Leitsatz
Die Vorschrift des § 97 Satz 1 VwGO ist auf eine Sachverhaltsermittlung im Wege einer Ortsbesichtigung durch den Sachverständigen zur Vorbereitung seines Gutachtens entsprechend anwendbar.
Ein Sachverständigengutachten, das auf einer Ortsbesichtigung beruht, die unter Verstoß gegen die Vorschriften der Parteiöffentlichkeit durchgeführt wurde, ist regelmäßig nicht verwertbar.
Gesetze: VwGO § 97; VwGO § 98; ZPO § 404a Abs. 4
Instanzenzug: VG Gera VG 2 K 1913/00 GE vom
Gründe
Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar ist die geltend gemachte Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) unbegründet (1). Es liegt aber der geltend gemachte Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) (2).
1. Die Zulassung der Revision wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) setzt voraus, dass die Vorinstanz durch einen die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz einem in einer Entscheidung unter anderem des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz widersprochen hat (stRspr, vgl. u.a. BVerwG 8 B 144.97 - Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50 S. 7 <11>). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Zu Unrecht meint die Beschwerde, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Divergenz zu dem BVerwG 7 C 47.94 - (Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 78). In dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, es dürfe im Regelfall unterstellt werden, dass eine festgestellte dauerhafte Überschuldung des Grundstücks auf nicht kostendeckenden Mieten aus dem Zeitraum vor dem Eigentumsverlust beruhe. Anders könne es sich ausnahmsweise dann verhalten, wenn in der Vergangenheit erforderliche Instandsetzungsarbeiten trotz vorhandener finanzieller Deckung unterblieben seien und es daher zu größeren Schäden und zu einem Reparaturstau gekommen sei (a.a.O. S. 229 f.).
Ein davon abweichender abstrakter Rechtssatz lässt sich entgegen der Ansicht der Beschwerde dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Vielmehr rügt die Beschwerde der Sache nach, das Verwaltungsgericht habe die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im vorliegenden Fall nicht zutreffend angewandt. Damit kann aber eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dargelegt werden (vgl. Beschluss vom a.a.O. m.w.N.).
2. Die weiter erhobene Verfahrensrüge ist dagegen begründet. Das Verwaltungsgericht hätte das Sachverständigengutachten nicht verwerten dürfen, weil die Kläger keine Gelegenheit hatten, an der Ortsbesichtigung durch den Sachverständigen teilzunehmen, und dies auch trotz der Rüge der Kläger nicht nachgeholt worden ist.
Nach § 97 Satz 1 VwGO werden die Beteiligten von allen Beweisterminen benachrichtigt und können der Beweisaufnahme beiwohnen. Diese Vorschrift gilt zwar unmittelbar nur für Beweisaufnahmen durch das Gericht und nicht für die Ermittlung von Tatsachen durch den Sachverständigen zur Vorbereitung seines Gutachtens ( BVerwG 1 B 56.99 - Buchholz 418.72 WeinG Nr. 26 S. 1 <3 f.>; - NVwZ-RR 1999, 808 = juris Rn. 32), sie ist aber auf Sachverhaltsermittlungen durch den Sachverständigen, insbesondere Ortsbesichtigungen, entsprechend anwendbar (Rudisile in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Juli 2005, § 97 VwGO Rn. 7, 11; Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 97 Rn. 1; Kuntze in: Bader, VwGO, 3. Aufl. 2005, § 97 Rn. 2; Geiger in: Eyermann/Fröhler, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 97 Rn. 2; offen gelassen im Beschluss vom , a.a.O. S. 4 f.). Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob sich dies bereits aus den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens ergibt, deren Konkretisierung für das Beweisrecht die Regelung des § 97 VwGO dient (vgl. Rudisile, a.a.O. Rn. 4) und denen im Zusammenhang mit einer Sachverhaltsaufklärung durch den Sachverständigen die gleiche Bedeutung zukommt wie bei einer Beweisaufnahme durch das Gericht. Denn jedenfalls folgt aus § 404a Abs. 4 ZPO, der gemäß § 98 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar ist, dass das Gericht zu bestimmen hat, wann der Sachverständige den Parteien die Teilnahme an seinen Ermittlungen zu gestatten hat. Wegen der Grundsätze des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens kann das Gericht im Regelfall, insbesondere bei der Besichtigung von Örtlichkeiten, sein Ermessen nur dadurch ordnungsgemäß ausüben, dass es dem Sachverständigen aufgibt, die Teilnahme der Beteiligten zu gestatten. Durch das Recht der Beteiligten, dem Sachverständigen Fragen zu stellen und Hinweise zu geben, können sie dazu beitragen, dass dem Gutachten eine zutreffende Tatsachenermittlung zugrunde liegt. Zugleich können sie sich selbst einen persönlichen Eindruck von der Örtlichkeit verschaffen, um so eine ausreichende Grundlage für ihren Sachvortrag und die rechtliche Bewertung zu erhalten. Schließlich ist die Anwesenheit aller Beteiligten geeignet, einseitige Beeinflussungen des Sachverständigen auszuschließen (vgl. zu allem Höffmann, Die Grenzen der Parteiöffentlichkeit, insbesondere beim Sachverständigenbeweis, Diss.jur. Bonn 1989 S. 71). Aus diesen Gründen entspricht es der heute herrschenden Meinung auch in der zivilprozessualen Rechtsprechung und Literatur, dass den Beteiligten auch bei den Ermittlungen des Sachverständigen zur Vorbereitung seines Gutachtens ein Anwesenheitsrecht zusteht (vgl. die Nachweise bei Höffmann, a.a.O. S. 69; Hartmann in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 64. Aufl. 2006, § 357 Rn. 6 und § 407a Rn. 15; ebenso für das finanzgerichtliche Verfahren - BFHE 130, 366 = juris Rn. 12).
