Leitsatz
Hat der Wehrpflichtige die Unterlagen gemäß § 2 Abs. 2 KDVG im gerichtlichen Verfahren vollständig nachgereicht, so hat der Ablehnung des Anerkennungsgesuchs in aller Regel eine gerichtliche "Vollprüfung" nach förmlicher Parteivernehmung vorauszugehen.
Gesetze: KDVG § 14; VwGO § 86 Abs. 1
Instanzenzug: VG Cottbus VG 2 K 662/02 vom
Gründe
1. Die Beschwerde hat Erfolg.
a) Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die Beschwerde rügt zu Recht eine Verletzung der Aufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nämlich nicht ohne vorherige Vernehmung des Klägers als Partei zu seinen Gewissengründen abweisen dürfen.
Der Kläger hat während des Verwaltungsverfahrens um seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer keine schriftliche Begründung für seine Gewissensentscheidung vorgelegt, sondern dies erst während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens getan. Das Verwaltungsgericht hat darin einen entscheidenden Einwand gegen die Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung - trotz der Inkaufnahme des verlängerten und erschwerten Zivildienstes - gesehen (Urteil S. 9) und in der mündlichen Verhandlung ausführlich zu der Frage Beweis erhoben, welche vertretbaren Gründe den Kläger an einer früheren Vorlage seiner schriftlichen Begründung gehindert haben könnten. Da sich solche Gründe nach der Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht gefunden haben, hat es die Klage ohne "Vollprüfung", d.h. Parteivernehmung des Klägers abgewiesen. Damit hat es gegen die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts über die Grundsätze verstoßen, unter denen allein die Klage eines Kriegsdienstverweigerers auf Anerkennung ohne "Vollprüfung" abgewiesen werden kann.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf die Klage eines Wehrpflichtigen, mit der er seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erstrebt, nachdem sein Antrag im Verwaltungsverfahren wegen unvollständiger Unterlagen ohne Sachprüfung erfolglos geblieben ist, in der Regel nicht abgewiesen werden, wenn er nicht zuvor zu den Gründen der geltend gemachten Gewissensentscheidung förmlich als Partei vernommen worden ist (vgl. etwa BVerwG 6 C 25.90 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 5 = NVwZ-RR 1993, 88; BVerwG 6 B 32.95 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7). Eine Ablehnung der Anerkennung ohne förmliche Vernehmung des Klägers als Partei ist in diesen Fällen nur ausnahmsweise dann möglich, wenn schon das eigene Vorbringen des Klägers ergibt, dass er sich aus anderen als Gewissensgründen um die Anerkennung bemüht oder sich nicht im Sinne des § 1 KDVG der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt oder wenn sonst die gesamten Umstände des Falles den Schluss rechtfertigen, dass der Kläger keine ernsthafte Gewissensentscheidung getroffen hat; Letzteres kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Kläger nicht nur das Verwaltungsverfahren, sondern darüber hi-naus auch das Klageverfahren nicht ernstlich, sondern uninteressiert und ohne den gebotenen Nachdruck betrieben hat und insbesondere unentschuldigt dem Verhandlungstermin fernbleibt (vgl. BVerwG 6 CB 91.84 - Buchholz 310 § 102 VwGO Nr. 11; BVerwG 6 B 40.90 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 231 = NVwZ-RR 1991, 568; BVerwG 6 B 46.00 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 9 = NVwZ-RR 2001, 167). Den hier und in der Beschwerdebegründung zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ist zu entnehmen, dass eine auf das Verwaltungsverfahren beschränkte Nachlässigkeit des Wehrpflichtigen seine spätere Anerkennung im gerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht hindert. Hat der Wehrpflichtige die Unterlagen gemäß § 2 Abs. 2 KDVG im gerichtlichen Verfahren vollständig nachgereicht, so ist ihm in aller Regel Gelegenheit zu geben, die Gründe für seine Kriegsdienstverweigerung im Rahmen einer förmlichen Parteivernehmung darzulegen, sofern seine Anerkennung nicht bereits aufgrund des schriftlichen Vortrags oder nach Ausräumung konkreter Zweifel in der ersten Stufe des "eingehenderen Prüfungsverfahrens" zulässig ist. Der Ablehnung des Anerkennungsgesuchs geht in diesen Fällen stets die gerichtliche "Vollprüfung" voraus. Besonderheiten, die im vorliegenden Fall eine abweichende Verfahrensweise gerechtfertigt hätten, sind nicht gegeben:
