BAG Urteil v. - 2 AZR 324/06

Leitsatz

[1] Die Zustimmung des Integrationsamtes ist nicht nach § 90 Abs. 2a SGB IX entbehrlich, wenn im Zeitpunkt der Kündigung eine - nicht rechtskräftige und später aufgehobene - Entscheidung des Versorgungsamtes vorliegt, mit der ein unter 50 GdB liegender Grad der Behinderung festgestellt wird.

Gesetze: SGB IX § 85; SGB IX § 90; SGB IX § 69

Instanzenzug: ArbG Düsseldorf, 13 Ca 5791/04 vom LAG Düsseldorf, 8 Sa 1052/05 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf personenbedingte Gründe gestützten ordentlichen Kündigung.

Die 1956 geborene Klägerin trat Ende 1980 in die Dienste der beklagten Fluggesellschaft. Im April 2003 wurde bei der Klägerin Fluguntauglichkeit festgestellt. Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt Düsseldorf die Feststellung der Schwerbehinderung. Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin wegen Fluguntauglichkeit zum . In dem anschließenden Kündigungsschutzprozess obsiegte die Klägerin rechtskräftig, weil die Kündigung sozialwidrig sei ( -).

Nachdem mit Bescheid vom nur ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt worden war, legte die Klägerin Widerspruch ein und stellte gleichzeitig einen Antrag auf Gleichstellung. Beides teilte sie der Beklagten im Januar 2004 (im Vorprozess) mit. Der Widerspruch wurde mit Bescheid der Bezirksregierung Münster vom zurückgewiesen. Hiergegen erhob die Klägerin im März 2004 Klage, mit dem Antrag, einen Behinderungsgrad von mindestens 60 festzustellen. Dem kam die Bezirksregierung Münster im Jahre 2005 mit Wirkung zum in einem Vergleich nach.

Mit Schreiben vom kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut wegen der Fluguntauglichkeit der Klägerin zum .

Mit Schreiben vom hatte die Beklagte beim Integrationsamt einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin gestellt. Dieser wurde mit einem am bei der Beklagten eingegangenen Bescheid zurückgewiesen; die Ermittlungen hätten ergeben, dass die Klägerin nicht als schwerbehinderter Mensch anerkannt sei. Auch liege keine Gleichstellung vor.

Die Klägerin hält die Kündigung für sozialwidrig, weil ausreichende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestünden. Im Lauf des erstinstanzlichen Verfahrens hat sie außerdem die Auffassung vertreten, die Kündigung sei gem. § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB unwirksam.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat sich auf die Fluguntauglichkeit der Klägerin berufen und die Auffassung vertreten, einer Zustimmung des Integrationsamtes habe es im vorliegenden Fall nicht bedurft, da die Schwerbehinderung der Klägerin zum Zeitpunkt der Erklärung sowie des Zugangs der streitgegenständlichen Kündigung gem. § 90 Abs. 2a SGB IX nicht nachgewiesen gewesen sei.

Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin Abweisung der Klage.

Gründe

Die Revision ist unbegründet.

A. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei nach § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB unwirksam, da die Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung schwerbehindert gewesen sei. Das folge aus der im sozialgerichtlichen Verfahren rückwirkend zum getroffenen vergleichsweisen Regelung. Das vom Integrationsamt mit Bescheid vom erteilte Negativattest könne daran nichts ändern, weil es erst nach Kündigung ergangen sei. Auch aus § 90 Abs. 2a SGB IX ergebe sich kein für die Beklagte günstigeres Ergebnis. Die Vorschrift wolle lediglich dann den Sonderkündigungsschutz entfallen lassen, wenn der Schwerbehinderte die Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX missachtet oder bei seiner Bescheidung nicht mitgewirkt habe. Aus dieser Vorschrift könne aber weder abgeleitet werden, dass bei Kündigung dem Arbeitgeber ein entsprechender Bescheid über die Behinderung vorgelegen haben müsse, noch - gewissermaßen umgekehrt - dass ein bei Kündigung dem Arbeitgeber vorliegender, die Schwerbehinderung verneinender, aber nicht bestandskräftiger und später aufgehobener Bescheid die Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung entfallen lasse. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht ausreichend an dem Anerkennungsverfahren mitgewirkt habe, lägen nicht vor.

B. Dem stimmt der Senat im Ergebnis und in weiten Teilen der Begründung zu.

Die Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht auflösen können. Sie ist nach § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB unwirksam.

I. Die Tatbestandsmerkmale des § 85 SGB IX sind erfüllt. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs unstreitig schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 60. Die entsprechenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts greift die Revision auch nicht an. Die Kündigung hätte demnach der Zustimmung des Integrationsamtes bedurft, die nicht vorliegt.