Unterbleibt die Benachrichtigung der Beteiligten von der Ortsbesichtigung ist das Verfahren unabhängig davon fehlerhaft, ob dies auf der unterlassenen Anordnung des Gerichts nach § 404a Abs. 4 ZPO oder darauf beruht, dass der Sachverständige die Anordnung missachtet hat. Beides führt regelmäßig zur Unverwertbarkeit des Sachverständigengutachtens (Rudisile, a.a.O. Rn. 28; Geiger, a.a.O. Rn. 4; Redeker/von Oertzen, a.a.O. Rn. 2; Höffmann, a.a.O. S. 82; vgl. auch a.a.O. Rn. 13). Abgesehen von dem Sonderfall, dass der Beteiligte den Verstoß zwar rügt, das Ergebnis des Gutachtens inhaltlich aber nicht infrage stellt (vgl. dazu - NVwZ-RR 1995, 247 <248>; Rudisile, a.a.O. Rn. 29) oder dass der Beteiligte auf die Einhaltung der Benachrichtigung nachträglich ausdrücklich oder konkludent durch rügelose Einlassung verzichtet (Höffmann, a.a.O. S. 81, Rudisile, a.a.O.; Kuntze, a.a.O. Rn. 3; Redeker/von Oertzen, a.a.O. Rn. 2; Geiger, a.a.O. Rn. 4), wird sich regelmäßig - ebenso wie bei der unterbliebenen Ladung eines Beteiligten zur mündlichen Verhandlung - nicht feststellen lassen, welches Ergebnis die Ortsbesichtigung bei Anwesenheit der Beteiligten gehabt hätte. Auf Grund der Rüge der unterbliebenen Beteiligung muss daher das Gericht den Sachverständigen zur Wiederholung der Ortsbesichtigung in Anwesenheit der Beteiligten veranlassen oder eine eigene Ortsbesichtigung mit den Beteiligten und dem Sachverständigen durchführen. Erst auf Grund dieser Besichtigung, einer eventuellen Stellungnahme der Beteiligten und einer gegebenenfalls erforderlichen mündlichen oder schriftlichen Ergänzung des Sachverständigengutachtens wäre eine prozessordnungsgemäße Überzeugungsbildung durch das Gericht auf der Grundlage der Beweisaufnahme möglich.
Da das Verwaltungsgericht hier trotz der Rüge der Kläger das Sachverständigengutachten, das auf einer Ortsbesichtigung beruhte, die in Abwesenheit der Kläger durchgeführt wurde und von der sie auch nicht unterrichtet waren, seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist das angefochtene Urteil verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Zu Unrecht meint das Verwaltungsgericht, die unterbliebene Beteiligung der Kläger an der Ortsbesichtigung mache das Gutachten nicht unbrauchbar, weil die Erörterung in der mündlichen Verhandlung gezeigt habe, dass es dem Gutachter gelungen sei, bei der Ortsbesichtigung die erforderlichen Kenntnisse zu erlangen. Damit verkennt das Verwaltungsgericht bereits, dass es den Klägern mangels aktueller Kenntnis der örtlichen Verhältnisse nicht möglich war, substantiiert zum Sachverhalt vorzutragen. Auch der Einwand dahingehend, dass der von der Ortsbesichtigung Betroffene die Teilnahme des Beteiligten verwehre, kann die Parteiöffentlichkeit generell nicht begrenzen. Erst wenn ein nachhaltiges Bemühen des Gerichts, das gegebenenfalls vor Ort zu erfolgen hat, eine Beteiligung nicht ermöglicht, hat das Gericht in die Würdigung des Gutachtens diesen Umstand einzubeziehen und das Ergebnis seiner Erwägungen deutlich zu machen.
Zur Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil ohne Revisionsverfahren aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Fundstelle(n):
NJW 2006 S. 2058 Nr. 28
YAAAC-13381