BGH Urteil v. - 1 StR 65/05

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StGB § 21; StGB § 225 Abs. 3 Nr. 1; StGB § 225 Abs. 3 Nr. 2; StGB § 226 Abs. 1 Nr. 3; StGB § 226 Abs. 2

Instanzenzug: LG Ellwangen vom

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung jeweils zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft zum Nachteil der Angeklagten Revision eingelegt, mit der sie Verfahrensrügen und die Sachrüge erhebt. Sie erstrebt eine Verurteilung der Angeklagten wegen wissentlicher schwerer Körperverletzung nach § 226 Abs. 2 StGB, der eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorsieht, und wegen tateinheitlich angeklagter Mißhandlung von Schutzbefohlenen im Sinne von § 225 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 StGB. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat mit der Sachbeschwerde Erfolg. Eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es daher nicht.

I. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

1. Das Tatopfer ist die am geborene jüngste Tochter E. der Angeklagten. Sie hat zwei inzwischen erwachsene Schwestern Ev. und Ey. . Ab Juli 1997 wohnte die Familie nach Verlust ihres Eigenheims in verschiedenen Ferienhäusern. Sie schottete sich nach außen hin ab. Alle drei Töchter gingen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Schule. Deshalb schalteten sich die Jugendämter ein. Im Jahre 1999 verbrachten die Töchter auf Veranlassung des zuständigen Jugendamtes ca. vier Monate in einem Jugendheim. Bereits damals wurden schwere psychopathologische Störungen und Fehlernährung festgestellt. Ende September 2000 wurden die minderjährigen Töchter, nach Entziehung der elterlichen Sorge, in einer geschlossenen jugendpsychiatrischen Einrichtung untergebracht. Alle drei litten an einer psychiatrischen Erkrankung. Bei der 17jährigen Ev. wurde ein Körpergewicht von 28,6 kg, bei der 15jährigen Ey. ein solches von 32,6 kg und bei der 12jährigen Er. eines von 24,8 kg festgestellt. Sie wurden notfallmäßig in verschiedene Kinderkliniken verlegt. Dort mußten sie intravenös oder mittels Magensonde ernährt, teils auch künstlich beatmet werden. Bei E. zeigten sich verlangsamte Reaktionen und fehlende Urinausscheidung. Am durften die Eltern ihre Kinder besuchen und entführten sie alle drei. Aufgrund einer polizeilichen Fahndung wurde die Familie am ausfindig gemacht. Die Eltern verbüßten mehrere Monate Untersuchungshaft. Die Kinder kamen wieder in Kliniken. Aufgrund eines eingeholten Gutachtens erhielten die Eltern Anfang Juni 2001 die elterliche Sorge zurück mit Ausnahme regelmäßiger Untersuchungen des Körpergewichts und der Stoffwechseltätigkeit.

Danach stellten die Eltern die Kinder nur einmal, Ende Juni 2001 einem Arzt vor. Sämtliche Versuche des zuständigen Jugendamtes, den Gesundheitszustand der Kinder zu überprüfen, scheiterten. Am beschloß das Amtsgericht Bad Mergentheim schließlich auf einen Antrag des Jugendamtes vom September 2002 die zwangsweise Vorführung der jetzt allein noch minderjährigen Tochter E. zur ärztlichen Untersuchung. Dagegen legten die Angeklagten Beschwerde ein. Am sicherte der angeklagte Vater dem Jugendamt telefonisch und am per Telefax zu, daß E. sich freiwillig vom Hausarzt untersuchen lassen werde. Am setzte das Oberlandesgericht Stuttgart im Wege einer einstweiligen Anordnung die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses des Amtsgerichts aus. An dem vom Vater mitgeteilten Untersuchungstermin vom erschien E. nicht. Auf Antrag der Angeklagten vom erreichten sie eine Verlängerung der Frist zur Begründung ihrer Beschwerde bis zum .

2. Ab Mitte Oktober 2003, nach Kenntnis des Beschlusses, in dem die zwangsweise Vorführung zur ärztlichen Untersuchung angeordnet wurde, verschlechterte sich E. s Gesundheitszustand zunehmend. Sie hatte eine panische Angst davor, wieder zwangsweise aus der Familie herausgeholt zu werden, mit der Folge, daß sie kaum noch aß. Das Landgericht geht davon aus, daß die Versuche ihrer Eltern, sie zum Essen zu bewegen und sich freiwillig untersuchen zu lassen, erfolglos waren. In ihrer ablehnenden Haltung wurde sie von ihren Schwestern unterstützt. E. nahm immer mehr ab, so daß sie kaum noch ihr Bett verlassen konnte. Die Angeklagten erkannten den fortschreitenden Gewichtsverlust und den immer schlechter werdenden Gesundheitszustand ihrer Tochter. Sie hofften jedoch - so weiter das Landgericht -, ihn wieder selbst beheben zu können. Diese Hoffnung hatten sie auch noch, als E. spätestens ab dem keine Flüssigkeit mehr zu sich nahm. Sie erkannten nunmehr, daß der Gesundheitszustand äußerst bedenklich war, unterließen es jedoch weiterhin, aus falsch verstandener Rücksichtsnahme gegenüber dem Willen E. s, bis zum ärztliche Hilfe herbeizuholen. Das Landgericht konnte nicht ausschließen, daß die Angeklagten hierbei aufgrund des hochgradig gestörten pathologischen Systems der Familie in ihrer Steuerungsfähigkeit wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erheblich eingeschränkt waren.

