BSG Urteil v. - B 7 AL 56/02 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: AFG § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3

Instanzenzug: SG Frankfurt vom

Gründe

I

Die Beteiligten streiten (noch) darüber, ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und Arbeitslosenhilfe (Alhi) für folgende Zeiten aufgehoben hat: 19. März bis , 14. Mai bis , 14. Juli bis , 30. September bis .

Der 1967 geborene Kläger bezog - nach einer Beschäftigung vom bis - von der Beklagten ab Alg (Bewilligungsbescheid vom ; Änderungsbescheid vom Januar 1997 wegen Inkrafttretens der Leistungsentgeltverordnung 1998) und ab Anschluss-Alhi (Bescheid vom ). Während des Bezugs dieser Leistungen befand sich der Kläger in folgenden Zeiträumen im Ausland (China, Jugoslawien, Österreich), ohne dass dies der Beklagten bekannt war: 5. März bis , 30. April bis , 6. Juni bis , 24. Juli bis , 1. September bis . Von diesen Auslandsaufenthalten erfuhr die Beklagte erst anlässlich eines Auskunftsersuchens der Grenzpolizeistation P. -Bahnhof vom . Der Beklagten war vom Kläger lediglich ein Auslandsaufenthalt vom 28. Juli bis vorab mitgeteilt worden (am ), für den sie auch vorab die Feststellung getroffen hat, dass dieser einer Verfügbarkeit nicht entgegenstehe (§ 3 Aufenthalts-Anordnung <Aufenthalts-AnO>).

Nachdem die Beklagte dem Kläger Gelegenheit gegeben hatte, sich zum Vorwurf des unrechtmäßigen Leistungsbezugs im Zeitraum vom bis zu äußern (Schreiben vom ), hob sie die Bewilligung von Alg/Alhi (Bescheide vom und ) für die Zeit vom bis , vom 24. Juli bis und für die Zeit vom bis auf, weil der Kläger, der sich nur am 23. Juli, 19. August und gemeldet habe, dem Arbeitsmarkt außer am 23. Juli und in der Zeit vom 28. Juli bis 31. August durchgehend nicht zur Verfügung gestanden habe; insgesamt seien von ihm 8.380,30 DM zu erstatten (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

Während die Klage beim Sozialgericht (SG) ohne Erfolg blieb (Urteil vom ), hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG abgeändert und den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben, soweit es die noch streitigen Zeiträume betrifft (19. März bis , 14. Mai bis , 14. Juli bis <die Angabe "23. Juli" im Tenor des LSG-Urteils beruht auf einem Versehen> und 30. September bis ). Zur Begründung seiner Entscheidung (Urteil vom ) hat das LSG ausgeführt, nur für die Zeiträume vom 5. März bis , vom 30. April bis , 6. Juni bis , vom bis sowie vom 1. September bis stehe fest, dass sich der Kläger ohne Genehmigung der Beklagten im Ausland aufgehalten habe und somit nicht verfügbar iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gewesen sei. Hinsichtlich dieser Zeiträume habe die Beklagte deshalb zu Recht gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) iVm § 152 Abs 3 AFG bzw gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X iVm § 152 Abs 2 AFG die Bewilligung von Alg und Alhi aufgehoben bzw zurückgenommen. Die Überzahlung beruhe, soweit es die Zahlung von Alg bis betreffe, darauf, dass der Kläger grob fahrlässig seine Auslandsaufenthalte nicht mitgeteilt habe; ihm sei seine Mitteilungspflicht bekannt gewesen. Er sei auch grob fahrlässig in Unkenntnis darüber gewesen, dass er ab keinen Anspruch auf Alhi gehabt habe. Soweit es die Aufhebung der Bewilligung für die Zeiträume vom 19. März bis , 14. Mai bis , 14. Juli bis und 30. September bis betreffe, könne jedoch nicht festgestellt werden, dass der Kläger nicht iS des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG erreichbar gewesen sei. Es könne auch nicht unter Berücksichtigung der Entscheidung des , SozR 3-4100 § 103 Nr 9) von einer durchgehenden Nichtverfügbarkeit des Klägers ausgegangen werden. Dies wäre nur dann möglich, wenn feststünde, dass der Arbeitslose wiederkehrend mehrtägig ortsabwesend sei, ohne dass die Tage künftiger Abwesenheit festlägen. Insoweit habe das BSG allerdings betont, dass nur bei Vorliegen besonderer Umstände der Schluss auf eine durchgehende fehlende Verfügbarkeit gerechtfertigt sei. Diese Voraussetzungen seien beim Kläger nicht erfüllt.

