Leitsatz
Leitsatz:
1. Die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 SGB VIII erfasst alle Fallgestaltungen, in denen die Eltern nach Leistungsbeginn erstmals verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen und auch bei weiteren Veränderungen beibehalten.
2. Die Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs (hier nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) ist nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dessen Erfüllung zur Entstehung eines gegenläufigen Erstattungsanspruchs (hier nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) führt.
Gesetze: SGB VIII § 86 Abs. 5, § 86 Abs. 6, § 86c Satz 1, § 89a Abs. 1 Satz 1,§ 89c Abs. 1 Satz 1; SGB X § 111; BGB § 242
Instanzenzug: OVG Nordrhein-Westfalen, OVG 12 A 3371/05 vom VG Münster, VG 9 K 5575/03 vom Veröffentlichungen: Amtliche Sammlung: ja; Fachpresse: ja
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Kosten in Höhe von 6 986,54 EUR, die sie im Zusammenhang mit der Unterbringung des Kindes S.R. in einer im Kreisgebiet des Beklagten lebenden Pflegefamilie aufgewandt hat.
Die Eltern des am geborenen Kindes lebten ursprünglich in einem gemeinsamen Haushalt in der im Kreisgebiet des Beklagten gelegenen Stadt S. Am wurde das Kind ins Krankenhaus eingeliefert. Mit Beschluss vom entzog das Amtsgericht A. den Eltern wegen des Verdachts auf grobe Kindesmisshandlung vorläufig die elterliche Sorge und übertrug sie auf das Jugendamt des Beklagten. Mit Urteil des Amtsgerichts A. vom wurde der Vater zu drei Jahren Haft wegen Kindesmisshandlung verurteilt und noch im Gerichtssaal in Haft genommen. Mit Urteil des Landgerichts M. vom wurde das Strafmaß auf zwei Jahre und sechs Monate reduziert und die Unterbringung des Vaters in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Dieses Urteil ist seit dem rechtskräftig.
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wurde das Kind zunächst in der Pflegefamilie W. in der ebenfalls im Kreisgebiet des Beklagten gelegenen Stadt H. untergebracht. Ab dem gewährte der Beklagte der Mutter Hilfe gemäß § 19 SGB VIII in Form der Unterbringung in einer in seinem Gebiet gelegenen Mutter-Kind-Einrichtung. Mit Beschluss vom übertrug das Amtsgericht A. die elterliche Sorge, mit Ausnahme des Aufenthaltsbestimmungsrechts, einstweilen auf die Mutter zurück.
Am verließ die Mutter mit dem Kind die Mutter-Kind-Einrichtung und kehrte in die eheliche Wohnung in S. zurück. Der Beklagte gewährte sodann der Mutter Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 30 SGB VIII in Form von 10 bis 15 Betreuungsstunden pro Woche. Seit Juli 1998 besuchte der Vater die Mutter und das Kind im Rahmen von Hafturlaub im Abstand von drei Wochen an den Wochenenden.
Anfang Februar 1999 verließ die Mutter mit dem Kind das Gebiet des Beklagten und fuhr nach Berlin. Am kehrte sie kurzfristig in die Stadt S. zurück und übergab das Kind einem Mitarbeiter des Jugendamtes des Beklagten. Das Kind wurde am selben Tag wieder in der Pflegefamilie W. in H. untergebracht. Seitdem gewährte der Beklagte Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33 SGB VIII in Form der Vollzeitpflege.
Mit Wirkung zum verzog die Mutter endgültig nach Berlin, während der Vater die eheliche Wohnung in S. übernahm. Ab dem übernahm das Jugendamt in Berlin den Hilfefall und erkannte seine Kostenerstattungspflicht gegenüber dem Beklagten für den Zeitraum vom an.
Am verzog die Mutter in den räumlichen Einzugsbereich der Klägerin.
Mit Beschluss des Amtsgerichts A. vom wurde den Eltern die elterliche Sorge endgültig entzogen und auf das Jugendamt des Beklagten als Vormund übertragen.
