BGH Beschluss v. - 5 StR 450/08

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: EMRK Art. 6 Abs. 1; StGB § 56; StPO § 349 Abs. 2; StPO § 349 Abs. 4

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1.

Gegen die Höhe der gebildeten Gesamtstrafe bestehen durchgreifende Bedenken. Die Strafzumessungserwägungen lassen nicht erkennen, ob das Landgericht bedacht hat, dass die aus den einbezogenen Einzelstrafen ursprünglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom zum Erlass anstand.

Die Einbeziehung dieser Einzelstrafen erfolgte zwar zu Recht. Denn eine Strafaussetzung zur Bewährung steht einer Einbeziehung auch dann nicht entgegen, wenn die neu zu bildende Gesamtstrafe nicht mehr aussetzungsfähig ist (vgl. BGHSt 7, 180, 182 ; 36, 378) . Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn die Bewährungszeit aus den früheren Strafen abgelaufen ist (vgl. hierzu BVerfG - Kammer - NJW 1991, 558). Ein Ausnahmefall, bei dem die nicht erlassene Strafe so zu behandeln ist, als wäre sie erlassen (vgl. BGH NStZ 1993, 235), lag zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landgerichts nicht vor. Die Eröffnung des hiesigen Verfahrens erfolgte am noch innerhalb der bis andauernden Bewährungszeit. Auf einen Straferlass konnte der Angeklagte bei dieser Sachlage im Blick auf die Gesamtstrafenbildung nicht vertrauen (vgl. BGH a.a.O.).

Allerdings hätte die Strafkammer die sich aus dieser Gesamtstrafsituation ergebenden Härten besonders bedenken müssen. Denn ohne dass ein Widerrufsgrund nach § 56f StGB gegeben wäre, wird der Angeklagte nach Ablauf der Bewährungszeit so gestellt, als wäre die Strafaussetzung widerrufen worden (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - wistra 1990, 262; BGH NStZ 1991, 330; 1993, 235). Dabei hätte es zudem in den Blick nehmen müssen, dass die Strafen, deren Vollstreckung nach Einbeziehung nunmehr ansteht, Taten betreffen, die fast acht Jahre zurückliegen. Zudem hat der Angeklagte die Verzögerungen im hiesigen Verfahren nicht zu vertreten, was bisher nur bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt worden ist.

2.

Die Revision beanstandet mit der zulässig erhobenen, auf eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gestützten Verfahrensrüge weiterhin zu Recht, dass das Landgericht eine Entscheidung über die Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung unterlassen hat.

a)

Dem liegt im Wesentlichen folgender Verfahrensablauf zugrunde:

Nachdem der Angeklagte am im unmittelbaren Anschluss an die Tat - polizeilich überwachter Betäubungsmittelverkauf an einen verdeckten Ermittler - festgenommen worden war, wurde ihm am der Tatvorwurf eröffnet und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Am schloss die Polizei die Ermittlungen hinsichtlich des Tatvorwurfs zunächst ab. Es erfolgten dann die Verfahrensabtrennung hinsichtlich eines weiteren Mitbeschuldigten und die ergebnislose Beiziehung von Mitteilungen aus anderen Verfahren. Am wurde der Angeklagte auf seinen Antrag hin von der Untersuchungshaft verschont. Der Staatsanwalt vermerkte am , dass das Verfahren wegen Überlastung nicht ordnungsgemäß habe gefördert werden können. Auf seinen auf Verhältnismäßigkeitsgründe gestützten Antrag hob das Amtsgericht am sämtliche Haftbefehle auf. Am vermerkte die nunmehr zuständige Staatsanwältin, dass "zur Zeit keine Kapazität zur Förderung der Sache" bestehe. Durch Verfügung vom ordnete der neu zuständige Staatsanwalt weitere Ermittlungen an, die die Polizei am abschloss. Am , mithin über vier Jahre nach der Eröffnung des Tatvorwurfs, wurde Anklage erhoben. Dem Angeklagten wurde darin der Sachverhalt zur Last gelegt, der bereits Gegenstand des Haftbefehls war.

