(Sozialgerichtliches Verfahren - Zulassung der Revision - Nichtbeachtung der Bindungswirkung nach § 170 Abs 5 SGG)
Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 170 Abs 5 SGG
Instanzenzug: SG Stade Az: S 1 KR 156/01 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 4 KR 94/06 Beschluss
Gründe
1I. Der im Juli 1978 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger leidet an Zerebralparese mit Bewegungsstörungen seit Geburt im Sinne einer spastischen Tetraplegie und einer massiven statomotorischen Retardierung. Er ließ sich seit 1993 regelmäßig in dem von dem Neurologen und Chirotherapeuten Prof. Dr. Kozijavkin geleiteten Institut in der Ukraine behandeln. Dessen Therapiekonzept, das er selbst "System der intensiven neurophysiologischen Rehabilitation (SINR)" nennt (im Folgenden "Methode Kozijavkin"), besteht in einer sogenannten multimodalen Behandlung. Anträge für die Erteilung von Kostenzusagen für Behandlungen vom 19.9. bis , 10. bis , 28.9. bis , 20.3. bis und vom 25.3. bis lehnte die Beklagte jeweils ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ; Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ; Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ; Bescheide vom und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ). Das SG hat die dagegen erhobenen Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter Abweisung der weitergehenden Klage die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide dazu verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (Urteil vom ). Auf die Sprungrevision der Beklagten hat das BSG das SG-Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen-Bremen zurückverwiesen (Urteil vom - B 1 KR 6/05 R -). Es hat ausgeführt, das über den vom Kläger erhobenen Anspruch ohne weitere Sachaufklärung nicht entschieden werden kann. Das LSG hat ohne weitere Beweiserhebung die Klage abgewiesen ().
2Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger nunmehr gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Beschluss. Er rügt die Verletzung der Bindung an die Beurteilung des BSG (§ 170 Abs 5 SGG).
3II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.
41. Dem LSG-Beschluss liegt ein Verfahrensfehler zugrunde (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gerügt hat. Der Kläger beruft sich darauf, dass das LSG die Bindung missachtet habe, der ein Gericht unterliegt, an das eine Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung vom BSG zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 5 SGG). Die Nichtbeachtung der Bindungswirkung ist ein die Revisionszulassung rechtfertigender Verfahrensfehler (vgl BSG SozR 3-3900 § 15 Nr 4).
5Der LSG-Beschluss kann auch auf der Verletzung des gerügten Verfahrensfehlers beruhen. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger beruft sich darauf, dass das LSG nach der Zurückverweisung durch das BSG Beweis nach Maßgabe des BSG-Urteils hätte erheben müssen, dies aber unterlassen hat. Insoweit hat der Kläger ausreichend dargelegt, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann.
6Der von dem Kläger gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Während das BSG geurteilt hat, dass über den vom 1978 geborenen Kläger erhobenen Anspruch nicht ohne weitere - im Einzelnen näher umschriebene - Sachaufklärung entschieden werden kann (vgl - RdNr 2, 11), hat das LSG tatsächlich ohne die ihm aufgegebenen, hinsichtlich ihres Ergebnisses offenen Ermittlungsmaßnahmen die Klage abgewiesen. Dabei hat es sich auf vom BSG abweichende Rechtsansichten gestützt, für die in den Fällen des § 170 Abs 5 SGG kein Raum ist. Das LSG hat nämlich ausgeführt, nach seiner eigenen Rechtsprechung gebe es keine Erstattungspflicht für Versicherte, "die die Erwachsenengrenze (heute 18, früher 21 Jahre) eindeutig überschreiten". Das kollidiert ersichtlich mit der für das LSG maßgeblichen rechtlichen Beurteilung des Revisionsgerichts.
72. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Dies ist - wie ausgeführt - hier der Fall. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Er verweist den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des LSG Niedersachsen-Bremen zurück (§ 202 SGG iVm § 563 Abs 1 Satz 2 ZPO), da das Vertrauen des Klägers auf ein faires Verfahren vor dem bereits mit der Sache befassten Spruchkörper des LSG durch die Missachtung der Bindungswirkung des § 170 Abs 5 SGG nachhaltig erschüttert ist; es bestehen ernstliche Zweifel daran, dass der Spruchkörper des LSG nach einer zweiten Zurückverweisung an ihn auf der Grundlage des vom BSG verbindlich ausgelegten Bundesrechts in einem Folgeverfahren abschließend entscheiden wird, ohne dass von einem Beteiligten erneut das Revisionsgericht wegen prozessverzögernder Missachtung der Bindungswirkung angerufen werden muss (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 170 Nr 2 RdNr 79 mwN).
8Der 4. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen hat nach Eingang der zurückverwiesenen Sache im März 2006 keine der ihm bindend aufgegebenen Ermittlungen vorgenommen und erstmals mit Schreiben an den Kläger vom unter Hinweis auf eine angeblich bestehende "grundsätzliche Kontroverse zwischen dem BSG und dem 4. LSG-Senat" gemeint, mit Blick auf das Lebensalter des Klägers eigener, vom BSG abweichender Rechtsprechung folgen zu können. An dieser Ankündigung hat der LSG-Senat festgehalten, obwohl er die Vorgaben des erkennenden BSG-Senats im ersten Zurückverweisungsurteil zutreffend verstanden hat und der Prozessbevollmächtigte des Klägers das LSG umgehend darauf hingewiesen hat, dass seine beabsichtigte Vorgehensweise gegen § 170 Abs 5 SGG verstößt und aufgrund erneuter Revision zur erneuten Zurückverweisung führen werde. Offensichtlich geht der 4. LSG-Senat dennoch davon aus, ihm stehe es trotz der Bindungswirkung des § 170 Abs 5 SGG frei, sich auf eigene, abweichende Rechtsauffassungen zu stützen. Dies trifft indes nicht zu.
93. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:280910BB1KR4610B0
Fundstelle(n):
DAAAD-55136