BSG Urteil v. - B 1 KR 11/07 R

Leitsatz

Begehrt ein in ein Krankenhaus aufgenommener Versicherter die Verlegung in ein anderes Krankenhaus, obwohl er im Aufnahmekrankenhaus die erforderliche Krankenhausbehandlung erhalten kann, hat seine Krankenkasse die Fahrtkosten für die Verlegung nicht zu tragen. Dies gilt auch dann, wenn sich der Versicherte auf seine religiösen Bedürfnisse beruft, die Verlegung erfolgt und die Krankenkasse die anschließende Krankenhausbehandlung übernimmt.

Gesetze: GG Art 4 Abs 1; SGB V § 12 Abs 1; SGB V § 13 Abs 3 S 1 Alt 1; SGB V § 39 Abs 1; SGB V § 39 Abs 2; SGB V F: § 60 Abs 1 ; SGB V F: § 60 Abs 3 ; SGB V § 76 Abs 2; SGB V § 2 Abs 3 S 2

Instanzenzug: SG Augsburg, S 12 KR 74/03 vom LSG München, L 4 KR 75/04 vom

Gründe

I

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Kosten eines Hubschraubertransports von einem Krankenhaus (KH) in Augsburg zu einem KH in Fulda.

Der bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Kläger gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Am wurde er wegen thoracaler Schmerzen in die Augsburger Klinik Vincentinum gebracht und von dort an das Klinikum Augsburg überwiesen. Dort wurde ua eine Aortendissektion festgestellt und eine Notfalloperation für erforderlich, jedoch für nicht durchführbar gehalten, weil der Kläger religiös motiviert einer Gabe von (Fremd-)Blutprodukten nicht zustimmte. Das Klinikum Großhadern in München lehnte eine Operation ohne Fremdblut ebenfalls ab, während das Klinikum Fulda bereit war, eine Operation auch ohne Bluttransfusionen durchzuführen. Das "Krankenhaus-Verbindungskomitee der Zeugen Jehovas" veranlasste daraufhin, dass der Kläger am Abend des mit einem Hubschrauber nach Fulda geflogen und dort noch in der Nacht erfolgreich operiert wurde. Ein zeitgerechter Transport des Klägers dorthin mit einem anderen Verkehrsmittel war nicht möglich.

Der Kläger beantragte im Juli 2002 bei der Beklagten erfolglos, ihm die Kosten für den Hubschraubertransport in Höhe von 4.950 Euro zu erstatten. Die Beklagte führte aus, der Transport sei medizinisch nicht notwendig gewesen, sondern veranlasst worden, weil der Kläger die in Augsburg vorgesehene Operation mit Fremdblut aus religiösen Gründen abgelehnt habe (Bescheid vom 6.9. und , Widerspruchsbescheid vom ). Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Kostenübernahmeantrag erneut zu entscheiden. Zwar habe der Kläger ohne zwingenden Grund ein anderes als ein in der ärztlichen Einweisung genanntes KH gewählt. Die Beklagte sei daher nicht zur Übernahme der Transportkosten in voller Höhe verpflichtet, habe aber hinsichtlich der entstandenen Mehrkosten eine Ermessensentscheidung treffen müssen (Urteil vom ).

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 4.950 Euro beantragt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen: Das SG habe zwar kein Bescheidungsurteil erlassen dürfen, jedoch habe die Beklagte keine Berufung eingelegt. Die Berufung des Klägers sei unbegründet, weil er es unterlassen habe, eine Entscheidung der Beklagten vor dem beabsichtigten Hubschrauber-Transport herbeizuführen. Unabhängig davon hätten zwingende medizinische Gründe für die Verlegung in das KH in Fulda gefehlt (Urteil vom ).

