Nichtberücksichtigung des Akteninhalts als Verfahrensmangel
Gesetze: FGO § 96; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Instanzenzug:
Gründe
I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist Alleinerbe seines im Jahr 1982 verstorbenen Großvaters (G), zu dessen Nachlass eine Briefmarkensammlung gehörte. Für diesen Erwerb setzte die damals zuständige Finanzbehörde der DDR gegen den Kläger Erbschaftsteuer in Höhe von ... Mark der DDR (Mark) fest. Der Antrag des Klägers, diese Steuerfestsetzung nach Art. 19 Satz 2 des Einigungsvertrags (EinigVtr) wegen Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzuheben, blieb erfolglos (vgl. , BFH/NV 2006, 589).
Der Kläger und seine Mutter (M) sind je zur Hälfte Miterben des ebenfalls 1982 verstorbenen Vaters (V) des Klägers, dessen Nachlass u.a. aus einer Münzsammlung und weiteren Sammlungen bestand. Nachdem die zuständige Finanzbehörde der DDR im Rahmen eines Steuerfahndungs- und strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens von der Zusammensetzung und Höhe des Nachlasses erfahren hatte, setzte sie gegen den Kläger Vermögensteuer in Höhe von insgesamt ... Mark für die Jahre 1983 bis 1985, von ... Mark für 1986, von ... Mark für 1987 und von ... Mark für 1988 fest. Sie nahm dabei an, dass V Alleineigentümer der Münzsammlung gewesen war und der Kläger als dessen Erbe hälftiges Miteigentum daran erworben hatte. Sie bezog daher die Hälfte des angesetzten Werts der Münzsammlung von insgesamt ... Mark in die Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer bis 1987 ein.
Der Kläger stimmte nach dem vom Finanzgericht (FG) in seinem im I. Rechtsgang ergangenen Urteil in Bezug genommenen Protokoll der Steuerfahndungsstelle des Rates des Bezirkes…—Abt. Finanzen/Steuern— vom der Verwendung der von G geerbten Briefmarkensammlung zur Tilgung der genannten Steuerschulden sowie weiterer Steuerschulden (Vermögensteuernachzahlung für G, Erbschaftsteuer für den Erwerb von Todes wegen von V) zu. M ihrerseits stellte nach dem Schlussbericht der o.g. Steuerfahndungsstelle vom , auf den das FG in dem Urteil ebenfalls verwiesen hat, zur Tilgung ihrer eigenen Steuerschulden (Erbschaftsteuer, Vermögensteuer) sowie der Steuerschulden des Klägers die Münzsammlung zur Verfügung. Zur Realisierung der Steuerschulden nicht benötigte Sammlungsgegenstände wurden an den Kläger und M zurückgegeben.
Das seinerzeit zuständige Finanzamt (FA) lehnte den Antrag des Klägers, die Vermögensteuerbescheide für die Jahre 1983 bis 1988 nach Art. 19 Satz 2 EinigVtr aufzuheben, ab und wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Das FG verpflichtete das FA im I. Rechtsgang, den zusammengefassten Vermögensteuerbescheid für die Jahre 1983 bis 1985 aufzuheben, soweit eine höhere Steuer als ... Mark festgesetzt worden war, und die Vermögensteuerbescheide für die Jahre 1986 und 1987 aufzuheben, soweit jeweils eine höhere Steuer als ... Mark festgesetzt worden war. Diese Vermögensteuerbeträge ergeben sich, wenn man die Münzsammlung bei der Bemessungsgrundlage der Steuer jeweils statt mit ... Mark lediglich mit ... Mark berücksichtigt. Im Übrigen wies das FG die Klage ab.
Die Beschwerde des FA wegen Nichtzulassung der Revision führte zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG durch den (BFH/NV 2006, 587).
