Rentenberechnung - Gesamtleistungsbewertung - belegungsfähiger Gesamtzeitraum - Berücksichtigung von Schulzeiten - Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz
Im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung ist der belegungsfähige Gesamtzeitraum nur um solche Zeiten einer schulischen Ausbildung zu kürzen, die die gesetzliche Höchstdauer nicht überschreiten (Aufgabe von = SozR 4-2600 § 71 Nr 1).
Gesetze: § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 6 vom , § 54 Abs 1 Nr 2 SGB 6, § 54 Abs 4 SGB 6, § 72 Abs 3 Nr 1 SGB 6, § 74 S 3 SGB 6 vom , § 252 Abs 4 SGB 6 vom , § 207 SGB 6, WFG, Art 14 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Gießen Az: S 6 KN 533/01 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 5 R 3/05 KN Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Bemessung der Altersrente des Klägers. Insofern geht es zuletzt allein noch um die Frage, ob ein kürzerer belegungsfähiger Gesamtzeitraum zu Grunde zu legen und daher beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten höher zu bewerten sind.
2Der am 1939 im heutigen Polen geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und im Besitz des Ausweises für Flüchtlinge und Vertriebene "A".
3Nach der Übersiedlung des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland im November 1983 bewilligte die Beklagte Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit. Die vom Kläger in Polen zurückgelegten Beschäftigungszeiten wurden dabei nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom (Abk Polen RV/UV, BGBl II 1976 S 396) in die deutsche gesetzliche Rentenversicherung übernommen. 1988 wurde die Rente des Klägers in eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) auf Dauer umgewandelt. Im dazu erstellten Versicherungsverlauf wurden ua 14 Monate Fachschulausbildung vom bis und 59 Monate Hochschulausbildung vom bis aufgeführt.
4Auf den entsprechenden Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom für die Zeit ab dem eine Altersrente für Schwerbehinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige. Die in Polen zurückgelegten Beitragszeiten des Klägers wurden wiederum nach dem Abk Polen RV/UV berücksichtigt. Die Zeit der Fachschulausbildung wurde erst ab Vollendung des 17. Lebensjahres, dh ab 1956, angerechnet. Von den Zeiten der schulischen Ausbildung des Klägers wurden bei der Rentenbemessung insgesamt 46 Monate berücksichtigt und vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abgezogen. Die von den Vorinstanzen unterstellten drei bzw acht Jahre finden im angefochtenen Bescheid keine Grundlage.
5Den Widerspruch des Klägers, mit dem dieser geltend machte, die ihm nunmehr bewilligte Altersrente sei lediglich um 12,5 % höher als die vorherige BU-Rente, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom zurück. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - Gießen vom und des Hessischen Landessozialgerichts - LSG - vom ). Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, nach den zutreffenden Ausführungen des SG könnten seit der Rentenreform 1992 Zeiten der Fachschulausbildung und Hochschulausbildung gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) nur noch nach vollendetem 17. Lebensjahr und nur noch im Gesamtumfang von bis zu acht Jahren berücksichtigt werden.
6Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von §§ 58, 64 und 72 SGB VI. Die ihm gewährte Rente sei zu niedrig bemessen worden, weil im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung nach § 72 SGB VI die Zeit der Hochschulausbildung vom bis zum (33 Monate) entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ( - SozR 4-2600 § 71 Nr 1) nicht als beitragsfreie Zeit vom belegungsfähigen Zeitraum abgezogen worden sei. Das Gesetz setze nicht voraus, dass die beitragsfreien Zeiten auch anrechenbar und bewertbar seien. Die Vorgehensweise der Beklagten habe zu einer um 2,2882 Entgeltpunkte (EP) zu niedrigen Berechnungsgrundlage für seine Rente iS des § 64 SGB VI geführt.
7Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom und des Sozialgerichts Gießen vom abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom zu verurteilen, dem Kläger ab dem höhere Altersrente unter Berücksichtigung eines um zusätzliche Ausbildungszeiten verminderten belegungsfähigen Gesamtzeitraums zu zahlen.
8Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das vom Kläger angeführte Urteil des BSG widerspreche der bestehenden Rechtslage. Vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum seien nach § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI beitragsfreie Zeiten abzuziehen, die nicht auch Berücksichtigungszeiten seien. Für beitragsfreie Zeiten enthalte § 54 Abs 4 SGB VI eine Legaldefinition; unter anderem seien dies Anrechnungszeiten. Hierunter fielen gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI nur Schulzeiten nach Vollendung des 17. Lebensjahres und nur bis zu einer Höchstdauer von drei Jahren. Die diese Höchstdauer überschreitenden Zeiten seien bei der Gesamtleistungsbewertung wie Lücken zu behandeln. Dies werde durch die Vorschrift des § 207 SGB VI bestätigt, wonach die entstehenden Lücken durch freiwillige Beiträge geschlossen werden könnten, was bei fehlender Anwendung der Höchstdauerregelung ohne Anwendungsbereich wäre. Eine Aufhebung der Höchstdauerregelung würde auch in anderen Bereichen unerwünschte Auswirkungen haben, etwa bei der Erfüllung von Wartezeiten oder der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen.
Gründe
12Die Revision ist unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger höhere Altersrente nach den hier maßgeblichen Vorschriften des SGB VI in der Fassung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom (WFG - BGBl I 1461) zu bewilligen.
14Dem folgt der erkennende 5. Senat nach Anfrage bei und in Übereinstimmung mit dem 13. Senat des BSG, der neben dem erkennenden Senat aufgrund einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans ab die Zuständigkeit des 4. Senats des BSG für die allgemeine Rentenversicherung übernommen hat, nicht (Anfragebeschluss des 5. Senats vom nach § 41 Abs 3 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>, Antwortbeschluss des 13. Senats vom - B 13 R 6/09 S). Der belegungsfähige Gesamtzeitraum ist zugunsten des Versicherten nur um solche Ausbildungszeiten zu kürzen, die die gesetzliche Höchstdauer nicht überschreiten. Denn die Höchstdauerbegrenzung ist Teil der Begriffsdefinition - bzw anknüpfend an die Terminologie des 4. Senats des BSG Tatbestandsvoraussetzung - der Anrechnungszeit und regelt nicht lediglich deren Anrechnung und Bewertung. Folglich ist nur die im Rahmen der gesetzlichen Höchstdauer liegende Ausbildungszeit, eine beitragsfreie und damit nicht belegungsfähige Zeit iS von § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI, die von dem (belegungsfähigen) Gesamtzeitraum abzuziehen ist. Im Einzelnen:
15Der Monatsbetrag der Rente errechnet sich nach § 64 SGB VI durch die Multiplikation der unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, des Rentenartfaktors und des aktuellen Rentenwerts, wobei der Wert dieser Faktoren bei Beginn der Rente zugrunde zu legen ist. Der Kläger beanstandet ausschließlich die Ermittlung der EP für beitragslose bzw beitragsgeminderte Zeiten. § 72 und § 73 SGB VI regeln deren Grund- bzw Vergleichsbewertung, die sich im hier wesentlichen Punkt nicht unterscheiden; § 72 Abs 1 SGB VI legt die Berechnungsformel (Summe der EP für Beitragszeiten und Berücksichtigungszeiten dividiert durch die Anzahl der belegungsfähigen Monate) fest, Abs 2 bestimmt den belegungsfähigen Gesamtzeitraum, der um die in Abs 3 genannten Zeiten zu kürzen ist, § 73 enthält die Modifikationen für die Vergleichsbewertung. Durch diese Rechenoperationen wird ermittelt, in welcher Gesamtzeit der Versicherte seine auf Beschäftigung und gleichgestellten Zeiten beruhenden EP erwirtschaftet hat; der sich daraus ergebende (höhere) Durchschnittswert (EP pro Monat) ist nach § 71 Abs 1 Satz 2 SGB VI vorbehaltlich der Einschränkung des § 74 SGB VI als Mindestwert für die beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten einzusetzen. Dieser Durchschnittswert ist umso niedriger, je länger der Versicherte benötigt hat, um die zu berücksichtigenden EP zu erzielen, dh ein längerer Gesamtzeitraum mit infolgedessen geringerer Beitragsdichte führt zu einer niedrigeren Bewertung der beitragsfreien Zeiten als ein kürzerer Gesamtzeitraum mit derselben Anzahl von EP und deshalb höherer Beitragsdichte. Wären entgegen der Berechnungsweise der Beklagten im angefochtenen Bescheid weitere Zeiten vom Gesamtbelegungszeitraum abzuziehen, würden sich wegen des dadurch höheren Durchschnittswerts die für die beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten errechneten EP und somit auch der monatliche Rentenbetrag erhöhen. Die Berechnungsweise der Beklagten entspricht jedoch dem Gesetz.
