BFH Beschluss v. - X B 114/08

Unfallbedingter Stau als erheblicher Grund für die Verlegung eines Verhandlungstermins

Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 3, ZPO § 227

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die in den Streitjahren 2001 bis 2003 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) hat ursprünglich die Besteuerungsgrundlagen geschätzt, weil die Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatten. Den dagegen eingelegten Einspruch wies es als unbegründet zurück.

Im Hinblick auf die im Klageverfahren abgegebenen Steuererklärungen für die Streitjahre 2001 bis 2003 änderte das FA die Steuerbescheide nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung. Von den Erklärungen wich es insofern ab, als es für die Privatnutzung des Firmen-PKW durch die Klägerin Sachbezüge ansetzte. Aufwendungen für beschädigte Kleidung, Telefonkosten, Arbeitsmittel etc. erkannte es ohne Nachweis pauschal mit 400 DM bzw. 200 € pro Jahr an.

Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens beraumte das Finanzgericht (FG) Termin zur mündlichen Verhandlung auf Dienstag, , 12.05 Uhr an. Ausweislich des Protokolls über die öffentliche Sitzung rief der Kläger am Tag der mündlichen Verhandlung um 11.22 Uhr bei der Geschäftsstelle des Gerichts an und erklärte, er stehe im Stau auf der Autobahn und werde nicht zum Termin erscheinen. Das FG vertagte die Streitsache nicht, sondern verhandelte —nachdem es die ordnungsgemäße Ladung der Kläger festgestellt hatte— zur Sache. Nach Beratung, Wiederaufruf der Sache und Wiederherstellung der Öffentlichkeit verkündete es am das Urteil. Es wies die Klage ab.

Am Nachmittag des richteten die Kläger ein Faxschreiben an das FG (Eingang bei Gericht 16.56 Uhr). Darin erläuterten sie, weshalb sie den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrnehmen konnten. Sie seien um 9.50 Uhr ca. 3 km hinter der Abfahrt R in einen Stau geraten und erst um 12.50 Uhr hätten sie den Stau an der Abfahrt L verlassen können. Der durch einen Unfall verursachte Stau sei von der Polizei ebenso wie die Zeiten des Staus aufgenommen worden. Zudem teilten die Kläger dem FG einige Kraftfahrzeuge mit dem amtlichen Kennzeichen mit, die mit ihnen im Stau gestanden waren.

Innerhalb der Frist nach § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO haben die Kläger durch einen Anwalt Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und —unter Vorlage einer Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse— persönlich Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das klageabweisende Urteil gestellt. Der beschließende Senat hat diesem Antrag mit Beschluss vom X S 27/08 (PKH) entsprochen. Dieser Beschluss ist den Klägern am zugestellt worden.

Durch am beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schriftsatz haben die Kläger durch ihren Anwalt die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im FG-Urteil begründet. Sie machen geltend, das FG hätte die mündliche Verhandlung vertagen und ihnen Gelegenheit geben müssen, die konkreten Umstände der Nutzung des Dienstfahrzeugs und ihren Rechtsstandpunkt hierzu in einer weiteren mündlichen Verhandlung darzulegen.

Das FA hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerdebegründung verzichtet.

II. Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO; es verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes; § 96 Abs. 2 FGO, § 119 Nr. 3 FGO).

1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist fristgerecht eingelegt und begründet worden.

a) Die Kläger haben die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im FG-Urteil durch ihren Anwalt innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim BFH eingelegt (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO).

b) Zwar haben die Kläger die Beschwerde nicht innerhalb der Frist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO begründet. Ihnen ist allerdings nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Denn wer selbst nicht über die nach § 62 FGO für ein Auftreten vor dem BFH erforderliche besondere fachliche Qualifikation verfügt und nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO), der im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 142 FGO sinngemäß anzuwenden ist, die Kosten für die Beauftragung einer zum Auftreten vor dem BFH befugten Person nicht aufbringen kann und deshalb die Frist für die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde verstreichen lassen muss, tut dies, ohne dass ihm daraus ein Vorwurf i.S. des § 56 Abs. 1 FGO gemacht werden kann, sofern er innerhalb der Frist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO alles in seiner Macht stehende unternimmt, damit für ihn durch eine entsprechend § 62 FGO qualifizierte Person oder Gesellschaft die Beschwerde begründet werden kann, nachdem ihm nach §§ 142 FGO, 114 ZPO PKH gewährt worden ist.

Die Kläger haben die Beschwerdebegründung fristgerecht eingereicht, auch wenn die Frist nach § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO nicht gewahrt ist. Nach der Rechtsprechung des BFH muss einem im PKH-Verfahren erfolgreichen Rechtsmittelführer die vollständige Begründungsfrist —d.h. eine Frist von zwei Monaten— verbleiben, wobei diese Frist mit der Zustellung des PKH-Beschlusses zu laufen beginnt (, BFHE 201, 425, BStBl II 2003, 609). Andernfalls würde der Beschwerdeführer einen unzulässigen Nachteil gegenüber bemittelten Rechtsbehelfsführern erleiden. Es ist einem nach PKH-Gewährung hinzugezogenen Rechtsanwalt nicht zumutbar, die für die Beschwerdebegründung erforderlichen Überlegungen und Beratungen sowie das Abfassen der Beschwerdebegründungsschrift innerhalb eines Monats durchzuführen.

2. Die nach alledem zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt, indem es verfahrensfehlerhaft trotz eines entsprechenden Antrags die mündliche Verhandlung nicht vertagt, sondern in Abwesenheit der Kläger aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat.

a) Den Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl sie einen Antrag auf Terminsverlegung gemäß § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht haben. Das FG ist in einem solchen Falle verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen (z.B. , BFH/NV 2002, 938, m.w.N.).

b) Im Streitfall waren die Kläger unverschuldet daran gehindert, den Termin zur mündlichen Verhandlung am wahrzunehmen. Ursache für ihre Verhinderung war ein durch einen Unfall verursachter Stau. Von einem Prozessbeteiligten kann nicht verlangt werden, dass er —um jedes Risiko eines Scheiterns seiner Anreise zum Terminsort auszuschließen— bei der zeitlichen Planung seiner Fahrt Vorsorge gegen derartige Verzögerungen trifft. Die prozessuale Sorgfaltspflicht gebot unter dem Blickwinkel möglicher Staus keine frühere Anreise. Deshalb kann den Klägern nicht mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden. Sie haben das FG noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung von ihrer Verhinderung telefonisch informiert. Angesichts der Tatsache, dass sie mit ihrem PKW zwischen zwei Autobahnausfahrten im Stau standen, war ihnen zu diesem Zeitpunkt mehr nicht möglich. Unmittelbar nach Beendigung ihrer Fahrt haben sie die Umstände ihrer Verhinderung so weit wie möglich glaubhaft gemacht.

Nicht entscheidend ist, dass die Kläger nicht dargelegt haben, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, weil das FG verfahrensfehlerhaft in ihrer Abwesenheit aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (Beschluss des Großen Senats des , BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802).

Den Klägern kann auch nicht vorgeworfen werden, sie hätten es versäumt, die Wiedereröffnung der von ihnen unverschuldet versäumten mündlichen Verhandlung zu beantragen. Diese war nach der Verkündung des Urteils im Anschluss an die mündliche Verhandlung am nicht mehr möglich.

3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO.

Fundstelle(n):
QAAAD-15984