Das FG wiederholte im II. Rechtsgang seine im Urteil im I. Rechtsgang ergangene Entscheidung und führte zur Begründung aus, die Steuerbescheide seien in dem von ihm genannten Umfang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen i.S. des Art. 19 Satz 2 EinigVtr unvereinbar. Sie wiesen schwerwiegende materiell-rechtliche Fehler auf und hätten nur dem sachfremden Zweck gedient, das Vermögen und die Kunstgegenstände des Klägers und seiner Angehörigen über die Besteuerung einzuziehen. Nach dem Familienrecht der DDR habe die Münzsammlung in gemeinschaftlichem Eigentum von V und M gestanden. Dies sei bei der Besteuerung bekannt gewesen. Ziel der Abweichung von der zivilrechtlichen Rechtslage sei es gewesen, durch die Zuordnung des Vermögens zu einer Person bei dieser allein die Besteuerung durchführen zu können. Wären die familienrechtlichen Regelungen beachtet worden, hätte nicht nur V eine geringere vermögensteuerliche Belastung zu tragen gehabt, sondern hätte auch der Kläger nur den hälftigen Anteil seines Vaters an der Sammlung geerbt. Die Bemessungsgrundlage der (hier nicht streitigen) Erbschaftsteuer wäre ebenfalls wesentlich vermindert worden. Die unrichtige Verteilung der der Vermögensteuer zugrunde liegenden Gegenstände habe das Ziel gefördert, die Möglichkeit zur Verwertung zumindest von Teilen der Sammlung zu erlangen. Wären die maßgeblichen zivilrechtlichen Vorschriften beachtet worden, hätte der Kläger eine geringere und M eine ähnlich hohe Steuerbelastung zu tragen gehabt. Dies hätte für den Staat das Risiko begründet, dass eine auf mehrere Köpfe verteilte Steuer von diesen leichter zu tragen gewesen wäre. Damit wäre das Ziel, in den Besitz der wertvollen Münzsammlung zu kommen, gefährdet gewesen. Die willkürliche Zuordnung von Vermögensgegenständen in der Person des Klägers sei damit Ausdruck einer politisch motivierten Willkürmaßnahme und mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar gewesen.
Die Anforderungen des Art. 19 Satz 2 EinigVtr seien auch dann erfüllt, wenn der zu hohen Steuerfestsetzung gegenüber dem Kläger eine entsprechend unterlassene Steuerfestsetzung gegenüber M gegenüberstünde. Sofern materiell-rechtlich dem Fiskus der DDR der gleiche Steuerbetrag zugestanden hätte, wenn er die Münzsammlung zutreffend zugeordnet hätte, hätte er nicht in gleicher Weise das Ziel verfolgen können, die Möglichkeit zur Verwertung zumindest von Teilen der Sammlung zu erlangen, da eine niedrigere Steuerbelastung von zwei Personen das Risiko des Unrechtsstaates erhöht hätte, dass die Steuern nicht durch die Verwertung der Münzsammlung, sondern durch andere Mittel der Steuerpflichtigen hätten getilgt werden können. Dagegen spreche auch nicht, dass die Verwertung der Münzsammlung im Einvernehmen mit dem Kläger gestanden haben solle. Denn die Begleichung einer geringeren Steuerlast wäre für ihn leichter zu bewältigen gewesen als die wegen der Zuordnung der gesamten Münzsammlung in seiner Person kumulierte Steuerlast. Die vom FA angeführte Saldierung würde im Ergebnis auf eine Haftung der Familienmitglieder für die Steuerschuld hinauslaufen.
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das während des Beschwerdeverfahrens zuständig gewordene FA) macht zur Begründung seiner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision geltend, das FG habe dadurch gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verstoßen, dass es seiner Entscheidung die unzutreffende Annahme zugrunde gelegt habe, die Zuordnung der gesamten Münzsammlung zum Vermögen des Klägers habe zu einer Kumulierung der Steuerlast in dessen Person und zu einer insgesamt höheren Steuerbelastung beim Kläger und M geführt und so die Chancen des Staates erhöht, die Münzsammlung verwerten zu können. Es macht außerdem Divergenz zur Rechtsprechung des BFH geltend.