16Nach § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI ist der belegungsfähige Gesamtzeitraum zugunsten des Versicherten unter anderem um beitragsfreie Zeiten zu kürzen, die nicht auch Berücksichtigungszeiten sind. Ob die Zeiten der schulischen Ausbildung des Klägers vom bis zum , wie von diesem gefordert, beitragsfreie Zeiten im Sinne der genannten Vorschrift und deshalb vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abzuziehen sind, ergibt sich aus § 72 SGB VI nicht direkt, da dieser keine Definition der beitragsfreien Zeiten enthält. Beitragsfreie Zeiten sind jedoch in § 54 Abs 4 SGB VI definiert als Kalendermonate, die mit Anrechnungszeiten, mit einer Zurechnungszeit oder mit Ersatzzeiten belegt sind, wenn für sie nicht auch Beiträge gezahlt wurden. Vorliegend kommen nur Anrechnungszeiten in Betracht. Diese sind in § 58 SGB VI definiert, wobei die Norm hier in der durch das WFG geänderten und bis zum geltenden Fassung anzuwenden ist, weil der Anspruch auf Altersrente am entstanden ist (§ 306 Abs 1 SGB VI).
17Bedenken, den Begriff der beitragsfreien Zeit iS von § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI unter Heranziehung des § 54 Abs 4 iVm § 58 SGB VI auszulegen, bestehen nicht. Zwar sind §§ 54 und 58 SGB VI im zweiten Unterabschnitt, zweiter Abschnitt des zweiten Kapitels verortet, der die "Anspruchsvoraussetzungen für einzelne Renten" regelt, während § 72 SGB VI dem dritten Unterabschnitt, zweiter Abschnitt des zweiten Kapitels "Rentenhöhe und Rentenanpassung" zugeordnet ist. § 54 Abs 4 und § 58 SGB VI enthalten aber allgemeingültige Inhaltsvorgaben der von ihnen aufgeführten rentenrechtlichen Zeiten. Nehmen andere Vorschriften des SGB VI auf den Begriff der beitragsfreien Zeiten Bezug, übernehmen sie diesen im Sinne der gesetzlichen Definitionen. Anderenfalls wäre ein aufeinander abgestimmtes, schlüssiges und damit funktionierendes Normgefüge des SGB VI nicht vorhanden.
18Nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI idF des WFG sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu drei Jahren oder 36 Monaten. Für einen Rentenbeginn zwischen 1997 und 2000 erhöht § 252 Abs 4 SGB VI iVm Anlage 18 diese Höchstgrenze übergangsrechtlich.
19Die über die Höchstgrenze hinausgehenden Zeiten der schulischen Ausbildung sind keine Anrechnungszeit, denn sie erfüllen nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI, und sind daher nicht gemäß § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abzuziehen (vgl auch Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 72 RdNr 20, Stand 4/2002; Dankelmann in jurisPK SGB VI, § 72 RdNr 53, Stand 1/2008).