Ab dem übernahm die Klägerin den Hilfefall und erstattete dem Jugendamt in Berlin die seit dem aufgewandten Kosten.
Mit Bescheid vom gab die Klägerin dem Antrag des Beklagten in seiner Eigenschaft als Vormund des Kindes auf Weitergewährung der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33 SGB VIII in Form der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie W. in H. statt. Zum wurde das Bereitschaftspflegeverhältnis in ein Dauerpflegeverhältnis umgewandelt.
Am gab der Vater die im Kreisgebiet des Beklagten gelegene ehemalige gemeinsame eheliche Wohnung auf. Im September 2001 gab die Mutter ihre Wohnung im Gebiet der Klägerin auf. Sie wurde am inhaftiert und trat am eine Strafe in der Justizvollzugsanstalt B.-B. an.
Mit Schreiben vom bat die Klägerin den Beklagten um Übernahme des Hilfefalles wieder in seine Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII und begehrte die Erstattung der von ihr seit dem aufgewandten Kosten. Mit Schreiben vom teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass er den Hilfefall ab dem übernehme und den Anspruch auf Kostenerstattung ab dem anerkenne. Mit Schreiben vom widerrief der Beklagte das Kostenanerkenntnis und beantragte seinerseits von der Klägerin Kostenerstattung gemäß § 89a SGB VIII.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom den Beklagten antragsgemäß verpflichtet, an die Klägerin für den Zeitraum vom bis zum 6 986,54 EUR nebst 8 v.H. Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Zwar habe die Klägerin für den maßgeblichen Zeitraum gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Sie sei seit dem Umzug der Mutter am in ihr Stadtgebiet für die Leistungserbringung nach § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII zuständig geworden. Der endgültige Entzug des Sorgerechts durch Beschluss des Amtsgerichts A. vom habe an ihrer Zuständigkeit nichts geändert, sondern gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII dazu geführt, dass diese bestehen bleibe. Der Anwendungsbereich des § 86 Abs. 5 SGB VIII sei auch eröffnet, wenn der Entzug der elterlichen Sorge beider Elternteile der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn nachfolge. Bisherige Zuständigkeit im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII sei die bis dahin zuletzt bestandene Zuständigkeit, im konkreten Fall also die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII. Mit Wirkung zum sei der Beklagte gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständiger Jugendhilfeträger geworden. Die Klägerin habe auch nach diesem Zuständigkeitswechsel die Leistung weiter gewährt, bis der Beklagte den Hilfefall mit Wirkung zum in seine Zuständigkeit übernommen und die Leistung fortgesetzt habe. Allerdings könne die Klägerin ihren Erstattungsanspruch gemäß § 242 BGB nicht geltend machen, weil der Beklagte, hätte er in dem in Rede stehenden Zeitraum aufgrund seiner Zuständigkeit selbst unmittelbar geleistet, von ihr gemäß § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hätte Kostenerstattung verlangen können. Die Kostenerstattungspflicht der Klägerin sei nicht gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII deshalb entfallen, weil die Mutter zum ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Klägerin aufgegeben habe. Durch die infolge des Entzugs des Personensorgerechts am erfolgte Festschreibung der örtlichen Zuständigkeit der Klägerin nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII sei der gewöhnliche Aufenthalt der Mutter für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nicht mehr maßgeblich. Auch sei der Beklagte nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 3 i.V.m. § 86 Abs. 4 SGB VIII erstattungspflichtig geworden. Die entsprechende Anwendung des § 86 Abs. 4 SGB VIII setze voraus, dass eine Anknüpfung an die Aufenthaltsverhältnisse der Eltern oder eines Elternteils nicht mehr in Frage komme. Das sei aber in Fallgestaltungen der vorliegenden Art gerade nicht der Fall, da die gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII bestehen bleibende bisherige Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 SGB VIII an den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter angeknüpft habe. § 86 Abs. 5 Satz 3 SGB VIII beziehe sich mithin nur auf den Fall des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII. Unerheblich sei, dass der Beklagte den Anspruch nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht innerhalb der materiellen Ausschlussfrist des § 111 SGB X geltend gemacht habe.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Kostenerstattung weiter. Sie rügt eine Verletzung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Das Oberverwaltungsgericht hat im Ergebnis im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass die Klägerin gegen den Beklagten keinen durchsetzbaren Kostenerstattungsanspruch hat. Zwar liegen die Voraussetzungen für eine Kostenerstattungspflicht des Beklagten nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vor (1.). Die Klägerin kann aber den Beklagten nicht auf Leistung in Anspruch nehmen, da sie das, was sie verlangt, sofort im Wege der Kostenerstattung gemäß § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII an den Beklagten zurückgewähren müsste (2.).
1. Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. § 86c Satz 1 SGB VIII verpflichtet den bisher zuständigen örtlichen Träger, die Leistung solange zu gewähren, bis der infolge des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin nach § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig wurde, als die Mutter am in ihr Stadtgebiet zog und dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründete (1.1). Mit Recht hat es auch angenommen, dass die Zuständigkeit mit Wirkung zum gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII auf den Beklagten wechselte (1.2), der den Hilfefall jedoch erst mit Wirkung zum in die eigene Zuständigkeit übernahm.
1.1
Die Jugendhilfeleistung, über deren Kosten die Beteiligten streiten, hat spätestens mit der (erneuten) Unterbringung des Kindes am in der im Zuständigkeitsbereich des Beklagten lebenden Pflegefamilie W. begonnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Eltern des Kindes ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten, sodass zunächst dieser nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für die Gewährung der Leistung zuständig war (a). Die Klägerin wurde für die Gewährung der Leistung gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII zuständig, als die Mutter in ihr Gebiet zog und dort einen gewöhnlichen Aufenthalt begründete (b).
a) Ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 SGB VIII hat eine Person an dem Ort oder in dem Gebiet, an oder in dem sie sich bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen hat (stRspr, vgl. BVerwG 5 C 2.08 - ZfSH/SGB 2009, 338 unter Bezugnahme auf das BVerwG 5 C 11.94 - BVerwGE 99, 158 <162 f.>). Kennzeichnend für den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 SGB VIII ist mithin eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an einem bestimmten Ort. Ein dauernder oder längerer Aufenthalt ist zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 86 SGB VIII nicht notwendig. Dementsprechend steht der Annahme einer derartigen Verfestigung grundsätzlich nicht entgegen, dass der Ort nicht zum dauernden Verbleib bestimmt ist und dem Aufenthalt die Merkmale einer selbstbestimmten, auf Dauer eingerichteten Häuslichkeit fehlen ( BVerwG 5 C 11.98 - Buchholz 436.0 § 107 BSHG Nr. 1). Ob die Lebensverhältnisse im Einzelfall die erforderliche Verfestigung aufweisen, ist unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse im Wege einer in die Zukunft gerichteten Prognose zu bestimmen. Auf den Willen, einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen zu wollen, kommt es nicht an. Ebenso wenig ist ein freiwilliger Aufenthalt erforderlich; grundsätzlich kann auch ein Zwangsaufenthalt in einer Haftanstalt oder Therapieeinrichtung einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen ( BVerwG 1 C 25.96 - Buchholz 402.240 § 63 AuslG 1990 Nr. 1). Eine Ausnahme bildet die Untersuchungshaft, die nach ihrem Zweck und ihrer Ausrichtung nur vorübergehender Natur ist (Urteil vom a.a.O.).