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG iVm § 1 Satz 1 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über den Aufenthalt von Arbeitslosen während des Leistungsbezugs (AufenthaltsAnO). Sie ist der Ansicht, entgegen der Auffassung des LSG sei davon auszugehen, dass der Kläger während des gesamten Zeitraums vom bis zu dem seiner Vorsprache am vorausgehenden Tag, in der Zeit danach bis zu seinem "genehmigten Urlaub", also vom 24. Juli bis , und nach seinem genehmigten Urlaub in der Zeit vom bis durchgängig nicht verfügbar gewesen sei. Rechtlich folge dies aus der Entscheidung des (SozR 3-4100 § 103 Nr 9). Die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsämter werde nach dieser Entscheidung dann beeinträchtigt, wenn Tage der Anwesenheit mit solchen der Abwesenheit wechselten und vorausschauend nicht feststehe, an welchen Tagen der Arbeitslose erreichbar sei und an welchen nicht. Das LSG habe diese Grundsätze zwar erwähnt, ihre Reichweite jedoch verkannt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in vollem Umfang zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er verweist auf die seines Erachtens zutreffenden Entscheidungsgründe des LSG-Urteils.

II

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist lediglich das Begehren des Klägers, den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben, soweit dieser für die noch streitigen Zeiträume die Bescheide über die Bewilligung von Alg und Alhi aufgehoben hat. Mangels entsprechender Entscheidung durch das LSG ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens der sich daraus ergebende Erstattungsanspruch der Beklagten (§ 50 Abs 1 SGB X), den sie im angefochtenen Bescheid mit 8.380,30 DM beziffert. Über diesen Erstattungsanspruch hat das LSG weder im Tenor seiner Entscheidung noch in den Entscheidungsgründen befunden. Auch eine Urteilsergänzung (§ 140 SGG) ist nicht erfolgt. Allerdings wird das LSG darüber nach der Zurückverweisung zu befinden haben, weil der Rechtsstreit damit in die ursprüngliche Situation zurückversetzt wird (vgl nur - mwN).

Ob die Beklagte die Bewilligungen von Alg und Alhi für die noch streitigen Zeiträume gemäß §§ 45, 48 SGB X iVm § 330 Abs 2 und 3 SGB III (wegen des Geltungszeitraumprinzips ist § 152 AFG nicht anwendbar, vgl nur BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 1 S 3 mwN) aufheben durfte, steht noch nicht fest. § 48 SGB X ist einschlägig, soweit es die Aufhebung der Alg-Bewilligung, §§ 45, 48 SGB X, soweit es die Alhi-Bewilligung betrifft. Eine Aufhebung wäre gerechtfertigt, wenn der Kläger die Voraussetzungen für den Bezug des Alg ab nicht mehr (§ 48 SGB X) bzw für den Bezug der Alhi zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses ab nicht erfüllt hat (§ 45 SGB X) und in der Zeit ab wiederum nicht mehr erfüllt hat (§ 48 SGB X). Vorliegend hat das LSG lediglich die Erreichbarkeit des Klägers (§§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3, 134 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG iVm AufenthaltsAnO vom <ANBA 769> - jeweils in der letzten bis geltenden Fassung) überprüft. Nach § 1 der AufenthaltsAnO muss das Arbeitsamt den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift erreichen können. Dass diese Voraussetzungen nicht mehr bzw nicht vorlagen, "kann" - wie das LSG formuliert - für die noch streitigen Zeiträume "nicht festgestellt werden" bzw "lagen insoweit für eine fehlende Erreichbarkeit keine Anhaltspunkte vor". Nach den allgemeinen Regeln der objektiven Beweislast würde zwar die Beklagte die Nachteile einer Nichterweislichkeit zu tragen haben; es ist jedoch zweifelhaft, was das LSG mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen wollte. Sie macht nicht deutlich, ob das LSG von einer Nichterweislichkeit der für die Beurteilung der Erreichbarkeit maßgeblichen Tatsachen ausgegangen ist oder aber davon, dass diese Tatsachen vorlagen. Wäre letzteres anzunehmen, wäre gleichwohl fraglich, ob die Ausführungen des LSG die für die Beurteilung der Erreichbarkeit maßgeblichen Tatsachenfeststellungen enthalten. Denn das LSG hat lediglich einen Rechtsbegriff gebraucht, ohne dass deutlich wird, zu welchen damit verbundenen Tatfragen eine Aussage gemacht werden sollte (zu diesem Problem BSG SozR 3-4100 § 64 Nr 3 S 18).

