BSG Beschluss v. - B 9 SB 19/09 B

Leitsatz

Leitsatz:

Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 SGG in der bis zum geltenden Fassung findet nicht nur auf einen den angefochtenen Verwaltungsakt ändernden oder ersetzenden sog. Zugunstenbescheid Anwendung, sondern auch auf einen Bescheid, mit dem es ein Träger hoheitlicher Verwaltung während eines Gerichtsverfahrens ablehnt, den im gerichtlichen Verfahren angefochtenen Verwaltungsakt nach § 44 SGB X zurückzunehmen. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Instanzenzug: LSG Bayern, L 15 SB 133 /08 vom SG München, S 14 SB 224/08 vom

Gründe

I

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".

Durch Änderungsbescheid vom hat der beklagte Freistaat den GdB des Klägers mit 70 festgestellt (zuvor 40) und den Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" abgelehnt. Den - verfristet - eingelegten Widerspruch des Klägers hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom zurückgewiesen. Dagegen hat der Kläger am Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben.

Mit Bescheid vom , abgesandt am , hat der Beklagte einen auf § 44 SGB X gestützten Antrag des Klägers auf Rücknahme des Bescheides vom abgelehnt. Dagegen hat der Kläger am - vorsorglich - Widerspruch eingelegt.

Durch Gerichtsbescheid vom hat das SG die Klage abgewiesen. Der Beklagte habe den Widerspruch des Klägers zu Recht als unzulässig behandelt. Der Überprüfungsantrag und der Bescheid vom seien nicht Gegenstand des "Widerspruchsverfahrens" gegen den Bescheid vom geworden. Im Berufungsverfahren hat der Kläger ausdrücklich beantragt, neben dem angefochtenen Bescheid auch den "gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Klagverfahrens gewordenen Bescheides vom aufzuheben" und die begehrten Feststellungen zu treffen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils des SG Bezug genommen.

Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel eine Verletzung des § 96 SGG.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist begründet. Die gerügte Verletzung des § 96 SGG in der Fassung bis zum (aF) liegt vor. Sie führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit darin nicht über den Bescheid des Beklagten vom entschieden worden ist, und zur Zurückverweisung der Sache in diesem Umfang an das LSG.

Entgegen der Begründung des SG, auf die das angefochtene Urteil Bezug genommen hat, ist im vorliegenden Verfahren nicht § 86 sondern § 96 SGG betroffen, denn bei Zugang des Bescheides vom (Absendung am ) war das Klageverfahren gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom bereits seit dem anhängig. Anzuwenden ist § 96 SGG aF, weil sowohl der Erlass des Bescheides vom als auch die nach § 96 SGG aF vorausgesetzte Klageerhebung während seiner Geltung stattgefunden haben.

Nach § 96 SGG Abs 1 aF wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens, wenn der angefochtene Verwaltungsakt nach Klageerhebung durch den neuen abgeändert oder ersetzt wird. Nach der zu § 96 SGG aF ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) findet diese Vorschrift nicht nur auf einen den angefochtenen Verwaltungsakt ändernden oder ersetzenden sog Zugunstenbescheid Anwendung, sondern auch auf einen Bescheid, mit dem es ein Träger hoheitlicher Verwaltung während eines Gerichtsverfahrens ablehnt, den im gerichtlichen Verfahren angefochtenen Verwaltungsakt nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Diese den Anwendungsbereich des § 96 SGG aF erweiternde Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass nur so vermieden werden könne, dass - durch welcherart Vorgehen auch immer - über denselben Streitgegenstand mehrere gerichtliche Verfahren nebeneinander geführt werden ( - RV 2005, 150; 14b/4 REg 12/90 - USK 9286, s auch -). So liegt es auch hier, denn der Beklagte hat es mit dem Bescheid vom , abgesandt am , abgelehnt, den bereits mit der Klage angefochtenen Bescheid vom mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X).

Zwar ist § 96 SGG (durch Gesetz vom , BGBl I 444) zum dahin geändert worden, dass ein nach Klageerhebung ergangener neuer Verwaltungsakt "nur dann" Gegenstand des Klageverfahrens wird, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Danach wäre der Bescheid vom nicht Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG geworden (zweifelnd Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 96 RdNr 4b). Diese Vorschrift ist jedoch erst auf Verwaltungsakte anwendbar, die nach ihrem Inkrafttreten ergangen sind. Die - wie hier - bereits nach § 96 SGG aF erfolgte Einbeziehung eines Verwaltungsakts bleibt von der gesetzlichen Neufassung unberührt (Binder in Lüdtke, Hk-SGG, 3. Aufl 2009, § 96 RdNr 15).

Da das LSG über den Bescheid vom und damit über den Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 70 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" hätte entscheiden müssen, handelt es sich um einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 erster Halbsatz SGG; BSGE 4, 24, 26).

Damit ist § 160a Abs 5 SGG anwendbar. Danach kann das BSG, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 vorliegen, in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dabei beschränkt er, entsprechend dem in der Beschwerdebegründung zum Ausdruck gekommenen Rechtsschutzziel des Klägers, die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung auf die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die sich gegen den zu Unrecht nicht in das gerichtliche Verfahren einbezogenen Bescheid vom richtet. Es handelt sich dabei um einen von der Anfechtung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom abgrenzbaren prozessualen Anspruch des Klägers (Streitgegenstand).

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde zu entscheiden haben.

Fundstelle(n):
HAAAD-53036