20Bereits der Wortlaut des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI lässt erkennen, dass die Höchstdauerbegrenzung Teil der Begriffsdefinition der Anrechnungszeit ist und nicht zusätzlich die Berücksichtigung von tatbestandlich vorliegenden Anrechnungszeiten regeln sollte. Die Vorschrift unterscheidet sprachlich nicht zwischen dem Vorliegen des Tatbestandes der Anrechnungszeiten einer schulischen Ausbildung und der Frage ihrer Berücksichtigung, vielmehr schließt sich die zeitliche Begrenzung ohne Bruch an die ersten beiden Satzteile ("Anrechnungszeiten sind Zeiten, in denen Versicherte …") an und bezieht sich auf diese. In der Aussagequalität besteht kein Unterschied zwischen der in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI vorgeschriebenen Höchstdauer und der Begrenzung auf den Zeitraum nach Vollendung des 17. Lebensjahres, welche allgemein als tatbestandliche Voraussetzung für das Vorliegen einer Anrechnungszeit angesehen wird (vgl zur aktuellen Fassung nur Löns in Kreikebohm, SGB VI, 3. Aufl 2008, § 58 RdNr 37; Klattenhoff in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 58 RdNr 89, Stand 2/2005; Niesel in KasselerKomm, § 58 SGB VI RdNr 40, Stand 1/2002).
21Systematische Erwägungen sprechen ebenfalls dafür, dass die Höchstdauerbegrenzung als tatbestandliche Voraussetzung einer Anrechnungszeit ausgestaltet ist.
22Dies ergibt sich zum einen aus § 252 Abs 4 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung des WFG. § 252 Abs 4 SGB VI enthält eine Erweiterung der in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI enthaltenen Definition und bestimmt für eine Übergangszeit, dass auch weitere, über die Höchstdauerbegrenzung hinausgehende Zeiten unter bestimmten Voraussetzungen Anrechnungszeiten "sind". Wäre tatsächlich die in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI in der Fassung des WFG festgelegte Höchstdauer nicht Tatbestandsvoraussetzung einer Anrechnungszeit, hätte die Übergangsvorschrift lediglich bestimmen müssen, dass die in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI bereits definierte Anrechnungszeit vorübergehend bis zu einer höheren Obergrenze zu berücksichtigen und zu bewerten sei. Dies ergibt sich aber aus dem insofern eindeutigen Wortlaut nicht. Wenn die Höchstdauerbegrenzung eine bloße Anrechnungsregel über die Berücksichtigung von Anrechnungszeiten und kein Tatbestandsmerkmal wäre, hätte § 252 Abs 4 SGB VI dies zum Ausdruck bringen müssen.
23Vor allem aber verdeutlicht § 207 SGB VI, dass die Höchstdauerbegrenzung nicht nur eine bloße Bestimmung über die Berücksichtigung von Anrechnungszeiten war. § 207 SGB VI ist bereits zusammen mit der Vorschrift des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vom (RRG 1992, BGBl I 1989, 2261 - berichtigt BGBl I 1990, 1337) eingeführt worden und eröffnet für die Zeiten schulischer Ausbildung, die die Höchstdauer überschreiten, die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung. Zwar spricht die Regelung von Zeiten, die nicht "als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden", doch Sinn und Zweck des § 207 SGB VI ist zu entnehmen, dass die Anrechnungszeiten durch die Höchstdauerbestimmung bereits tatbestandsmäßig begrenzt sind.
