BAG Urteil v. - 5 AZR 378/09

Umwandlung von tariflichen Zeitzuschlägen in Zeit - Berechnung - Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe NW

Gesetze: § 611 Abs 1 BGB, § 1 Abs 1 TVG, § 133 BGB, § 157 BGB, § 6 Abs 5 ArbZG, § 11 Abs 2 ArbZG, Art 3 Abs 1 GG, § 7 Abs 1 AGG, Art 21 Abs 1 EUGrdRCh

Instanzenzug: ArbG Solingen Az: 5 Ca 714/08 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 2 Sa 1587/08 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Umwandlung tariflicher Zeitzuschläge in Arbeitszeit.

Der Kläger ist seit 1988 als Elektroinstallateur bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung der Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe vom (im Folgenden: TV-N NW) Anwendung, der ua. bestimmt:

3Der Kläger erhält Vergütung nach Entgeltgruppe 7 Stufe 5 TV-N NW. Auf seinen Antrag schrieb die Beklagte seinem Arbeitszeitkonto für Überstunden, Nacht- und Feiertagsarbeit sowie Rufbereitschaft im Zeitraum 2. Januar bis insgesamt 120,37 Stunden gut. Dabei setzte sie das auf der Basis der Stufe 1 der Entgeltgruppe 7 TV-N NW errechnete Zeitzuschlagsentgelt ins Verhältnis zu der Arbeitszeit, die der Kläger mit der für ihn maßgeblichen Stufe 5 der Entgeltgruppe 7 TV-N NW benötigt hätte, um das Zeitzuschlagsentgelt zu verdienen.

4Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Gutschrift von weiteren 29,93 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto. Er hat die Auffassung vertreten, § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW sei dahingehend auszulegen, dass die in § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW angegebenen Prozentsätze bezogen auf eine Stunde anzusetzen seien. Die Berechnungsmethode der Beklagten verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, weil den Arbeitnehmern bei gleicher Arbeitsleistung weniger Freizeit gutgeschrieben werde, je höher ihre individuelle Entgeltstufe sei.

Der Kläger hat beantragt,

6Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die Tarifvertragsparteien hätten mit § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW pro Entgeltgruppe feste Zeitzuschläge auf der Basis der Stufe 1 vereinbart. Dieser Ansatz werde bei der Faktorisierung fortgesetzt. Der Arbeitnehmer erhalte eine dem Geldwert entsprechende Zeitgutschrift.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Gründe

8Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

9I. Der Anspruch des Klägers auf Umwandlung der Zeitzuschläge für Überstunden, Nacht- und Feiertagsarbeit sowie Rufbereitschaft im Zeitraum 2. Januar bis in dem Arbeitszeitkonto zuzuführende Zeit nach § 11 Abs. 1 Satz 4, Abs. 3 Satz 4 TV-N NW ist durch Erfüllung erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB). Unstreitig hat die Beklagte dem Arbeitszeitkonto des Klägers 120,37 Stunden zugeführt. Ein weitergehender Anspruch besteht nicht.

10II. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass sich ein darüber hinausgehendes Zeitguthaben nur ergeben könnte, wenn die Umwandlung der Zeitzuschläge in dem Arbeitszeitkonto zuzuführende Zeit nach § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW allein entsprechend den in § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW aufgeführten Prozentanteilen durchzuführen wäre. Ein solches Ergebnis trägt die Auslegung des § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW nicht.

111. Schon der Wortlaut der Tarifnorm, von dem vorrangig auszugehen ist (st. Rspr., vgl.  - Rn. 15, ZTR 2010, 361; - 10 AZR 658/07 - Rn. 17, AP BMT-G II § 67 Nr. 4) belegt die Anwendung der von der Beklagten gewählten Berechnungsmethode.

12Danach werden in Zeit umgewandelt die „nach den vorstehenden Sätzen zu zahlenden Zeitzuschläge“. Bei diesen handelt es sich nicht um einen bestimmten Prozentsatz des individuellen (Stunden-)Entgelts des Beschäftigten, sondern um einen bestimmten Prozentsatz des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der Stufe 1 der Entgeltgruppe des Beschäftigten (§ 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW). Dieser sich ergebende Geldbetrag ist „im Verhältnis 1:1“ in Zeit umzuwandeln. Die Formulierung „im Verhältnis 1:1“ belegt, dass die nach § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW als Ergebnis der Berechnung zu gewinnende Zeit ihrem Wert nach dem sich aus § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 TV-N NW errechneten Geldbetrag entsprechen soll. Andernfalls wäre dieser Zusatz überflüssig. Die Umrechnung von Geld in Zeit im Verhältnis 1:1 erfordert es, den gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 TV-N NW ermittelten Geldbetrag (als zu zahlende Zeitzuschläge iSd. § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW) ins Verhältnis zu setzen zu dem individuellen Entgelt des Beschäftigten, weil sich nur so der Wert ermitteln lässt, den der Geldbetrag „Zeitzuschlag“ für den jeweiligen Beschäftigten in bezahlter Zeit hat. Hätten die Tarifvertragsparteien übereinstimmend eine Umwandlung des Geldbetrags „Zeitzuschlag“ in Zeit nur auf der Grundlage der in § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW aufgeführten Prozentsätze gewollt, hätte es dieser Regelung gar nicht bedurft. Vielmehr hätte es genügt, in § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW wie in § 8 Abs. 1 Satz 4 TV-L und § 8 Abs. 1 Satz 4 TVöD zu formulieren. Dort heißt es, dass die zu zahlenden Zeitzuschläge „entsprechend dem jeweiligen Vomhundertsatz einer Stunde in Zeit umgewandelt (faktorisiert)“ werden.