Das Berufungsgericht hat diesen rechtlichen Maßstab zutreffend zugrunde gelegt. Es hat zu Recht geprüft und auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen verneint, dass der Vater am Haftort bzw. Ort der Entziehungsanstalt einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Beklagten begründet hat. Insoweit sind keine zulässigen und durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben worden (§ 137 Abs. 2 VwGO). Das Berufungsgericht durfte daher von der anfänglichen Zuständigkeit des Beklagten nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausgehen.
b) Die Klägerin ist jedoch später nach § 86 Abs. 5 SGB VIII durch den Zuzug der Mutter in ihr Stadtgebiet zuständig geworden. Die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 5 SGB VIII erfasst alle Fallgestaltungen, in denen die Eltern nach Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen. Satz 1 regelt die Fälle, in denen die elterliche Sorge einem Elternteil zusteht, und bestimmt, dass sich die örtliche Zuständigkeit nach dessen gewöhnlichem Aufenthalt richtet. Er deckt sich insoweit mit der Regelung des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, deren Anwendungsbereich eröffnet ist, wenn die Eltern bereits bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben. Entsprechend seinem Charakter als umfassende Regelung für verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern nach Leistungsbeginn erfasst § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII sowohl die Fälle, in denen die Eltern erstmals nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen als auch alle nachfolgenden Aufenthaltsveränderungen, die mit einer Beibehaltung bzw. Aufrechterhaltung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile verbunden sind. Letzteres führt dazu, dass die Zuständigkeit mit dem personensorgeberechtigten Elternteil "mitwandert".
Dieses mit dem Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII vereinbare Normverständnis entspricht vor allem dem gesetzlichen Regelungszweck. Die Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit sollen eine effektive Aufgabenwahrnehmung sicherstellen, weshalb § 86 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit in der Regel an eine räumliche Nähe zum Erziehungsverantwortlichen knüpft. Sie orientiert sich damit an dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen (vgl. § 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII) als Ausgangspunkt und Ziel jeder Jugendhilfemaßnahme. Dementsprechend sind die den Eltern nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch gewährten individuellen Leistungen darauf ausgerichtet, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu stärken sowie deren erzieherische Kompetenz zu fördern, um letztlich eine Rückführung des Kindes oder Jugendlichen in die elterliche Erziehungsverantwortung zu ermöglichen (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Dies erfordert eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit des Jugendamtes mit den Eltern, die durch räumliche Nähe zu ihrem Aufenthaltsort (bzw. zum Aufenthaltsort des maßgeblichen Elternteils) ermöglicht und begünstigt wird.
Für die Fälle, in denen die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elterteil zusteht, enthält § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII eine eigenständige Regelung, die sich insbesondere von § 86 Abs. 2 Satz 2 bis 4 und Abs. 3 SGB VIII unterscheidet. Danach bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen. Diese Festschreibung hat zur Folge, dass - mit Ausnahme der (erneuten) Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII - nachträgliche Änderungen der Umstände unbeachtlich sind, auch wenn sie zuvor - bis zur Festschreibung der Zuständigkeit - eine andere örtliche Zuständigkeit begründet hätten.
Dem Charakter des § 86 Abs. 5 SGB VIII als einer umfassenden Sonderregelung entsprechend ist Satz 2 nicht auf die Fälle beschränkt, in denen die Personensorge bereits zum Zeitpunkt der (erstmaligen) Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zugestanden hat. Eine derartige zeitliche Abfolge hat insbesondere im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden. Vielmehr ist Satz 2 auch anwendbar, wenn die genannte Gestaltung des Personensorgerechts der (erstmaligen) Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nachfolgt. Mittels der adverbialen Bestimmung der Zeit "solange" werden im Sinne einer Gleichzeitigkeit lediglich die gemeinsame oder fehlende Personensorge beider Elternteile und der Fortbestand der bisherigen Zuständigkeit verknüpft. Vorgaben für die zeitliche Abfolge der zuständigkeitsrelevanten Kriterien ("Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte" und "gemeinsame oder fehlende Personensorge beider Elternteile") ergeben sich daraus nicht und sind auch ansonsten dem Gesetz nicht zu entnehmen.
