Bayerisches Landesamt für Steuern - S 0338.1.1-5/16 St 41

Vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO im Hinblick auf anhängige Musterverfahren

AO-Kartei

1. Allgemeines

Das Verfahren zur Anbringung von Vorläufigkeitsvermerken ist im (AIS: AO/Vorläufigkeit) geregelt. Von der Möglichkeit eine Steuer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig festzusetzen, ist nur Gebrauch zu machen, soweit hierzu eine Anweisung durch BMF-Schreiben oder gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden vorliegt (vgl. AEAO zu § 165, Nr. 6). Zu welchen Punkten die Einkommensteuerfestsetzungen (ggf. auch andere ertragsteuerliche Verwaltungsakte) nach den Vorgaben des BMF vorläufig vorgenommen werden, ergibt sich aus der Anlage zum die fortlaufend durch den BMF aktualisiert wird. Die aktuelle Liste kann jeweils im AIS eingesehen werden (AIS: AO/Vorläufigkeit).

2. Erledigte Vorläufigkeitsvermerke

Vgl. hierzu die Liste der erledigten Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (AIS: AO/Vorläufigkeit).

3. Rechtsschutzbedürfnis bei Steuerfestsetzungen mit Vorläufigkeitsvermerk

Gem. AEAO zu § 350, Nr. 6 fehlt Einsprüchen, mit denen ausschließlich die angebliche Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm gerügt wird, grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das Finanzamt spätestens im Einspruchsverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt hinsichtlich des strittigen Punktes für vorläufig erklärt hat (, BStBl 1994 II S. 119 und , BStBl 1996 II S. 506).

Eine Beschwer ist jedoch dann gegeben, wenn

  • der Einspruchsführer zu erkennen gibt, dass er vor Abschluss des Musterverfahrens seinen Fall an das BVerfG herantragen will,

  • ausnahmsweise zu einem Punkt im „Vorläufigkeitskatalog” die Aussetzung der Vollziehung angewiesen worden ist (vgl. Tz. IV des

  • der Einspruchsführer davon ausgeht, dass eine Steuerfestsetzung durch den Vorläufigkeitsvermerk nicht „offen gehalten” wird.

Bezieht sich der Einspruchsführer ausschließlich auf Musterverfahren, zu deren Streitfragen bereits Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO in der angefochtenen Steuerfestsetzung vorhanden sind, liegt mangels Rechtsschutzbedürfnis keine Beschwer vor, es sein denn es ergibt sich aus dem Einspruchsschreiben bzw. der nachfolgenden Kontaktaufnahme, dass der Einspruchsführer von einem nicht ausreichenden Umfang des Vorläufigkeitsvermerks bezüglich anhängiger Musterverfahren bzw. Rechtsfragen ausgeht. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn es für den Steuerpflichtigen zweifelhaft ist, ob eine in einem Revisionsverfahren zu klärende Rechtsfrage ebenfalls von einem bestimmten Vorläufigkeitsvermerk erfasst wird.

4. Erledigung von Einsprüchen durch nachträgliche Beifügung von Vorläufigkeitsvermerken

Durch die nachträgliche Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks wird einem Einspruch dann vollständig abgeholfen, wenn es das erkennbare ausschließliche Ziel des Einspruchsführers war, seinen Steuerfall hinsichtlich der vom nachträglich beigefügten Vorläufigkeitsvermerk erfassten Rechtsfrage „offen” zu halten. Eine Vollabhilfe liegt demgegenüber z. B. nicht vor, wenn der Einspruchsführer erkennen lässt, in seiner Steuerangelegenheit Klage erheben zu wollen, wenn er Aussetzung der Vollziehung beantragt oder wenn er im Einspruchsschreiben vor Erteilung des Änderungsbescheids noch andere Einwendungen gegen den angefochtenen Verwaltungsakt erhoben hat.