Selbst wenn man aber von einer Aussage des LSG ausginge, dass es nicht nachweisbar sei, ob alle für die Beurteilung der Erreichbarkeit maßgeblichen Fakten vorlagen, hätte das LSG, ausgehend von seiner Rechtsansicht, prüfen müssen, ob sich die Beweislast wegen der fehlenden Mitwirkung des Klägers nicht umkehrt (vgl grundlegend zur Beweislast BSGE 71, 256, 260 ff = SozR 3-4100 § 119 Nr 7; s auch BSGE 89, 243, 247 = SozR 3-4300 § 144 Nr 8) und deshalb der Kläger so behandelt werden müsste, als wäre er nicht erreichbar gewesen.

Eine nur die noch streitigen Einzelzeiträume betreffende - also punktuelle - Beweislastentscheidung auf der Basis des LSG-Urteils über die Trennung der einzelnen Zeiträume scheidet jedoch aus, weil nach der Entscheidung des 11. Senats des (SozR 3-4100 § 103 Nr 9) richtigerweise zu prüfen ist, ob die Beklagte nicht für den gesamten Zeitraum, der von ihrer Aufhebungsentscheidung betroffen ist, eine durchgängige Nichterreichbarkeit des Klägers annehmen durfte. Ein Arbeitsloser ist durchgängig nicht täglich erreichbar, wenn er wiederkehrend mehrtägig ortsabwesend ist, ohne dass die Tage der Abwesenheit vorausschauend - und damit berechenbar - feststehen. Das Vermittlungsgeschäft des Arbeitsamtes bzgl des betreffenden Arbeitslosen ist dann in ganz erheblichem Umfang beeinträchtigt und praktisch vereitelt, und zwar unabhängig davon, ob sich ein solcher Sachverhalt vor der Bewilligung oder für die Vergangenheit herausstellt (BSG aaO, S 47). Der 11. Senat hat dies in einem Falle angenommen, in dem der Kläger innerhalb von weniger als einem Jahr mehr als 49-mal die Grenze zwischen Österreich und Jugoslawien überschritten hatte, ohne dass vorher exakt feststand, wie lange er sich im Ausland aufhalten würde; Tage der Anwesenheit wechselten sich also mit solchen der Abwesenheit ab, ohne dass - auch bei einer vorausgehenden Meldung der Abwesenheit - vorausschauend und damit berechenbar gesagt werden konnte, an welchen Tagen der Arbeitslose erreichbar war.

Die Voraussetzungen der wiederkehrend mehrtägigen, dem Arbeitsamt nicht bekannten Ortsabwesenheit sind vorliegend angesichts von fünf Auslandsaufenthalten des Klägers (99 Tage) in einer Zeit von weniger als acht Monaten erfüllt. Insoweit ist nicht entscheidend, dass sich der Kläger - anders als im vom 11. Senat entschiedenen Fall - immer über längere Zeiträume im Ausland aufgehalten hat, also nicht wöchentlich für ein oder mehrere Tage in wechselnder Folge für das Arbeitsamt nicht erreichbar war. Auch wenn ein Arbeitsloser mehrfach für längere, nicht berechenbare Zeiträume ortsabwesend ist, ist das Vermittlungsgeschäft des Arbeitsamtes in ganz erheblichem Umfang beeinträchtigt und praktisch vereitelt.