Erst am kam E. durch Einweisung des Hausarztes, den der Angeklagte auf Weisung des von ihm zugezogenen Heilpraktikers benachrichtigt hatte, in einem lebensbedrohlichen Zustand ins Krankenhaus. Die 15jährige wog bei einer Körpergröße von 156 cm nur noch 21,2 kg und bestand lediglich aus "Haut und Knochen". Einen Tag später trat bei ihr ein Multi-Organversagen ein, so daß sie künstlich beatmet und in ein künstliches Koma versetzt werden mußte. Aus diesem Koma erwachte sie im Januar 2004. Zum damaligen Zeitpunkt bestand eine Schädigung des Gehirns und der Nerven. Bei der tatrichterlichen Hauptverhandlung - ca. zehn Monate nach der Einlieferung - war das Sehvermögen noch nicht wieder vollständig hergestellt. Sie saß im Rollstuhl und war unfähig ihre Beine zu bewegen. Ob die Bewegungsfähigkeit ihrer Beine wieder hergestellt werden kann, war nicht abschließend zu klären. Die eingetretenen Folgen, insbesondere die Lähmung der Beine hätten die Angeklagten aufgrund der dargestellten Vorgeschichte erkennen und durch rechtzeitiges Herbeiholen ärztlicher Hilfe verhindern können. Sie hofften jedoch, daß keine bleibenden Schäden eintreten würden.

3. Die Angeklagten haben von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Die Feststellungen zum Kerngeschehen beruhen im wesentlichen auf den Aussagen der Töchter, die übereinstimmend angaben, daß sie ihre Eltern lieben und daß es die besten Eltern seien, die man sich wünschen könne. Die beiden Schwestern der Geschädigten wurden ca. eine Woche nach deren Einlieferung bei einer Hausdurchsuchung ebenfalls in abgemagertem und entkräftetem Zustand aufgefunden und aufgrund einer einstweiligen Anordnung in eine Klinik eingeliefert. Der psychiatrische Sachverständige bestätigte in vorliegendem Verfahren für alle drei Töchter eine schwere Persönlichkeitsstörung.

II. Aufgrund dieser Feststellungen bejaht die Strafkammer bei bestehender Garantenpflicht eine Körperverletzung durch Unterlassen. Sie nimmt einen bedingten Körperverletzungsvorsatz und eine fahrlässige Verursachung der Lähmung der Beine gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB an. Von einer absichtlichen oder wissentlichen Verursachung dieser schweren Folge im Sinne von § 226 Abs. 2 StGB konnte sie sich nicht überzeugen. Eine Mißhandlung von Schutzbefohlenen bleibt unerörtert.

III. Die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Sie ist etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewißheit überspannte Anforderungen gestellt sind. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlußfolgerung nicht gezogen ist, ohne daß konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr., BGH NStZ-RR 2003, 371; BGH NStZ 2004, 35, 36 m.w.Nachw.).

Alledem wird die Beweiswürdigung der Strafkammer in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