"Bisherige Zuständigkeit" im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII ist die zuletzt bestehende Zuständigkeit. Da die Anwendung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nicht auf die erstmalige Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn beschränkt ist, kann die bisherige Zuständigkeit im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII somit auch eine solche nach § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII sein. Dem Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII lässt sich eine einschränkende Regelung, namentlich eine Beschränkung auf die in § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII geregelte Grundzuständigkeit, nicht entnehmen. Das Adjektiv "bisherige" spricht vielmehr dafür, dass auf die Zuständigkeit abzustellen ist, die vor dem Zeitpunkt, zu dem eine Neubestimmung der örtlichen Zuständigkeit veranlasst ist, zuletzt bestanden hat. Dies steht auch im Einklang mit der Gesetzesbegründung, in der von der Beibehaltung der "bisher bestehenden Zuständigkeit" die Rede ist (vgl. BTDrucks 12/2866 S. 22). Im Übrigen wird der Rückgriff auf die bisherige Zuständigkeit damit begründet, dass es bei einem gemeinsamen Sorgerecht der Eltern schwierig sei, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (vgl. a.a.O.). Diese Schwierigkeiten sollen in den Fällen der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Beginn der Leistung, in denen im Unterschied zur Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte vor Beginn der Leistung (vgl. § 86 Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGB VIII) überhaupt nur die Möglichkeit besteht, an eine bestehende Zuständigkeit anzuknüpfen, vermieden werden. Die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zielt mithin auf eine Vereinfachung der Bestimmung der Zuständigkeit. Die Festschreibung der zuletzt bestehenden Zuständigkeit bei gemeinsamem Sorgerecht der Eltern ist auch mit dem Gesetzeszweck vereinbar. Dadurch bleibt die Zuständigkeit zumindest an dem Ort, an dem zuletzt eine Nähebeziehung zu den Erziehungsverantwortlichen und damit der Lebenswelt des Kindes oder des Jugendlichen bestand. Würde man dagegen unter der bisherigen Zuständigkeit nur die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII verstehen, bestünde bei einem längerfristigen jugendhilferechtlichen Bedarf zunehmend die Gefahr, dass die Aufgabenverantwortung bei einem Jugendamt liegt, zu dem inzwischen weder die Eltern noch das Kind oder der Jugendliche einen räumlichen Bezug haben. Entsprechendes gilt für die Fälle, in denen - wie hier - die Erziehungsverantwortung infolge des Entzugs der elterlichen Sorge nicht mehr bei den Eltern liegt (vgl. § 1626 Abs. 1, § 1631 Abs. 1 BGB) und damit keine Notwendigkeit mehr besteht, die örtliche Zuständigkeit weiterhin an deren (künftigen) gewöhnlichen Aufenthalt zu binden. Für eine Festschreibung der Zuständigkeit am letzten Aufenthaltsort der Eltern bzw. des maßgeblichen Elternteils spricht in diesen Fällen auch, dass in der Praxis häufig das dortige Jugendamt nach Entzug des Sorgerechts zum Vormund bestellt wird. Im Übrigen ist - wie mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erörtert - eine für alle Fallgestaltungen gleichermaßen gerecht erscheinende Zuständigkeits- und Kostenverteilung durch Auslegung des § 86 SGB VIII nicht zu erreichen.
Von diesen rechtlichen Vorgaben ist auch das Berufungsgericht erkennbar ausgegangen. Es hat in Anwendung dieser Grundsätze zutreffend entschieden, dass die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII zunächst vom Beklagten auf das Jugendamt in Berlin und anschließend von diesem auf die Klägerin wechselte, da mit Beschluss des Amtsgerichts A. vom die elterliche Sorge allein auf die Mutter zurückübertragen worden war.