Nach Zustellung der Anklage vermerkte die Vorsitzende der Strafkammer am , dass "zwischen dem und dem keine erkennbare Förderung des Verfahrens" erfolgt sei. Am 6. Juni, 7. August, 25. September, 19. Oktober, 16. November, , 22. Januar und verfügte sie, dass das Verfahren wegen vorrangiger Haftsachen nicht terminiert werden könne. Am sandte sie die Akten unter Hinweis auf Widersprüchlichkeiten im Anklagesatz an die Staatsanwaltschaft zurück. Die geänderte Anklageschrift ging am beim Landgericht ein. Nach Zustellung beschloss die Strafkammer am die Eröffnung des Hauptverfahrens. Drei Tage später wurden Hauptverhandlungstermine für den 5., 10. und festgesetzt. Am meldete sich bei Gericht der neue Verteidiger des Angeklagten; er teilte unter Bezugnahme auf ein aktuelles Betreuungsgutachten - ein dieselbe Diagnose beinhaltendes Gutachten war bereits im Jahre 2002 zu den Akten gelangt - Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten mit und gab zu bedenken, dass der "faktische Handlungsablauf" unstreitig sei. Im Termin am beantragte der Verteidiger eine psychiatrische Begutachtung des Angeklagten. Das Gericht setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus und beschloss am die psychiatrische Untersuchung. Ein in Aussicht genommener neuer Hauptverhandlungstermin am konnte "wegen einer vorrangigen Unterbringungssache" nicht stattfinden. Zwischen dem 23. Januar und dem ging das vorbereitende Gutachten bei Gericht ein. Am beraumte die Vorsitzende Hauptverhandlungstermin für den 10. und an. Am erging schließlich das Urteil gegen den Angeklagten und zwei nichtrevidierende Mitangeklagte.

b)

Das Landgericht hat zwar neben weiteren erheblichen strafmildernden Umständen bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt, dass die Tat bereits mehrere Jahre zurückliege, "ohne dass die Verfahrensverzögerung dem Angeklagten zuzurechnen" wäre (UA S. 21). Indes hat es das Landgericht aber versäumt, Art, Ausmaß und Ursache der Verfahrensverzögerung konkret zu ermitteln und im Urteil darzustellen (vgl. hierzu BVerfG - Kammer - StV 1993, 352; BGHSt - GS - 52, 124, 146). Eine gesonderte Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat es nicht erwogen. Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft.

c)

Die dargestellte Verfahrensweise und die Gesamtverfahrensdauer (vgl. hierzu BGH NStZ 2004, 504; NStZ-RR 2007, 150, 151) von über sechs Jahren wird angesichts des begrenzten Umfangs der erforderlichen Ermittungen und der geringen Komplexität des aufzuklärenden Lebenssachverhalts den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK nicht gerecht.

Von der Eröffnung des Tatvorwurfs bis zur Anklageerhebung ist das Verfahren über längere Zeiträume nicht angemessen gefördert worden, wie sich aus den Vermerken der jeweils zuständigen Staatsanwälte ergibt. Dabei fällt ins Gewicht, dass gegen den Angeklagten zwar nur bis zum Untersuchungshaft vollzogen wurde, er danach aber bis zum durch die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter Auflagen besonders belastet war (vgl. hierzu BVerfG StV 2003, 30; - Kammer - 2006, 87, 88; BGH StraFo 2008, 297). Nach Eingang der Anklage bei Gericht ist das Verfahren auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um keine Haftsache handelte, nicht in der gebotenen Weise gefördert worden. Aus den Vermerken der Strafkammervorsitzenden ergibt sich, dass der Terminierung der Sache in angemessener Frist nicht nur ein vorübergehend bestehender Engpass in der Verhandlungskapazität entgegenstand (vgl. hierzu BVerfG StV 2003, 30; ).

d)

Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es bei den hier vorliegenden Wertungsfehlern nicht.

3.

Die nunmehr gebotene Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat das neue Tatgericht im Wege des Vollstreckungsmodells (BGHSt - GS - 52, 124) nachzuholen. Es wird zunächst festzustellen haben, welcher Zeitraum zwischen der Eröffnung des Tatvorwurfs und dem Urteil bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung als erforderlich anzusehen ist (vgl. Rdn. 6). Dieser Zeitraum ist bei der Berechnung der Dauer der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen. Sodann ist festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt, da die bloße Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung als Kompensation in diesem Fall offensichtlich nicht ausreicht. Bei der Bemessung sind vor allem die Art und Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten als maßgebende Kriterien festzustellen und zu berücksichtigen (BGHSt - GS - 52, 124, 146; Rdn. 8; Rdn. 9).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
wistra 2009 S. 271 Nr. 7
QAAAD-18336

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