II. Das sog. Negativattest vom konnte an der Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung nichts ändern. Ein auf einen form- und fristgerecht eingereichten Antrag des Arbeitgebers ergehendes Negativattest beseitigt, jedenfalls, wenn es bestandskräftig ist, ebenso wie die Zustimmung des Integrationsamtes die zunächst bestehende Kündigungssperre. Dies hat das Bundesarbeitsgericht bereits mehrfach zu den Vorgängerregelungen des § 85 SGB IX entschieden (vgl. - 7 AZR 482/81 - BAGE 42, 169; - 2 AZR 369/63 - BAGE 17, 1; - 2 AZR 675/03 - AP SGB IX § 85 Nr. 1; AR-Blattei-Neumann SD 1440.2 Stand August 2007 Rn. 82; KR-Etzel 8. Aufl. SGB IX §§ 85 - 90 Rn. 54 mwN). Da das Negativattest aber nur an die Stelle der an sich erforderlichen Zustimmung treten kann, muss es vor dem Ausspruch der Kündigung vorliegen. Das war hier nicht der Fall.

III. Die Zustimmung war auch nicht nach § 90 Abs. 2a SGB IX entbehrlich.

1. Die Beklagte meint, nach § 90 Abs. 2a SGB IX sei die Kündigung hier deshalb nicht zustimmungspflichtig gewesen, weil - was zutrifft - im Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderung nicht nachgewiesen gewesen sei. Dieser Auffassung folgt der Senat nicht.

a) Nach der Rechtsprechung des Senats muss § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX als Einschränkung der ersten Alternative des § 90 Abs. 2a SGB IX verstanden werden.

Grundsätzlich findet der Sonderkündigungsschutz daher zwar keine Anwendung, wenn - wie hier - zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bzw. Gleichgestellter nicht nachgewiesen ist (§ 90 Abs. 2a 1. Alt. SGB IX). Dagegen bleibt nach § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX bei bestehender Schwerbehinderung der Sonderkündigungsschutz trotz fehlenden Nachweises bestehen, wenn der Antrag so frühzeitig vor Kündigungszugang gestellt worden ist, dass eine Entscheidung vor Ausspruch der Kündigung - bei ordnungsgemäßer Mitwirkung des Antragstellers - binnen der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX möglich gewesen wäre (Senat - 2 AZR 217/06 - DB 2007, 1702; so auch ErfK/Rolfs 7. Aufl. § 90 SGB IX Rn. 5; Bitzer NZA 2006, 1082; Lorenz FA 2007, 198; Rolfs/Barg BB 2005, 1678; Göttling NZA-RR 2007, 281; - NZA-RR 2007, 133; -; -; -; aA KR-Etzel 8. Aufl. §§ 85 - 90 SGB IX Rn. 53d; Schlewing NZA 2005, 1218; Griebeling NZA 2005, 494; Grimm/Brock/Windeln DB 2005, 282; - NZA 2006, 1108).

b) Der Antrag muss also mindestens drei Wochen vor der Kündigung gestellt sein. Ist dies der Fall und beruht das Fehlen des Nachweises nicht auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers, so bleibt der Sonderkündigungsschutz erhalten (Senat - 2 AZR 217/06 - DB 2007, 1702).

2. Die Zustimmung des Integrationsamtes ist entgegen der Auffassung der Revision auch dann nicht entbehrlich, wenn im Zeitpunkt der Kündigung eine - nicht rechtskräftige und später aufgehobene - Entscheidung des Versorgungsamtes vorliegt, mit der ein unter 50 GdB liegender Grad der Behinderung festgestellt wird.

a) Der Revision ist zuzugeben, dass in der arbeitsrechtlichen Literatur die Auffassung vertreten wird, der Sonderkündigungsschutz entfalle, wenn der Antrag auf Anerkennung vor Kündigungsausspruch abschlägig beschieden sei und dies gelte auch dann, wenn auf Widerspruch oder Klage später die Anerkennung erfolge (vgl. Schlewing NZA 2005, 1218, 1221). Der Wortlaut des § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX beziehe sich nur auf das "Erstverfahren".