24Durch die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung nach § 207 SGB VI wird der Versicherte in die Lage versetzt, die zum in Kraft getretene Kürzung der Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung von vorher bis zu 13 Jahren auf nur noch bis zu sieben Jahre zu kompensieren. In den Gesetzesmaterialien wird ausdrücklich darauf Bezug genommen, dass mit der Entrichtung freiwilliger Beiträge erheblichen Versorgungslücken begegnet werden könne, die sich insbesondere bei der Gesamtleistungsbewertung für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten negativ auswirken könnten, soweit sie nicht durch anderweitige rentenrechtliche Zeiten geschlossen würden (BT-Drucks 11/4124 S 192 zu § 202). Die Kompensationsmöglichkeit sollte demnach ausdrücklich gerade für die Gesamtleistungsbewertung Bedeutung erlangen. Dieses Normziel wäre indes nicht zu erreichen, wenn die Ausbildungszeit insgesamt unabhängig von ihrer Dauer Anrechnungszeit wäre und nach Überschreiten der Höchstdauer lediglich nicht berücksichtigt, dh etwa nicht in EP bewertet werden könnte. In diesem Fall wäre die gesamte Ausbildungszeit eine beitragsfreie und damit nicht belegungsfähige Zeit iS von § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI, die vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abzuziehen wäre. Negative Auswirkungen bei der Gesamtleistungsbewertung für beitragsfreie Zeiten könnten insoweit nicht entstehen. Damit wäre § 207 SGB VI zu einem großen Teil sinnentleert.
25Schließlich bestätigt auch die weitere Gesetzesentwicklung das hier vertretene Begriffsverständnis. § 74 Satz 3 SGB VI, eingefügt durch das Altersvermögensergänzungsgesetz vom (AVmEG - BGBl I 403), regelt ausdrücklich, in welchem Umfang Zeiten der schulischen Ausbildung bewertet werden, wobei der Bewertungszeitraum nicht mit der Höchstdauerbestimmung in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI identisch ist. Dies unterstreicht, dass die Höchstdauerbestimmung tatbestandliche und nicht Berechnungsvoraussetzung der Anrechnungszeit ist.
26Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI selbst lasse nicht erkennen, welche Zeiten bei einem Verständnis der Höchstdauerregel iS eines Tatbestandsmerkmals Anrechnungszeiten seien, weil er keine Regelung darüber treffe, in welcher Form die Höchstdauer zu berücksichtigen sei (vgl - SozR 4-2600 § 71 Nr 1 RdNr 34 ff). Hierzu kann ohne Schwierigkeit auf die Regelung des § 122 Abs 3 SGB VI zurückgegriffen werden (vgl zur aktuellen Fassung auch Bock/Huber, Mitteilungen der bayerischen Landesversicherungsanstalten 2005, 90), der für Zeiten, die nur bis zu einer Höchstdauer zu berücksichtigen sind, festlegt, dass die am weitesten zurückliegenden Kalendermonate zunächst zu berücksichtigen sind. Aus der Sicht des erkennenden Senats spricht nichts dagegen, diese Vorschrift auch auf die in der Höchstdauer begrenzten Anrechnungszeiten grundsätzlich zumindest entsprechend anzuwenden, ohne dass es hierzu einer abschließenden Entscheidung bedarf.
27Auch aus Sinn und Zweck des § 72 SGB VI und des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI ergibt sich nicht, dass die über die Höchstdauer hinausgehenden Zeiten schulischer Ausbildung bei der Gesamtleistungsbewertung vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abgezogen werden müssten.
28Es ist allerdings richtig, dass ein Versicherter mit besonders langen, die Höchstdauer deutlich überschreitenden Ausbildungszeiten nur wenige EP für seine bewertbaren Anrechnungszeiten erhält. Andererseits dient die Kürzung der Ausbildungszeiten gerade der Stärkung des Versicherungsprinzips und des Prinzips der Entgeltbezogenheit in der gesetzlichen Rentenversicherung. In deren Lichte erscheint es folgerichtig, dass derjenige Versicherte, der nach kurzer Ausbildung über einen längeren Zeitraum Beiträge eingezahlt hat, einen höheren Durchschnittswert für die Bewertung der beitragsfreien Zeiten erhält, als derjenige mit einer langen Ausbildung. Dies gilt umso mehr, als ein Versicherter mit höherer (und damit längerer) Ausbildung in späteren Jahren durchschnittlich einen höheren Verdienst erzielt und damit bei der Bewertung der beitragsfreien Zeiten ohnehin schon besser gestellt ist (vgl hierzu BT-Drucks 15/2149 S 19).