5. Folgen einer unzutreffenden Auskunft des Finanzamts zum Umfang des Vorläufigkeitsvermerks

Hat das Finanzamt gegenüber dem Steuerpflichtigen durch Äußerungen den unzutreffenden Eindruck erweckt, aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks könne der Einkommensteuerbescheid (zu seinen Gunsten) geändert werden und

  • hat der Steuerpflichtige daher von der Einlegung eines Einspruchs abgesehen,

  • einen bereits eingelegten Einspruch zurückgenommen oder

  • hat das Finanzamt einen eingelegten Einspruch mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig verworfen,

ist wie folgt zu verfahren:

Soweit der Steuerpflichtige von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten worden und die Jahresfrist im Sinne des § 110 Abs. 3 AO noch nicht abgelaufen ist, ist dem Steuerpflichtigen zur Eröffnung der Einspruchsmöglichkeit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zu gewähren.

Bei einer durch eine „irreführende Äußerung” bewirkten Einspruchsrücknahme ist die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme festzustellen und das Rechtsbehelfsverfahren fortzusetzen, falls dem nicht der Ablauf der Jahresfrist gem. § 362 Abs. 2 Satz 2 AO entgegensteht.

Soweit die vorgenannten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nicht bestehen, ist der vorläufige Einkommensteuerbescheid im Billigkeitswege (abweichende Steuerfestsetzung gem. § 163 AO) an die geänderte Rechtsprechung anzupassen.

6. Umfang der Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO a. F.

Für die Auslegung von Vorläufigkeitsvermerken, die noch auf der Basis der alten Rechtslage den Steuerbescheiden beigefügt worden, also vor Anwendung des gilt Folgendes:

Auf der Basis des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht (BFH) ist.

Somit ergibt sich die Reichweite dieser Vorläufigkeitsvermerke bereits aus der gesetzlichen Vorgabe des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO: der Vorläufigkeitsvermerk kann nur Musterverfahren erfassen, bei denen es um die Frage der Konformität eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz oder den europäischen Verträgen geht, nicht aber um sog. einfachgesetzliche Fragen. Für die Entscheidung, ob es sich bei dem BFH-Verfahren um ein Verfahren mit ausschließlich einfachgesetzlicher Problematik handelt, ist auf die vom BFH formulierte Rechtsfrage abzustellen (vgl. Homepage des BFH bzw. gelbe Beilage zum BStBl II).

Der (X R 9/05, BStBl 2006 II S. 858) darüber hinaus die Auffassung vertreten, dass Verfassungsbeschwerden, in denen die Verletzung der Grundrechte durch die vorangegangene Entscheidung des BFH gerügt wird, ebenfalls vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst werden.

Bei den Steuerbescheiden die seit dem mit Rechentermin erstellt wurden, wurde nicht mehr ausdrücklich auf anhängigen Musterverfahren Bezug genommen wird („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist im Hinblick auf vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesfinanzhof bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Verfahren vorläufig hinsichtlich…), sondern lediglich auf die gesetzliche Berechtigung für den Vorläufigkeitsvermerk („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich……”) hingewiesen wird. Das , BStBl 2006 II S. 858, wonach nur einschlägige Musterverfahren nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vom Vorläufigkeitsvermerk umfasst werden können, die im Zeitpunkt der Bescheidbekanntgabe anhängig waren, kann seitdem nicht mehr zur Auslegung der Reichweite des Vorläufigkeitsvermerk herangezogen werden. Vielmehr sind bei diesen Bescheiden alle einschlägigen Musterverfahren von dem Vorläufigkeitsvermerk umfasst, unabhängig davon, ob sie vor oder nach Bekanntgabe des Steuerbescheids anhängig wurden.

Das Finanzgericht Niedersachsen (7 K 249/07) ist der Auffassung, dass der zwischen den Rechenterminen und eingesteuerte Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO inhaltlich nicht hinreichend bestimmt war. Das gegen das Urteil angestrengte Revisionsverfahren ist noch nicht abgeschlossen (Az. des BFH: III R 39/08). Anhängige Einsprüche können durch die Erteilung eines maschinellen Änderungsbescheids erledigt werden, da nunmehr sämtliche Einkommensteuerfestsetzungen mit den im vorgesehen Texten zur Vorläufigkeitserklärung gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO ergehen und damit die Bedenken des Niedersächsischen Finanzgerichts hinfällig geworden sind.

Bayerisches Landesamt für Steuern v. - S 0338.1.1-5/16 St 41

Fundstelle(n):
UAAAD-26118