b) Der Senat kann sich dieser Auffassung jedoch nicht anschließen. Das Gesetz ordnet in § 90 Abs. 2a SGB IX den Verlust des Sonderkündigungsschutzes in solchen Fällen nicht an. Eine so weitgehende Folge wie die faktische Entziehung des Rechtsschutzes gegen unrichtige Feststellungen des Versorgungsamtes hätte das Gesetz unmissverständlich und eindeutig festlegen müssen. Das ist indes nicht geschehen (so überzeugend: Großmann GK-SGB IX Stand Mai 2007 § 90 SGB IX Rn. 83 ff.). Der Gesetzgeber wollte ausschließen, "dass ein besonderer Kündigungsschutz auch für den Zeitraum gilt, in dem ein in der Regel aussichtsloses Anerkennungsverfahren betrieben wird." Damit soll nicht schlechthin jedes Betreiben eines Anerkennungsverfahrens in der Zeit nach Zugang einer Kündigung obsolet gemacht werden, sondern nur das in der Regel aussichtslose, weil im Wesentlichen nicht mit Rücksicht auf eine mögliche Behinderung des Gekündigten, sondern zum Zweck der Behinderung der Kündigungsabsicht missbräuchlich eingeleitete Anerkennungsverfahren (vgl. Düwell BB 2004, 2811; ders. Jahrbuch f. Arbeitsrecht 2005 91, 99). Ein in allen Fällen eines noch nicht positiv beschiedenen Anerkennungsantrags eingreifender Ausschluss des Sonderkündigungsschutzes müsste im Übrigen, wenn er vom Gesetzgeber angeordnet worden wäre, auch unter dem Gesichtspunkt des grundrechtlichen Benachteiligungsverbots in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG betrachtet werden. Abgesehen davon ist § 90 Abs. 2a SGB IX als eine von mehreren Ausnahmen von der in § 85 SGB IX enthaltenen Regeln gefasst. Es erscheint nicht unbedenklich, einer Ausnahmevorschrift einen über ihren Wortlaut und ihr vom Gesetzgeber ausdrücklich erwähntes Ziel hinausgehenden Wirkungsbereich zu geben.

IV. Die Klägerin hat den Sonderkündigungsschutz auch nicht verwirkt.

1. Hat der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits einen Bescheid über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhalten oder wenigstens einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt, so steht ihm der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX - abgesehen von den sich aus § 90 SGB IX ergebenden Ausnahmen - auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung nichts wusste. Dies ergibt sich schon daraus, dass § 85 iVm. § 2 SGB IX aF lediglich auf den Grad der Behinderung, nicht auf dessen behördliche Feststellung abstellt. Das hat der Senat bisher für §§ 85 ff. SGB IX aF entschieden. Ein Grund, dies nach der teilweisen Neufassung der §§ 85 ff. SGB IX anders zu sehen (vgl. - EzA SGB IX § 85 Nr. 5), besteht nicht. Allerdings beurteilt der Senat die Verwirkung des Rechts des Arbeitnehmers, sich im Prozess auf eine Schwerbehinderung zu berufen und die Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung geltend zu machen, nach strengen Grundsätzen ( - 2 AZR 469/78 - AP SchwbG § 12 Nr. 5 = EzA SchwbG § 12 Nr. 6; - 2 AZR 462/76 - BAGE 30, 141; - 2 AZR 369/79 -). Danach muss der Arbeitnehmer, wenn er sich den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX aF erhalten will, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist, die bisher mit einem Monat (in Zukunft wohl: drei Wochen, vgl. - AP SGB IX § 85 Nr. 3 = EzA SGB IX § 85 Nr. 5) angenommen wurde, gegenüber dem Arbeitgeber seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft geltend machen. Unterlässt der Arbeitnehmer diese Mitteilung, so hat der Arbeitnehmer den besonderen Kündigungsschutz verwirkt.

2. Die Verwirkung setzt jedoch voraus, dass der Arbeitgeber die Schwerbehinderung oder den Antrag nicht kennt und deshalb mit der Zustimmungspflichtigkeit der Kündigung nicht rechnen kann. Diese Voraussetzung ist hier nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht gegeben. Die Beklagte wusste bei Ausspruch der Kündigung aus dem Vorprozess, dass die Klägerin ihre Anerkennung als Schwerbehinderte durch einen Antrag beim Versorgungsamt betrieb. Die Beklagte wusste gleichfalls, dass die Klägerin sich mit der Feststellung eines Behinderungsgrades von 30 nicht zufrieden gab. Immerhin hatte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung beantragt.

C. Die Kosten ihrer erfolglosen Revision fallen der Beklagten nach § 97 Abs. 1 ZPO zur Last.

Fundstelle(n):
BB 2008 S. 899 Nr. 17
DB 2008 S. 1105 Nr. 20
NWB-Eilnachricht Nr. 21/2008 S. 1984
WAAAC-73265

1Für die amtliche Sammlung: ja; Für die Fachpresse: nein