Zwar ist der Kläger nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Verfahren vor dem Bundesamt für den Zivildienst mehr als acht Monate lang untätig geblieben, obwohl er sich der Unvollständigkeit seiner Unterlagen bewusst und zudem von seinen Eltern auf die Notwendigkeit ihrer Vervollständigung hingewiesen worden war. Er hat jedoch sogleich nach Klageerhebung eine ausführliche schriftliche Begründung seiner Gewissensentscheidung sowie die weiteren nach § 2 Abs. 2 KDVG erforderlichen Unterlagen nachgereicht. Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht allein aufgrund des Verhaltens des Klägers im Verwaltungsverfahren und der mangelnden Entschuldigung dieses Verhaltens im Klageverfahren die Überzeugung gewonnen, dass dieser keine ernsthafte Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat. Damit hat das Verwaltungsgericht lediglich einen ausschnitthaften Lebenssachverhalt zur Grundlage eines definitiven Urteils über die Ernsthaftigkeit der Gewissensgründe des Klägers gemacht und auf inhaltliche Gesichtspunkte seines Vorbringens gar nicht mehr abgestellt; deshalb hat es auch eine Vollprüfung nicht für erforderlich gehalten. Damit hat es sich in Widerspruch zu den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen der Überprüfung von Gewissensgründen eines Kriegsdienstverweigerers gesetzt.
Indem das Verwaltungsgericht unter Verstoß gegen die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts über die notwendig durchzuführende Vollprüfung der Klage abgewiesen hat, hat es seine gesetzliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt (vgl. Urteil vom - BVerwG 6 B 40.90 - a.a.O.). Die im Kriegsdienstverweigerungsrecht gründende "Vollprüfung" als Voraussetzung der Ablehnung einer Klage auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerung markiert nämlich zugleich die vom Verwaltungsgericht zu beachtende Pflicht zur Amtsermittlung nach § 86 Abs. 1 VwGO. Das Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensverstoß, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass im Falle einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Verweigerungsgründungen des Klägers, unter Einschluss der Darstellung bei seiner Vernehmung als Partei, das Verwaltungsgericht anders entschieden haben würde.
b) Ist somit bereits die Verfahrensrüge begründet, so kann auf sich beruhen, ob auch die Divergenzrüge durchgreift. In diesem Falle bezöge sich die festzustellende Abweichung von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls nur auf das bei der gerichtlichen Prüfung von Anerkennungsbegehren einzuhaltende Verfahrensrecht, so dass sich eine zusätzliche Aussage, welche über die mit dem Erfolg der Verfahrensrüge verbundene hinausgeht, damit nicht gewinnen ließe (vgl. BVerwG 6 B 32.95 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7).
2. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht wird im weiteren Verfahren den Kläger zu seinen Gewissensgründen als Partei vernehmen und auf dieser Grundlage erneut über sein Anerkennungsbegehren entscheiden müssen. Das schließt nicht aus, dass es in die ihm obliegende umfassende Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts das Verhalten des Klägers im Verwaltungsverfahren einbezieht und, sofern sich bei seiner Vernehmung Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung ergeben sollten, diese Zweifel durch sein Verhalten im Verwaltungsverfahren bestätigt findet (vgl. BVerwG 6 B 11.03 - juris).
3. Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Fundstelle(n):
DAAAC-12967