war seinerzeit nicht vorhersehbar.

315. Der Senat hat sich nicht davon überzeugen können, dass die Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) verfassungswidrig ist.

32a) Soweit die Klägerin meint, sie könne allein deshalb eine ungekürzte Altersrente beanspruchen, weil sie bereits vor 1991 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und schon zu diesem Zeitpunkt Ansprüche nach dem FRG erworben habe, die der Gesetzgeber aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht mehr zu ihren Ungunsten habe ändern dürfen, geht diese Ansicht fehl. Das BVerfG hat ausdrücklich entschieden, dass der Personenkreis, der bereits vor diesem Datum zugezogen war, nicht allgemein von der Kürzung der EP um 40 vH ausgeschlossen ist. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass "allein die nach dem in die Bundesrepublik zugezogenen, nach dem FRG Berechtigten die Last der Sanierung der RV-Träger auf Dauer zu tragen hätten, konnte sich nicht bilden" (BVerfGE 116, 96, 132 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 104).

33Im Übrigen ist bereits entschieden, dass die Stufenregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) die Vorgaben im (BVerfGE 116, 96 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5) erfüllt. Sie genügt den Anforderungen, die das BVerfG unter Berücksichtigung von Art 2 Abs 1 GG und des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips an eine Übergangsregelung für FRG-Berechtigte, die vor dem ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen und deren Rente nach dem begonnen hat, gestellt hat (vgl Senatsurteil vom - SozR 4-5050 § 22 Nr 10 RdNr 25 ff; BSG SozR 4-5050 § 22 Nr 9 RdNr 17 ff). Im Anschluss an das Senatsurteil (aaO) hat das BVerfG Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Es hat ausgeführt, dass der Verfassung keine Verpflichtung zu entnehmen ist, die Übergangsregelung über einen längeren Zeitraum als den in Art 6 § 4c Abs 2 FANG (2007) vorgesehenen Zeitraum von 45 Monaten zu erstrecken oder die Reduzierung des Rentenbetrages in anderen Schritten vorzunehmen (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom - 1 BvR 1201/10 - NZS 2010, 557, 558). Die Klägerin muss daher die dauerhafte Rentenkürzung um 40 vH hinnehmen.

34b) Soweit die Klägerin schließlich der Übergangsregelung nur deshalb nicht unterfällt, weil im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG am über ihren Rentenantrag bestandskräftig entschieden war und sie erst nach diesem Datum einen Antrag auf Rücknahme des bindenden Rentenbescheids gestellt hat, bleibt auch die Voraussetzung von Art 6 § 4c Abs 2 Satz 1 Nr 3 FANG (2007) nicht hinter den Vorgaben zurück, die das BVerfG als verfassungsrechtliche Rechtsfolge der Unvereinbarkeitserklärung verbindlich (Art 31 Abs 1 BVerfGG) formuliert hat (vgl oben unter 2.). Sie ist schon deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

35Art 6 § 4c Abs 2 Satz 1 Nr 3 FANG (2007) privilegiert jene Versicherten, über deren Rente im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG bzw über deren bis gestellte Überprüfungsanträge am Stichtag () noch nicht bestandskräftig entschieden war, gegenüber jenen Berechtigten, bei denen dies - wie bei der Klägerin - der Fall war. Diese Ungleichbehandlung verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Die Differenzierung beruht auf sachlichen Gründen.

36Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, Verwaltungsakte, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG bereits bestandskräftig waren - anders als nach der konkreten Rechtsfolgenanordnung des BVerfG - ebenso zu behandeln wie (noch) nicht bindende Verwaltungsakte. Im Hinblick auf die Bestandskraft (Bindung) unterscheiden sich die Sachverhalte grundlegend voneinander, sodass eine differenzierte Behandlung gerechtfertigt ist. Das BVerfG hat geklärt, dass der Bestandskraft von Verwaltungsakten eine vergleichbare Bedeutung für die Rechtssicherheit zukommt wie der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen. Es besteht auch ein verfassungsrechtliches Interesse daran, die Bestandskraft eines Hoheitsakts herbeizuführen, wenn die Rechtsordnung der Verwaltung die Befugnis erteilt hat, für ihren Bereich das im Einzelfall Verbindliche festzustellen, zu begründen oder zu verändern (so ausdrücklich BVerfGE 60, 253, 270; vgl auch - Juris RdNr 38: "wegen des verfassungsrechtlich anerkannten Grundsatzes der Bestandskraft").

37Für die Klägerin gilt daher die Vorgabe des BVerfG, dass bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte von der Entscheidung des BVerfG für die Zeit vor dessen Bekanntgabe unberührt bleiben. Von Verfassungs wegen bedurfte es keiner Korrektur von im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG bestandskräftigen Rentenbescheiden. Das BVerfG hat betont, dass es dem Gesetzgeber frei stand, die Wirkung seiner Entscheidung auch auf bereits bestandskräftige (Renten)Bescheide zu erstrecken.

38Die aufgezeigte Differenzierung lässt sich mühelos auf den Rechtsgedanken der - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Vorschrift von § 79 Abs 2 Satz 1 BVerfGG (dazu BVerfGE 20, 230, 236) zurückführen, wonach nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig (oder für verfassungswidrig) erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Dem liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf verfassungswidriger Grundlage zu Stande gekommen sind, im Einzelfall nicht rückwirkend aufgehoben und die nachteiligen Wirkungen, die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangen sind, im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit nicht beseitigt werden sollen (stRspr, vgl zB BVerfGE 104, 126, 150; 107, 27, 58; 94, 241, 266 auch für den Fall der Unvereinbarkeitserklärung; ebenso Graßhof in Umbach/Clemens/Dollinger <Hrsg>, BVerfGG, 2. Aufl, § 78 RdNr 69; § 79 RdNr 27 mwN).

39Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:201010UB13R9009R0

Fundstelle(n):
AAAAD-60217