1. Die Kammer hätte eine Körperverletzung durch positives Tun in ihre Erwägungen einbeziehen müssen.

Wenn E. ab Kenntnis des Beschlusses vom über die angeordnete zwangsweise Vorführung zur ärztlichen Untersuchung trotz der Aufforderungen ihrer Eltern eine freiwillige ärztliche Untersuchung ablehnte und die Eltern aus falsch verstandener Rücksichtsnahme den erklärten Willen akzeptierten, hätte die Kammer sich damit auseinandersetzen müssen, warum der angeklagte Vater dem Jugendamt am 14. Oktober und am zusicherte, E. werde sich freiwillig vom Hausarzt untersuchen lassen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu erörtern gewesen, warum Beschwerde gegen den Vorführungsbeschluß eingelegt und im vorläufigen Rechtsschutz die Aussetzung der Vollziehung erwirkt wurde. Die Motivation für den Antrag vom - nach fruchtlosem Verstreichen des mitgeteilten Hausarzttermins vom -, mit dem die Verlängerung der Frist zur Begründung der Beschwerde bis zum erreicht wurde, wäre ebenso in diese Erörterung einzubeziehen gewesen. Schon deshalb, weil die Angeklagten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht haben, ist die Feststellung sogenannter innerer Tatsachen - hier der Motive für ihr Handeln - nur durch Rückschlüsse möglich (BGH NJW 1991, 2094 m.w.Nachw.). Neben objektiven Umständen können auch Erkenntnisse zur Interessenlage von Angeklagten ein wichtiger Anhaltspunkt für innere Tatsachen sein (BGH NStZ 2004, 35). Die Vorgeschichte zeigt objektiv und deutlich, daß die Angeklagten über Jahre hinweg ihre Kinder der Kontrolle der Jugendämter entzogen haben. Ihre Interessenlage ging seit Jahren dahin, die Familie gegenüber der Außenwelt abzuschotten und total zu isolieren. Unter den gegebenen Umständen liegt die Schlußfolgerung auf täuschendes Verhalten und gewolltes Verhindern einer ärztlichen Untersuchung und Behandlung nahe. Danach bestimmt sich, ob die Angeklagten die Körperverletzung durch aktives Tun oder durch Unterlassen verursacht haben. Die Rechtsprechung stellt insoweit wertend auf den Schwerpunkt des Vorwurfs ab (BGHSt 6, 46, 59; 40, 257). Auf den aufgezeigten Erörterungsmängeln beruht das Urteil, da sie zu einem anderen Schuldgehalt führen können.

2. Die Verneinung einer wissentlich schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 2 StGB ist nicht tragfähig begründet.

Da es sich hier um einen Qualifikationstatbestand handelt, ist auch insoweit der Schuldvorwurf betroffen (BGH NJW 2001, 980; BGHR StGB § 226 Abs. 2, schwere Körperverletzung 2). Zur Erfüllung des Tatbestandes reicht es aus, daß der Täter die schwere Körperverletzung als sichere Folge seines Handelns voraussieht (BGH aaO). Das Landgericht meinte nicht feststellen zu können, daß die Angeklagten schwerwiegende Folgen im Sinne von § 226 Abs. 2 StGB als sicheres Resultat ihres Unterlassens (bzw. ihrer Handlungen) voraussahen. Es hat insoweit eine Abgrenzung zur bewußten Fahrlässigkeit vorgenommen und letztere bejaht (UA S. 15, 18). Die Feststellung des Wissensfaktors beim direkten Vorsatz 2. Grades ist hier wiederum nur durch Rückschlüsse möglich. Die Tatvorgeschichte, insbesondere die Abmagerung der Töchter mit den eingetretenen Folgen im Jahre 2000 und das im Zusammenhang damit gezeigte Verhalten der Angeklagten, legt die Schlußfolgerung auf deren Wissen um die schweren Folgen einer derart extremen Abmagerung nahe. Die Kammer hätte hier gerade diesen Teil der Vorgeschichte konkret in ihre Würdigung einbeziehen und erörtern müssen, warum die damaligen Erkenntnisse ein solches Wissen nicht stützen können. Wenn aber die Angeklagten schwerwiegende Folgen als sicher voraussahen, dann ist es ohne Bedeutung, daß sie auf deren Ausbleiben und darauf hofften, daß sich der Gesundheitszustand von E. wieder von selbst bessere (Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 15 Rdn. 7). Derjenige, der die Handlung bzw. das Unterlassen will, will auch das, was er als sichere Folge ansieht.

Im übrigen aber sind keinerlei Anknüpfungstatsachen für eine derartige Hoffnung, auf die die Kammer die fahrlässige Verursachung der schweren Folge stützt, ausdrücklich dargelegt oder aus einer Gesamtschau der Urteilsgründe zu entnehmen. Da die Angeklagten schweigen, versteht sich diese Hoffnung nicht von selbst. Es ist aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt geboten, zugunsten der Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH NJW 2002, 2188, 2189 m.w.Nachw.).

3. Nach Überprüfung der subjektiven Tatseite in den dargelegten Punkten mag auch der Tatbestand der Mißhandlung von Schutzbefohlenen durch böswillige Vernachlässigung der rechtlichen Würdigung zugänglich sein.

4. Danach war das Urteil auf die Sachrüge der Staatsanwaltschaft wegen der die Angeklagten begünstigenden Rechtsfehler aufzuheben. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).

IV. Der Senat sieht Anlaß zu folgendem Hinweis:

Ob die Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat "erheblich" im Sinne von § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an die Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Dabei fließen normative Überlegungen ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt (BGHSt 43, 66, 77 m.w.Nachw.).

Fundstelle(n):
TAAAC-10649

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