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 62, 103, 112 Abs 2, 128 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 SGG. Das LSG habe anders als das SG überraschend auf § 13 Abs 3 SGB V als Anspruchsgrundlage abgestellt. Vor dem Transport sei ihm eine direkte Kontaktaufnahme zur Beklagten aufgrund seines lebensbedrohlichen Zustandes aber gar nicht möglich gewesen. Das LSG habe unter Verletzung seiner Begründungspflicht die medizinische Notwendigkeit des Transports verneint. Das Urteil verstoße zudem gegen § 13 Abs 3 SGB V sowie Art 1, 2, 3 Abs 1 und 4 GG. Er sei als Angehöriger der Zeugen Jehovas nicht verpflichtet gewesen, eine Operation mit Fremdblut zu akzeptieren, weil die notwendige Behandlung auch ohne solches habe erfolgen können. Seine religiösen Überzeugungen seien nicht hinreichend gegen die Interessen der Versichertengemeinschaft abgewogen worden, obwohl das SGB V dies vorsehe. Im Übrigen verletze das LSG-Urteil sein Recht auf Mitsprache an der Auswahl und Durchführung einer Therapie.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom sowie die Bescheide der Beklagten vom 6. September 2002 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Transportkosten in Höhe von 4.950 Euro zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zutreffend zurückgewiesen. Der Kläger hat gegen die beklagte Ersatzkasse keinen Anspruch auf Erstattung der von ihm für den Hubschrauberflug von Augsburg nach Fulda aufgewandten Kosten in Höhe von 4.950 Euro.

Einzige Anspruchsgrundlage für die Erstattung der Kosten ist § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 1 SGB V (hier anzuwenden in der seit geltenden Fassung des Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB IX> Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom , BGBl I 1046). Der Krankentransport stellt nach § 60 SGB V (hier anzuwenden in der bis geltenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes -GRG- vom BGBl I 2477) grundsätzlich eine Naturalleistung dar (vgl BSGE 83, 285, 286 = SozR 3-2500 § 60 Nr 3 S 13; BSGE 77, 119, 128 f = SozR 3-2500 § 133 Nr 1 S 11 f; BGHZ 140, 102 ff = NJW 1999, 858). Dass bei bestimmten in § 60 Abs 3 SGB V genannten Verkehrsmitteln mangels vertraglicher Beziehungen keine unmittelbare Abrechnung der Krankenkasse mit dem Leistungserbringer in Betracht kommt, rechtfertigt nicht den Schluss, der Naturalleistungsgrundsatz sei bei Krankenfahrten generell außer Kraft gesetzt (vgl BSGE 83, 285, 286 = SozR 3-2500 § 60 Nr 3 S 13). Ein Naturalleistungsanspruch nach § 60 SGB V kam für den Kläger jedoch von Anfang an nicht in Frage, denn der Hubschraubertransport am war schon durchgeführt worden, als die Beklagte mit der Angelegenheit befasst wurde (Antrag von Juli 2002).

Nach § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 1 SGB V ist eine Krankenkasse (KK) zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Dass es beim Transport um eine unaufschiebbare Leistung ging, ist zweifelhaft. Denn es spricht viel für die Ansicht des LSG, dass der Kläger, wenn er oder sein persönliches Umfeld in der Lage waren, das "Krankenhaus-Verbindungskomitee der Zeugen Jehovas" zur Abklärung von Operationsmöglichkeiten außerhalb Augsburgs und zur Organisation eines Hubschraubertransports einzusetzen, auch in der Lage gewesen wäre, die Beklagte einzuschalten. Die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 1 SGB V sind jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil der Kläger von der Beklagten den Hubschraubertransport nicht als Naturalleistung beanspruchen konnte.

Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Leistung - hier: Transport des Klägers von Augsburg nach Fulda - zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistungen zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom - B 1 KR 24/06 R - RdNr 11 mwN - LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen; zuletzt zB - RdNr 10, zur Veröffentlichung vorgesehen; - RdNr 11, zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt es. Die beklagte KK war nur zur stationären KH-Behandlung des Klägers in Augsburg verpflichtet, nicht hingegen in Fulda. Der Transport war nicht aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig. Die Beklagte musste damit auch nicht den Hubschraubertransport des Klägers zur Verlegung von einer Augsburger Klinik in eine Klinik in Fulda gewähren.

