BFH Urteil v. - III R 85/07

Bindungswirkung eines Kindergeld-Aufhebungsbescheides

Leitsatz

Die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt oder auf 0 ? festgesetzt oder durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe. Allerdings ist es der Familienkasse unbenommen, in einem Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid eine hiervon abweichende zeitliche Regelung zu treffen.
Wird eine Kindergeldfestsetzung ab dem 1. Januar eines vorangegangenen Jahres unter Hinweis auf § 70 Abs. 4 EStG mit der Begründung aufgehoben, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes in diesem Jahr die maßgebliche Jahresgrenze überschritten haben, gilt die Aufhebung jedenfalls dann nur für dieses Jahr, wenn für die Zeit danach keine Änderungsvorschrift angegeben wird.
Ein Bescheid, durch den eine Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben wird, betrifft einen Prognosezeitraum und nicht darüber hinaus den Zeitraum bis zum Monat der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids.

Gesetze: AO § 119 Abs. 1, AO § 165, EStG § 32 Abs. 4, EStG § 70 Abs. 4, BGB § 133, BGB § 157

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog im Jahr 2004 Kindergeld für ihren Sohn D, der eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolvierte. Im März 2005 übermittelte sie der Beklagten, Revisionsbeklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) eine Lohnsteuerbescheinigung sowie eine Aufstellung der Werbungskosten, die D im Jahr 2004 aufgewandt hatte. Aus der Bescheinigung ergab sich ein Bruttoarbeitslohn von 10.238,81 €. Durch Bescheid vom hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes „mit Wirkung vom gemäß § 70 Abs. 4 EStG” auf. Sie wies darauf hin, dass eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern sei, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) über- oder unterschritten hätten. Sie war der Ansicht, die Einkünfte und Bezüge von D hätten sich im Jahr 2004 auf mehr als 7.680 € belaufen. Die Familienkasse forderte außerdem das für 2004 gezahlte Kindergeld von 1.848 € zurück. Die Klägerin legte gegen den Bescheid, der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, keinen Einspruch ein.

2 Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin die „Rückerstattung” des Kindergeldes für 2004. Sie verwies auf den (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach dem die Sozialversicherungsbeiträge eines nichtselbständig beschäftigten Kindes nicht in dessen Einkünfte und Bezüge einbezogen werden dürfen. Die Familienkasse behandelte den Rückerstattungsantrag als Antrag auf Zahlung von Kindergeld. Sie lehnte durch Bescheid vom eine Änderung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2004 bis April 2005 ab, da dem die Bestandskraft des Bescheids vom entgegenstehe, die bis zum Monat der Bekanntgabe reiche. Für die Zeit danach setzte sie Kindergeld fest. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.

3 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der die Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum Januar 2004 bis April 2005 begehrte, zum Teil statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für die Zeit von Januar 2005 bis April 2005 zu gewähren, im Übrigen (Jahr 2004) wies es die Klage ab (Urteil vom 14 K 5328/05 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1959). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Bescheid vom entfalte für das Jahr 2004 Bindungswirkung, nicht aber für die Monate Januar 2005 bis April 2005. In diesem Zeitraum hätten die Einkünfte und Bezüge von D den Grenzbetrag nach Abzug der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten. Die Familienkasse habe die Aufhebung der Festsetzung damit begründet, dass die Einkünfte und Bezüge von D im Jahr 2004 den Grenzbetrag überstiegen hätten. Die Klägerin habe den Bescheid dahin verstehen können, dass die Familienkasse die Festsetzung ausschließlich für das Jahr 2004 geprüft habe und nur für dieses Jahr die Festsetzung habe aufheben wollen.

4 Gegen das Urteil wenden sich beide Beteiligten mit der Revision. Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, § 70 Abs. 4 EStG sei im Streitfall im Wege der verfassungskonformen Auslegung anzuwenden, auch wenn der Aufhebungsbescheid vom erst nach Ablauf des Jahres 2004 ergangen sei. Die Ansicht des FG, die Vorschrift sei nur bei einer Abweichung der tatsächlichen Einkünfte und Bezüge von den prognostizierten einschlägig, werde durch den Wortlaut nicht gestützt.

5 Die Familienkasse führt zur Begründung der von ihr eingelegten Revision aus, der Bundesfinanzhof (BFH) habe mehrfach entschieden, dass die Bindungswirkung eines Aufhebungsbescheids mit dem Monat der Bekanntgabe ende.

6 Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Bescheid vom sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom insoweit aufzuheben, als sie das Jahr 2004 betreffen und die Familienkasse zu verpflichten, für dieses Jahr Kindergeld zu gewähren; außerdem beantragt sie, die Revision der Familienkasse zurückzuweisen.