132. Gegen eine Auslegung in dem vom Kläger gewünschten Sinne spricht darüber hinaus der Tarifzusammenhang.

14a) Die Tarifvertragsparteien haben in § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW den Ausgleich für Sonderformen der Arbeitszeit vom individuellen Tabellenentgelt nach den §§ 6, 7 TV-N NW abgekoppelt und auf eine eigenständige Bemessungsgrundlage gestellt. Die Beschäftigten erhalten für Sonderformen der Arbeitszeit nicht einen Zuschlag in Form eines prozentualen Anteils an ihrem individuellen Tabellenentgelt, sondern einen bestimmten Prozentsatz des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der Stufe 1 ihrer jeweiligen Entgeltgruppe. Damit erhält jeder Beschäftigte für zuschlagspflichtige Arbeitszeiten innerhalb seiner Entgeltgruppe Zeitzuschläge in betragsmäßig gleicher Höhe. Diese systematische Entkoppelung des Zeitzuschlags von dem individuellen Tabellenentgelt setzt sich bei der Umwandlung der Zeitzuschläge in Zeit fort. Es fehlt an einer eigenständigen Regelung der Umwandlung, die unmittelbar auf die bestimmten Prozentsätze der geleisteten zuschlagspflichtigen Arbeitszeit abstellen würde.

15b) Die Tarifvertragsparteien haben die Umwandlung der Zeitzuschläge in dem Arbeitszeitkonto zuzuführende Zeit in § 11 Abs. 1 Satz 5 TV-N NW mittelbar privilegiert, indem sie die als Geldbetrag zu zahlenden Zeitzuschläge nach § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW um jeweils zehn Prozentpunkte verringern, wenn sich der Arbeitnehmer für die Abgeltung (also die Auszahlung) entscheidet. Diese Privilegierung um zehn Prozentpunkte entspricht der in § 9 Abs. 4 TV-N NW vorgesehenen Bevorzugung des Zeit- gegenüber dem Geldausgleich bei der durch Betriebsvereinbarung möglichen Einrichtung eines wöchentlichen zuschlagsfreien Arbeitszeitkorridors von bis zu 45 Stunden. Werden die im Rahmen eines Arbeitszeitkorridors geleisteten zusätzlichen Stunden nicht bis zum Ende von acht Kalenderwochen nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens ausgeglichen, werden sie nach Wahl des Arbeitnehmers „im Verhältnis 1:1,3 in Zeit umgewandelt und dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben oder im Verhältnis 1:1,2 bezahlt“. Dagegen finden sich im Tarifvertrag keine Anhaltspunkte, dass der Zeitausgleich nach § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW über § 11 Abs. 1 Satz 5 TV-N NW hinaus durch eine nur an den Prozentsätzen des § 11 Abs. 1 Satz 2 TV-N NW orientierte Berechnungsmethode nochmals privilegiert werden sollte.

16c) Schließlich heißt es in der Regelung zum Arbeitszeitkonto in § 12 Abs. 2 Satz 1 TV-N NW, auf das Arbeitszeitkonto könnten ua. „im Verhältnis 1:1 in Zeit faktorisierte Entgelte“ gebucht werden, was wiederum darauf hinweist, dass die dem Arbeitszeitkonto zuzuführende Zeit wertmäßig dem Geldbetrag „Zeitzuschlag“ entsprechen muss.

173. Für die Auslegung des § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW sind die vom Arbeitsgericht eingeholten Auskünfte der Tarifvertragsparteien unergiebig, denn das Landesarbeitsgericht hat ihnen zu Recht einen übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien nicht entnehmen können. Keine verwertbaren Auslegungskriterien sind die vom Kläger vorgetragene frühere Praxis der Beklagten und die Handhabung anderer tarifgebundener Nahverkehrsunternehmen. Die Auslegung einer Tarifnorm soll deren Inhalt und den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien ermitteln. Wie einzelne oder mehrere Tarifunterworfene die Tarifnorm verstehen, ist dafür ohne Belang.

18III. § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW hält einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG stand.

191. Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung den allgemeinen Gleichheitssatz zu beachten. Eine zumindest mittelbare Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich jedenfalls aus der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte. Das führt bei der gerichtlichen Kontrolle der Vereinbarkeit von Tarifbestimmungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu anderen Prüfungsmaßstäben als bei einer unmittelbaren Grundrechtsbindung ( - Rn. 21, AP BAT § 71 Nr. 3; - 5 AZR 228/05 - zu I 3 c aa der Gründe, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 34 = EzA EntgeltfortzG § 3 Nr. 15 im Anschluss an - 6 AZR 129/03 - zu B II 3 der Gründe, BAGE 111, 8). Den Tarifvertragsparteien steht ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie brauchen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung zu wählen, vielmehr genügt es, wenn sich für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund ergibt ( - zu C III 1 der Gründe, BVerfGE 71, 39;  - zu V 2 der Gründe, AP BAT § 34 Nr. 10). Der Gleichheitssatz wird allerdings durch eine Tarifnorm verletzt, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen.

202. Der Zeitzuschlag, den der Kläger für Sonderformen der Arbeitszeit als Entgelt oder als dem Arbeitszeitkonto zuzuführende Zeit erhält, ist zwar geringer als derjenige eines Beschäftigten seiner Entgeltgruppe mit niedrigerer Stufe, jedoch höher als derjenige eines Beschäftigten seiner Entgeltgruppe in Stufe 6. Es steht den Tarifvertragsparteien aber frei, ob und in welcher Höhe sie neben dem Entgelt für besondere Erschwernisse einen Zuschlag gewähren wollen (vgl.  - Rn. 20 ff., AP GG Art. 3 Nr. 320). Aufgrund ihres weiten Gestaltungsspielraums sind sie dabei nicht verpflichtet, derartige Zuschläge in Form zusätzlichen Entgelts oder in Form bezahlter Freizeit wertmäßig an das individuelle Entgelt der Beschäftigten zu knüpfen.

21IV. § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW verstößt weder gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG noch gegen das unionsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, das als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen ist, jetzt in Art. 21 Abs. 1 GRC ausdrücklich genannt und durch die Richtlinie 2000/78/EG konkretisiert wird ( - [Kücükdeveci] Rn. 20 ff., AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 = EzA Richtlinie 2000/78 EG-Vertrag 1999 Nr. 14; - C-388/07 - [Age Concern England] Slg. 2009, I-1569; - C-411/05 - [Palacios de la Villa] Slg. 2007, I-8531; - C-144/0 - [Mangold] Slg. 2005, I-9981). Anwendungsbereich, Inhalt und Reichweite des unionsrechtlichen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters sind durch den Gerichtshof der Europäischen Union in nunmehr ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt - C-499/08 - [Andersen] und - C-45/09 - [Rosenbladt] DB 2010, 2339 jeweils mwN) geklärt. Einer Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV bedarf es deshalb nicht.

22Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen des Alters festzustellen. Den nach dieser Rechtsprechung zu beachtenden Anforderungen genügt § 11 Abs. 1 Satz 4 TV-N NW. Bei der Umwandlung des Zeitzuschlags in Zeit erfährt kein Arbeitnehmer wegen seines Alters eine weniger günstige Behandlung als ein anderer Arbeitnehmer in vergleichbarer Situation. Die Umwandlung des Zeitzuschlags erfolgt unabhängig vom Alter der Arbeitnehmer und beeinträchtigt Arbeitnehmer eines bestimmten Alters nicht gegenüber Arbeitnehmern anderen Alters. Der geringere Zeitausgleich für besserverdienende Arbeitnehmer innerhalb einer Entgeltgruppe beruht weder unmittelbar noch mittelbar auf deren Alter, sondern ist Folge der von der individuellen Vergütung abgekoppelten Pauschalierung des Ausgleichs für Sonderformen der Arbeitszeit. Die Eingruppierung in eine Entgeltgruppe knüpft nicht an das Alter, sondern die überwiegend auszuübende Tätigkeit an (§ 6 Abs. 1 TV-N NW), die Stufenzuordnung innerhalb einer Entgeltgruppe richtet sich ebenfalls nicht nach dem Alter, sondern nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Verweildauer in einer Stufe, wobei Letztere bei erheblich überdurchschnittlichen Leistungen verkürzt, bei erheblich unterdurchschnittlichen Leistungen verlängert werden kann, § 6 Abs. 3 TV-N NW. Zudem erlaubt diese Tarifnorm bei der Stufenfindung im Einzelfall die Berücksichtigung „förderlicher Zeiten“ und damit die Anrechnung von Vordienstzeiten. Wird weiterhin das Fehlen jeder tarifvertraglichen Regelung eines Mindest- oder Höchstalters für die Einstellung der unter den persönlichen Geltungsbereich des TV-N NW fallenden Beschäftigten berücksichtigt, besteht keine notwendige Korrelation zwischen Entgeltstufe und Lebensalter des Beschäftigten. Somit sind nach den der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen keine Indizien für eine auch nur mittelbare Diskriminierung wegen des Alters gegeben (vgl. zur Darlegungslast bei mittelbarer Diskriminierung  - [Cadman] Rn. 37 f., Slg. 2006, I-9583).

V. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

Fundstelle(n):
TAAAD-57893