Versicherte haben - abgesehen von Fällen des Systemversagens - nur Anspruch auf Behandlung in zugelassenen und damit planungskonformen KHn (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V). Über ihre Leistungen und die Entgelte für die KH-Behandlung in den zugelassenen KHn im Land oder in einer Region informiert das Verzeichnis stationärer Leistungen und Entgelte (§ 39 Abs 3 Satz 1 SGB V). Die KKn haben darauf hinzuwirken, dass Vertragsärzte und Versicherte das Verzeichnis bei der Verordnung und Inanspruchnahme von KH-Behandlung beachten. Dementsprechend bestimmt § 73 Abs 4 Satz 3 und 4 SGB V, dass in der (vertragsärztlichen) Verordnung von KH-Behandlung in den geeigneten Fällen auch die beiden nächsterreichbaren, für die vorgesehene KH-Behandlung geeigneten KH anzugeben sind. Das Verzeichnis nach § 39 Abs 3 SGB V ist zu berücksichtigen. Während § 76 Abs 1 Satz 1 SGB V den Grundsatz der freien Arztwahl unter den für die vertragsärztliche Versorgung zugelassenen oder gleichgestellten Leistungserbringern statuiert, gibt es eine entsprechende ausdrückliche Regelung für den KH-Bereich nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Regelungen der §§ 39 Abs 2 und 76 Abs 2 SGB V zur Tragung von Mehrkosten durch Versicherte, wenn sie nicht den nächsterreichbaren, sondern einen entfernteren Leistungserbringer in Anspruch nehmen. Diese Vorschriften reduzieren vielmehr die Möglichkeit, Fahrkosten zu weiter entfernt liegenden Leistungserbringern zu beanspruchen (vgl bereits zu der § 184 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung <RVO> im wesentlichen entsprechenden Vorgängernorm § 368d Abs 2 RVO: BSG SozR 2200 § 368d Nr 4 mwN; siehe hierzu Schmidt in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 2, 19. Aufl Stand , § 39 SGB V, RdNr 299 ff, 317 ff).

An diese Regelungskonzeption knüpft § 60 SGB V für die Gewährung von Fahrkosten an und führt sie fort. Nach § 60 Abs 1 Satz 1 SGB V in seiner zum Zeitpunkt des hier betroffenen Transports im April 2002 anwendbaren Fassung des GRG übernehmen die KKn (als Naturalleistung) auch die Kosten für Fahrten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der KK notwendig sind. Dies gilt auch für die Kosten eines Transports per Hubschrauber, denn welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich gemäß § 60 Abs 1 Satz 2 SGB V nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Entscheidend für den Leistungsanspruch war schon nach dieser Fassung des § 60 Abs 1 Satz 1 SGB V allein die medizinische Notwendigkeit des Transports.

Hiergegen spricht nicht, dass die Vorschrift durch Art 1 Nr 37 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) vom (BGBl I 2190) mit Wirkung zum geändert und der Begriff "notwendig" durch den Zusatz "aus zwingenden medizinischen Gründen" ergänzt worden ist. In § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V wurde hinsichtlich stationärer Leistungen hinzugefügt, dass eine Kostenübernahme bei einer Verlegung in ein anderes KH nur erfolgen darf, wenn die Verlegung aus zwingenden medizinischen Gründen erforderlich ist. Mit dieser Ergänzung sollte nicht erstmals auf die medizinische Notwendigkeit des Krankentransports abgestellt werden. Vielmehr sollte auch bei den Verlegungsfahrten zwischen den KHn ausdrücklich die medizinische Notwendigkeit der jeweiligen Verlegungsfahrt "klarstellend hervorgehoben" werden (so ausdrücklich die Gesetzesbegründung BT-Drucks 15/1170 "Zu Nr 21 § 60 zu Buchstabe a und zu Buchstabe b zu Doppelbuchstabe aa" S 72).