7 Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als es den Zeitraum Januar 2005 bis April 2005 betrifft, sowie die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

8 II. Die Revisionen der Familienkasse und der Klägerin sind unbegründet und werden zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die (negative) Bindungswirkung des Aufhebungsbescheids vom das Jahr 2004 erfasst, nicht aber den Zeitraum Januar 2005 bis April 2005.

9 1. Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.

10 a) Der Aufhebungsbescheid der Familienkasse vom , mit dem diese die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben hat, weil nach ihrer Ansicht die Einkünfte und Bezüge von D im Jahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen, ist wirksam. Ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, und vom III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).

11 b) Der wirksame Bescheid ist bestandskräftig, da die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat. Die Bestandskraft wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG —wie im Streitfall— lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteile in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, sowie in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).

12 c) Eine Änderung des Aufhebungsbescheids vom zugunsten der Klägerin im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ist nicht möglich. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann ein Bescheid, durch den die Zahlung von Kindergeld abgelehnt oder durch den die Kindergeldfestsetzung aufgehoben worden ist, nicht geändert werden, da die Voraussetzungen für eine Korrektur weder nach den §§ 172 ff. AO noch nach § 70 EStG gegeben sind (Senatsurteile in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, sowie in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).

13 2. Die Revision der Familienkasse ist ebenfalls unbegründet. Zutreffend hat das FG den Aufhebungsbescheid dahin ausgelegt, dass die Kindergeldfestsetzung nur für das Jahr 2004 aufgehoben und darüber hinaus keine Regelung getroffen werden sollte.

14 a) Zwar erstreckt sich die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt oder auf 0 € (DM) festgesetzt oder durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (z.B. , BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88, und VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; Senatsurteil vom III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530). Allerdings ist es der Familienkasse unbenommen, in einem Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid eine hiervon abweichende zeitliche Regelung zu treffen.

15 b) Das FG hat den Inhalt des Bescheids vom zu Recht dahin ausgelegt, dass aus der Sicht der Klägerin nur für das Jahr 2004 eine Verwaltungsentscheidung ergehen sollte.

16 aa) Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Einem Verwaltungsakt muss der Regelungsinhalt eindeutig zu entnehmen sein (, BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung der Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu ermitteln. Entscheidend sind der erklärte Wille der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. , BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339; vom VIII R 10/05, BFHE 214, 18, BStBl II 2007, 96; vom II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). Bei der Auslegung ist nicht allein auf den Tenor des Bescheids abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der für den Bescheid gegebenen Begründung (BFH-Urteil in BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754, m.w.N.). Die Auslegung des Inhalts von Verwaltungsakten durch das FG ist im Revisionsverfahren in vollem Umfang nachprüfbar (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 25, m.w.N.).

17 bb) Die Klägerin konnte den Bescheid vom dahin verstehen, dass nur für das Jahr 2004 eine (ablehnende) Regelung getroffen werden sollte. Zwar ist darin nur der als Zeitpunkt genannt, ab dem die Kindergeldfestsetzung aufgehoben werden sollte. Eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung der Verwaltungsentscheidung fehlt. Jedoch geht aus dem gesamten Inhalt des Bescheids hervor, dass die Familienkasse nur das Jahr 2004 beurteilen wollte. Zum einen wurde die Aufhebung damit begründet, dass die Einkünfte und Bezüge von D im Jahr 2004 die maßgebliche Jahresgrenze überschritten hätten. Zum anderen ergibt sich auch aus dem Hinweis auf § 70 Abs. 4 EStG, dass nur eine auf das Jahr 2004 bezogene Betrachtung angestellt werden sollte.

18 Die durch das Zweite Gesetz zur Familienförderung vom (BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) mit Wirkung ab eingeführte Vorschrift ermöglicht die Korrektur von Kindergeldbescheiden in den Fällen, in denen sich nachträglich Abweichungen der tatsächlich erzielten Einkünfte und Bezüge des Kindes von den prognostizierten ergeben (Senatsurteil in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; Blümich/ Treiber, § 70 EStG Rz 32; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70 EStG Rz 242). Ein Bescheid, durch den eine Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben wird, betrifft einen Prognosezeitraum und nicht darüber hinaus den Zeitraum bis zum Monat der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids. Die Klägerin konnte den Hinweis auf § 70 Abs. 4 EStG und dessen wörtliche Wiedergabe dahin verstehen, dass nur die Festsetzung für das Jahr 2004 aufgehoben werden sollte. Für die Zeit danach gab die Familienkasse keine Änderungsvorschrift an. Die Klägerin hatte somit allen Anlass zu der Annahme, der Aufhebungsbescheid betreffe nur das Jahr 2004.

19 3. Die Kostenentscheidung war nach dem Maß des Unterliegens der Klägerin und der Familienkasse unter Zugrundelegung der zusammengerechneten Streitwerte zu treffen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO; vgl. , BFH/NV 1999, 478, m.w.N.).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2010 S. 854 Nr. 5
YAAAD-39263