29Es spricht daher nichts dafür, dass nach Abschaffung der Halbbelegung und des Erfordernisses eines (Bildungs-)Abschlusses jegliche schulische Ausbildungszeit gemäß § 72 Abs 3 SGB VI vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abgezogen werden sollte. Mangels einer festgelegten Obergrenze hätten ansonsten selbst übermäßig lange und ggf erfolglose Ausbildungen bei der Gesamtleistungsbewertung keinen nachteiligen Einfluss auf die Bildung des Durchschnittswerts für beitragslose und beitragsgeminderte Zeiten, was der gesetzgeberischen Intention zuwiderlaufen würde.
30Gegen die Auslegung, dass schulische Ausbildungszeiten nur bis zur Höchstdauer des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI in der Fassung des WFG als beitragsfreie Zeiten iS des § 72 Abs 3 Nr 1 SGB VI anzusehen und vom belegungsfähigen Gesamtzeitraum abzuziehen sind, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
31Bei der Ausgestaltung und rentenrechtlichen Bewertung von Ausbildungszeiten hat der Gesetzgeber unabhängig von der Frage, ab welchem Zeitpunkt eine rentenversicherungsrechtliche Rechtsposition so verfestigt ist, dass sie durch Art 14 Abs 1 Grundgesetz (GG) geschützt ist, eine größere Gestaltungsfreiheit als bei auf Beiträgen beruhenden Berechnungsgrößen, weil diese Zeiten auf einem allgemeinen fürsorgerischen Gedanken beruhen (vgl BVerfGE 58, 81, 112 = SozR 2200 § 1255a Nr 7 S 12). Das mit der Verkürzung der Anrechnung schulischer Ausbildungszeiten auch verfolgte Ziel der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung (BT-Drucks 13/4610 S 1) ist von hoher Bedeutung und damit geeignet, die gemachten Einschränkungen zu rechtfertigen (BVerfGE 116, 96, 126 f = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 90). Ein besonderer Schutz für den Fall eines Rentenbeginns zwischen 1997 und 2000 wurde zudem durch die in § 252 Abs 4 SGB VI in der Fassung des WFG getroffene Übergangsregelung geschaffen. Allein aufgrund eines bestimmten Lebensalters ist ein gesteigerter Bestandsschutz verfassungsrechtlich nicht geboten (BVerfGE 117, 272, 294 ff = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 56 ff).
32Der Senat teilt bereits im Ansatz die Auffassung nicht, schulische Ausbildungszeiten unterlägen als notwendige Vorleistungen der gesetzlichen Renten iS von sog Produktivitätsrenten einem höheren verfassungsrechtlichen Schutz (vgl - SozR 4-2600 § 71 Nr 1 RdNr 40 ff; vgl auch Meyer/Blüggel, NZS 2005, 4 ff).
33Die Höhe der an den Einzelnen zu leistenden Rente ist nicht primär von seiner individuellen Produktivität, sondern vom erzielten versicherungspflichtigen Entgelt abhängig, aus dem sich die für ihn entrichteten Beiträge errechnen. Auch wenn es sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung nicht um ein kapitalgedecktes Verfahren mit den einzelnen Versicherten zuzuordnenden Beitragskonten handelt, sondern um ein Umlageverfahren, bestimmen doch die erzielten und durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte sowie Arbeitseinkommen im Wesentlichen die Rentenhöhe zu einem bestimmten Renteneintrittszeitpunkt im Verhältnis zu den anderen Versicherten mit demselben Renteneintrittszeitpunkt. Dies geschieht maßgeblich über das System der aufgrund der Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen errechneten persönlichen EP.
34Insofern erscheint es konsequent, die Ausbildung vorwiegend dem Bereich der Eigenverantwortung des Einzelnen zuzuordnen, deren Honorierung dem System der Rentenversicherung eher fremd ist, weil es grundsätzlich an den Eintritt in das Arbeitsleben anknüpft (BVerfGE 58, 81, 113 = SozR 2200 § 1255a Nr 7 S 13).
35Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:020310UB5KN107R1
Fundstelle(n):
SAAAD-45022