Das LSG hat allerdings zum Kriterium der Berechenbarkeit zu Unrecht keine Feststellungen getroffen. Fehlende Feststellungen stehen einer Sachentscheidung des Revisionsgerichts selbst dann entgegen, wenn eine Sachverhaltsaufklärung wie hier schwierig, möglicherweise im Nachhinein sogar kaum durchführbar erscheint. Vor der Durchführung weiterer Ermittlungen bzw vor abschließenden Feststellungen des LSG kann das Revisionsgericht selbst nicht abschließend entscheiden. Denn käme das LSG - wenn dies auch kaum zu erwarten sein dürfte - zu der Erkenntnis, dass Dauer und Lage der Auslandsaufenthalte des Klägers vorausschauend berechenbar waren, dürfte dem Kläger jedenfalls keine durchgehende Nichterreichbarkeit vorgehalten werden. Könnte die Vorausschaubarkeit und Berechenbarkeit andererseits weder bejaht noch verneint werden, wäre sie also nicht (mehr) beweisbar, wäre eine Beweislastentscheidung dahin zu treffen, ob nicht die Nichtfeststellbarkeit dieser von der Rechtsprechung geforderten vorausschauenden Berechenbarkeit nach den Regeln der Beweislast dem Kläger zum Nachteil gereicht. Dabei würde es weniger darauf ankommen, ob der Kläger seinen Mitwirkungspflichten bei dem für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid maßgeblichen Sachverhalt nicht nachgekommen ist (vgl: BSGE 71, 256, 260 ff = SozR 3-4100 § 119 Nr 7; BSGE 89, 243, 247 = SozR 3-4300 § 144 Nr 8), sondern vielmehr, ob eine Nichterweislichkeit der maßgeblichen Tatsachen (Dauer und Lage der Auslandsaufenthalte vorausschauend berechenbar) nicht bereits deshalb zu seinen Lasten gehen muss, weil die Beweislage maßgebend auf der fehlenden Mitteilung der Auslandsaufenthalte beruht. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere auch ein evtl Mitverschulden der Beklagten. Hierfür bietet der Sachverhalt nach Aktenlage durchaus Anhaltspunkte (Vorladung des Klägers nicht unmittelbar nach der Mitteilung der Grenzpolizeistation, rückwirkender Alhi-Antrag erst im Juli 1997, fehlende Arbeitsberatung in einem festen Drei-Monats-Rhythmus (§ 15 Abs 3 AFG). Ist dem Kläger unter diesen Gesichtspunkten die Beweislast aufzuerlegen, ist er so zu behandeln, als wäre er durchgehend nicht erreichbar gewesen. Mit anderen Worten: Für eine Beweislastentscheidung hinsichtlich einer punktuellen Überprüfung der Erreichbarkeit iS der LSG-Entscheidung besteht insoweit kein Raum mehr.

Sollte allerdings das LSG zur Erkenntnis gelangen, dass der Kläger in den noch streitigen Zeiträumen entweder erreichbar war oder aber die fehlende Aufklärbarkeit nicht zu seinen Lasten geht, wird es gleichwohl noch zu prüfen haben, ob die Aufhebung der Alg- (§ 48 SGB X) bzw diejenige der Alhi-Bewilligung (§§ 45, 48 SGB X) mit einer anderen Begründung haltbar ist (vgl dazu BSGE 87, 8 ff = SozR 3-4100 § 152 Nr 9; ). Dies gilt insbesondere für die Frage, ob der Kläger überhaupt objektiv und subjektiv verfügbar war (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und 2 AFG), für eine denkbare Minderung der Alg-Anspruchsdauer gemäß § 110 Satz 1 Nr 5 AFG, für einen Beginn des Alhi-Anspruchs mit Rücksicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung und für eine Bedürftigkeit während der Alhi-Bezugszeit; an letzterem kann durchaus angesichts der Vielzahl der Reisen, deren Dauer und deren Reiseziele gezweifelt werden. Im Übrigen wird das LSG ggf die Voraussetzungen der §§ 45, 48 SGB X iVm § 152 AFG unter anderen Gesichtspunkten als dem der Nichterreichbarkeit zu überprüfen haben. Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Fundstelle(n):
NAAAC-14267