Schon § 60 Abs 1 Satz 1 SGB V in der Fassung des GRG setzte somit voraus, dass die - sich allein nach medizinischen Kriterien bestimmende - "erforderliche Krankenhausbehandlung" (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V) nicht am Ausgangspunkt, sondern nur am Zielort der Verlegung verfügbar war, im Falle des Klägers also gerade nur in Fulda, nicht aber in Augsburg. Dies war hier nicht der Fall, sodass auch der Hubschraubertransport nicht aus medizinischen Gründen erforderlich war. Denn begehrt ein in ein KH aufgenommener Versicherter die Verlegung in ein anderes KH, obwohl er im Aufnahme-KH die "erforderliche Krankenhausbehandlung" (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V) erhalten kann, hat seine KK die Fahrkosten für die Verlegung nicht zu tragen. Dies gilt auch dann, wenn sich der Versicherte auf seine religiösen Bedürfnisse beruft, die Verlegung erfolgt und die KK die anschließende KH-Behandlung übernimmt. So liegt es hier.

Der Kläger hätte auch im Augsburger KH, in das er schon aufgenommen worden war, nach den Regeln der ärztlichen Kunst operiert werden können. Einer Verlegung nach Fulda bedurfte es nicht aus medizinischen Gründen. Die Verlegung erfolgte allein aus religiös motivierten Gründen des Klägers. Nur das KH in Fulda war bereit, die Operation unter dem Verspechen des vom Kläger gewünschten Verzichts auf die Gabe von Fremdblut durchzuführen (zur ablehnenden Haltung der Zeugen Jehovas zu Bluttransfusionen vgl allgemein: Debong, ArztR 2004, 88, 91; Bender, MedR 1999, 260, 261; Hessier/Glockentin, MedR 2000, 419).

Die durch das Grundgesetz gewährleistete Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art 4 Abs 1 GG) führen nicht dazu, dass die religiös motivierte Ablehnung von Bluttransfusionen einer medizinisch notwendigen Verlegung des Versicherten von einem KH in ein anderes gleichzustellen ist. Sie begründen keine krankenversicherungsrechtlichen Leistungsansprüche. Zwar ist nach § 2 Abs 3 Satz 2 SGB V bei der Auswahl der Leistungserbringer den religiösen Bedürfnissen der Versicherten Rechnung zu tragen. Das Rücksichtnahmegebot bzgl religiöser Bedürfnisse lässt aber weder das tatbestandliche Erfordernis eines - wie dargelegt - allein aus medizinischen Gründen erforderlichen Krankentransports noch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V entfallen (vgl auch BSGE 81, 189, 198f = SozR 3-2500 § 111 Nr 1 S 11f zum fehlenden Zulassungsanspruch einer Vorsorge- und Rehabilitations-Einrichtung bei Berufung allein auf besondere religiöse Bedürfnisse von Versicherten einer bestimmten Glaubensrichtung). Eine leistungsrechtliche Privilegierung krankenversicherter Angehöriger einer bestimmten Glaubensgemeinschaft - hier: der Zeugen Jehovas -, die im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG der Rechtfertigung bedürfte, kann aus Art 4 Abs 1 GG als einem klassischen Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat nicht hergeleitet werden (zum Abwehrcharakter des Art 4 GG vgl BSG SozR 4-2200 § 589 Nr 1 RdNr 16 mwN betreffend die Verweigerung einer notwendigen Fremdbluttransfusion nach Arbeitsunfall; siehe auch BVerfGE 93, 1, 16; BVerfGE 32, 98, 106).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Fundstelle(n):
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2007 S. 4248
EAAAC-76398