Leitsatz
[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: StPO § 349 Abs. 2; StPO § 349 Abs. 4; StPO § 358 Abs. 2; StGB § 46; StGB § 51 Abs. 1 Satz 1; StGB § 57
Instanzenzug: LG Lübeck, vom
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete, auf Verfahrensbeschwerden und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von 18 Monaten angenommen, weil nach Eingang des aussagepsychologischen Gutachtens bei der Staatsanwaltschaft am erst am Anklage erhoben worden war, ohne dass in der Zwischenzeit weitere verfahrensfördernde Ermittlungen stattgefunden hatten. Nach Auffassung des Landgerichts hätte spätestens zum Ende des Jahres 2005 Anklage erhoben werden können. Es hat diese Verzögerung dadurch kompensiert, dass es zunächst die an sich verwirkten Einzelstrafen benannt, sodann niedrigere Einzelstrafen festgesetzt und aus diesen eine verminderte Gesamtstrafe gebildet hat.
2. Der Strafausspruch kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht, wie sich teilweise schon aus dem Urteil und im Übrigen aus dem Revisionsvortrag ergibt, bei der Feststellung des Umfangs der Verfahrensverzögerung außer Betracht gelassen hat, dass die Beauftragung der Sachverständigen bereits am erfolgt war und die Erstattung des aussagepsychologischen Gutachtens somit nahezu elf Monate gedauert hatte. Hieraus folgt eine weitere Verfahrensverzögerung, deren genauen Umfang der neue Tatrichter feststellen muss.
Die vom Landgericht bei der Kompensation gewählte Verfahrensweise ("Strafabschlagslösung") entspricht im Übrigen nicht der - nach dem Erlass der angefochtenen Entscheidung - geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ("Vollstreckungsmodell"; vgl. BGH - GS - NJW 2008, 860). Dadurch ist der Angeklagte beschwert, weil sich durch das Vollstreckungsmodell der Zeitpunkt, zu dem ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, nach vorne verlagert. Der Angeklagte könnte deshalb - bei Vorliegen der übrigen, hier nicht von vornherein ausgeschlossenen Voraussetzungen des § 57 StGB - früher als nach dem Strafabschlagsmodell aus dem Strafvollzug entlassen werden.
3. Bei der nunmehr gebotenen Durchführung der Kompensation im Wege des Vollstreckungsmodells wird der neue Tatrichter Folgendes zu beachten haben (s. im Einzelnen BGH aaO S. 866 f.):
a) Auch bei der jetzt gebotenen Anwendung des Vollstreckungsmodells sind Art und Ausmaß der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung konkret zu ermitteln und im Urteil darzustellen. Es wird deshalb festzustellen sein, welcher Zeitraum zwischen Anzeigeerstattung und Urteil als bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung erforderlich anzusehen ist. Dieser ist bei der Berechnung der Dauer der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen.
b) Der neue Tatrichter wird sodann zunächst nach den Kriterien des § 46 StGB schuldangemessene, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung außer Acht lassende Einzelstrafen festzusetzen und aus diesen sowie den einzubeziehenden Vorstrafen eine Gesamtstrafe zu bilden haben. Dabei wird zu prüfen sein, inwieweit der zeitliche Abstand zwischen den begangenen Taten und dem Urteil sowie die Verfahrensdauer als solche bei der Straffestsetzung mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
c) Für den - hier zweifelsfrei gegebenen - Fall, dass allein die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation nicht ausreichen wird (vgl. dazu BGH aaO S. 864, 866), ist daran anschließend im Urteilstenor festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Entscheidend für diese Festlegung sind die Umstände des Einzelfalls wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Dabei muss im Auge behalten werden, dass die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es regelmäßig aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben. Hinsichtlich der Möglichkeit, ohne Verstoß gegen § 358 Abs. 2 StPO höhere Einzelstrafen als die bisher erkannten zu verhängen und auch eine höhere Gesamtstrafe auszusprechen, verweist der Senat auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. zuletzt ).
4. Die ungenügenden Feststellungen zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung waren aufzuheben, um dem neuen Tatrichter die Gelegenheit zu geben, insoweit einheitlich neue, ausreichend konkrete Feststellungen zu treffen. Die übrigen Strafzumessungstatsachen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben; der neue Tatrichter ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die indes zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen dürfen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BAAAC-83115
1Nachschlagewerk: nein