Ob das Berufungsgericht die Zuständigkeit der Klägerin zu Recht schon ab dem Entzug des Sorgerechts der Mutter durch den Beschluss des Amtsgerichts A. vom auf § 86 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII gestützt hat, kann offen bleiben. Insoweit ist fraglich, ob bereits die Änderung des Personensorgerechts während eines Leistungsbezugs für sich allein eine neue Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit und gegebenenfalls einen Wechsel der diesbezüglichen Rechtsgrundlage erforderlich macht oder ob erst noch eine Aufenthaltsänderung (wie hier der Verlust des gewöhnlichen Aufenthalts der Mutter im Gebiet der Klägerin aufgrund der zum eingetretenen vorübergehenden Obdachlosigkeit) hinzutreten muss. Denn die Klägerin hat ihr Erstattungsbegehren ausdrücklich auf den Zeitraum vom bis zum beschränkt. Spätestens ab dem war sie aber nach § 86 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig.
1.2
Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen und nach Maßgabe des § 137 Abs. 2 VwGO für den Senat bindenden Feststellungen auch zu Recht dahin erkannt, dass die örtliche Zuständigkeit mit Ablauf des gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII wieder auf den Beklagten überging, in dessen Kreisgebiet die Pflegefamilie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies steht zwischen den Beteiligten im Revisionsverfahren auch nicht mehr im Streit.
2. Der Senat folgt auch der Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Geltendmachung des Klageanspruchs nach dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht. Die Erfüllung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hätte nämlich unmittelbar zur Folge, dass ein gegenläufiger Erstattungsanspruch des Beklagten gegen die Klägerin nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII entsteht.
Nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Grund für diese Erstattungsregelung ist, dass der Gesetzgeber mit § 86 Abs. 6 SGB VIII aus Gründen der Praktikabilität die örtliche Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson binden wollte, dass aber, wie § 89a SGB VIII zeigt, letztlich ein anderer als der nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständige Träger verpflichtet sein sollte, die Kosten zu tragen ( BVerwG 5 C 25.05 - BVerwGE 128, 301 <302>).
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Beklagten mit einer Erfüllung der Kostenerstattungspflicht nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Kosten aufgrund seiner Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII entstanden wären. Denn ein Jugendhilfeträger hat Kosten aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht nur dann aufgewendet, wenn er eine Jugendhilfeleistung entweder selbst erbracht hat oder durch einen Dritten hat erbringen lassen und dafür die Kosten getragen hat. Vielmehr ist diese Voraussetzung auch dann erfüllt, wenn er - wie hier der Beklagte - zwar die Jugendhilfeleistung weder unmittelbar selbst noch mittelbar durch einen Dritten erbracht hat, aber gerade wegen seiner Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII einem anderen Jugendhilfeträger, hier der Klägerin, Kosten für die von diesem anderen erbrachten Jugendhilfeleistungen erstatten musste (Urteil vom a.a.O.).
Der mit der Erfüllung der Kostenerstattungspflicht nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII verbundene, aber erst nach einer Zahlung zur Entstehung gelangende Kostenerstattungsanspruch nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII muss nicht innerhalb der materiell-rechtlichen Ausschlussfrist des § 111 SGB X geltend gemacht werden. Dabei kann offen bleiben, ob diese Frist überhaupt für - wie bei der vorliegenden Fallgestaltung - potenzielle, erst künftig entstehende Erstattungsansprüche gilt. Denn sie ist jedenfalls auf die spezielle jugendhilferechtliche Situation einander gegenüberstehender Erstattungsansprüche örtlicher Jugendhilfeträger nicht anwendbar. Dies gilt in besonderer Weise für eine Kollision mit einem Erstattungsanspruch nach § 89a SGB VIII, dessen Ziel es ist, die Pflegestellenorte von den mit einem Zuständigkeitswechsel nach § 86 Abs. 6 SGB VIII verbundenen Kosten zu befreien (Urteil vom a.a.O.; s.a. BTDrucks 12/2866 S. 24).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskostenfreiheit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht.
...
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 6 986,54 EUR festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1 und § 52 Abs. 3 GKG).
Fundstelle(n):
CAAAD-37004