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Die Vorentscheidung weist den vom FA gerügten Verfahrensmangel auf und kann auf diesem Mangel beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO muss das FG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens entscheiden. Diese Vorschrift verpflichtet das FG, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (BFH-Beschlüsse vom II B 29/00, BFH/NV 2002, 512, m.w.N., und in BFH/NV 2006, 587). Sachverhaltsunterstellungen entsprechen dann nicht dem Gesamtergebnis der Verhandlung, wenn sie durch keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen werden (, BFH/NV 1996, 554).
b) Diesen Anforderungen des § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO wird die Vorentscheidung nicht gerecht. Die vom FG seiner Entscheidung zugrunde gelegte Annahme, wegen der Zuordnung der gesamten Münzsammlung zum Vermögen des Klägers sei es zu einer Kumulierung der Steuerlast in dessen Person gekommen, widerspricht dem klaren Inhalt der Akten und der vom FG selbst getroffenen Feststellung, dass V vom Kläger und von M je zur Hälfte beerbt wurde. Das FG hat in den tragenden Gründen seiner Entscheidung nicht beachtet, dass bereits die zuständige Steuerbehörde der DDR die durch die Münzsammlung begründete Vermögensteuerbelastung entsprechend den Erbquoten im Verhältnis 50 : 50 auf den Kläger und M verteilt hatte.
Die Annahme des FG, eine das hälftige Miteigentum der Eheleute V und M an der Münzsammlung berücksichtigende Besteuerung hätte das Ziel gefährdet, die Münzsammlung verwerten zu können, ist zudem eine Sachverhaltsunterstellung, die nicht durch entsprechende tatsächliche Feststellungen getragen wird. Das FG hat die Auswirkungen einer solchen Besteuerung auf die Höhe der insgesamt vom Kläger und von M geschuldeten Steuerbeträge und die diesen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Tilgung nicht geprüft und dazu keine Feststellungen getroffen. Eine von hälftigem Miteigentum der Eheleute V und M an der Münzsammlung ausgehende Besteuerung hätte zu einer niedrigeren Festsetzung von Erbschaftsteuer gegenüber dem Kläger und M für den Erwerb von V, zu einer Verminderung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer des Klägers um 1/4 des Werts der Münzsammlung und zu einer entsprechenden Erhöhung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer der M sowie sowohl beim Kläger als auch bei M zu einer Erhöhung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer um den jeweiligen Minderbetrag der als Steuerschuld abgezogenen Erbschaftsteuer geführt. Unberührt geblieben wären die Erbschaftsteuer für den Erwerb von G und die Vermögensteuernachzahlungen des Klägers für G für 1977 bis 1982 sowie die gegen M festgesetzte Vermögensteuer für die Jahre 1977 bis 1982. Ob bei einer der zivilrechtlichen Beurteilung durch das FG entsprechenden Besteuerung das nach dessen Ansicht bestehende Ziel der Behörden der DDR, die Münzsammlung verwerten zu können, ernstlich gefährdet worden wäre, kann nur aufgrund entsprechender Berechnungen entschieden werden.
2. Für das weitere Verfahren wird vorsorglich darauf hingewiesen, dass bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des Art. 19 Satz 2 EinigVtr aufgrund einer überhöhten Vermögensteuerfestsetzung gegenüber dem Kläger und der damit nach Auffassung des FG verfolgten rechtsstaatswidrigen Zielsetzung hinsichtlich der Münzsammlung vorliegen, auch zu berücksichtigen sein wird, dass jedenfalls nach Aktenlage nicht der Kläger, sondern M die Münzsammlung zur Tilgung der Steuerschulden zur Verfügung gestellt hat. Sollte das FG erneut zu dem Ergebnis kommen, die Anforderungen des Art. 19 Satz 2 EinigVtr seien erfüllt, wird ferner zu prüfen sein, ob die Verminderung der Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer um 1/4 des Werts der Münzsammlung dadurch teilweise zu kompensieren ist, dass bei einer von hälftigem Miteigentum der Eheleute V und M an der Münzsammlung ausgehenden Besteuerung die Erbschaftsteuer niedriger festzusetzen gewesen wäre und sich die Bemessungsgrundlage der Vermögensteuer entsprechend erhöht hätte.
3. Es erscheint sachgerecht, den Rechtsstreit nach § 116 Abs. 6 FGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, um ihm die Nachholung entsprechender Feststellungen zu ermöglichen. Auf die vom FA geltend gemachten übrigen Gründe für die Zulassung der Revision kommt es danach nicht mehr an.
Fundstelle(n):
DAAAC-45150