BAG Beschluss v. - 5 AZB 37/04

Leitsatz

[1] Ein erheblicher Grund zur Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist liegt regelmäßig vor, wenn der Prozessbevollmächtigte eine besonders starke Arbeitsbelastung geltend macht.

Gesetze: ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 5; ZPO § 85 Abs. 2; ZPO § 233; GG Art. 19 Abs. 4

Instanzenzug: LAG Berlin 10 Sa 519/04 vom ArbG Berlin 50 Ca 13851/03 vom

Gründe

A. Die Parteien streiten über die Zahlung von Arbeitsentgelt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das ihm am zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, dem , Berufung eingelegt. Mit einem am um 23.26 Uhr beim Landesarbeitsgericht per Telefax eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, der bisherige Zeitraum sei auf Grund seiner starken Arbeitsüberlastung nicht ausreichend gewesen, was er anwaltlich versichere. Das Landesarbeitsgericht hat den Fristverlängerungsantrag durch Beschluss vom zurückgewiesen. Die Begründung des Antrags lasse nicht ausreichend erkennen, dass die angeführten Gründe erheblich seien. Für den Bereich des Landesarbeitsgerichts Berlin sei bekannt, dass derartige Anträge zurückgewiesen werden könnten. Eine Ergänzung der Begründung - ggf. nach Hinweis des Vorsitzenden - sei nicht möglich gewesen, weil der Antrag erst am letzten Tag des Fristablaufs eingegangen sei.

Mit Schriftsatz vom , der am selben Tag um 23.25 Uhr per Telefax beim Landesarbeitsgericht eingegangen ist, hat der Kläger wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Berufung begründet. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat er vorgetragen, sein Prozessbevollmächtigter habe darauf vertrauen dürfen, dass die zur Begründung des Fristverlängerungsantrags angeführte und durch anwaltliche Versicherung glaubhaft gemachte starke Arbeitsüberlastung als erheblicher Grund für die Fristverlängerung angesehen werden würde.

Der Kläger hat beantragt,

ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung durch Beschluss als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde des Klägers.

B. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zu Unrecht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Dem Kläger ist wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

I. Der am beim Landesarbeitsgericht eingegangene Wiedereinsetzungsantrag des Klägers ist zulässig. Er ist innerhalb der Antragsfrist von zwei Wochen (§ 234 Abs. 1 ZPO) beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte frühestens am Kenntnis von der nicht gewährten Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. Mit dem Wiedereinsetzungsantrag hat der Kläger die Berufung begründet (§ 236 Abs. 2 ZPO).

II. Der Wiedereinsetzungsantrag ist begründet. Der Kläger war ohne eigenes Verschulden oder ihm zurechenbares Verschulden seines Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) verhindert, die versäumte Frist einzuhalten (§ 233 ZPO).

1. Grundsätzlich kann der Rechtsmittelführer im Wiedereinsetzungsverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, er habe mit der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch den Vorsitzenden rechnen dürfen. Er ist vielmehr mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende in Ausübung des ihm gemäß § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt ( - BAGE 78, 68; - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350; - NJW 1991, 1359; - III ZB 49/89 - BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 4). Etwas anderes gilt, wenn der Rechtsmittelführer mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Bewilligung der Fristverlängerung rechnen darf, weil dies dem normalen Lauf der Dinge entspricht ( aaO; aaO; aaO; - III ZB 13/85 - VersR 1985, 972). Liegt ein erheblicher Grund für eine Fristverlängerung vor, braucht sich der Anwalt nicht auf eine Rechtspraxis einzustellen, die sich nicht mehr im Rahmen der zulässigen Ermessensausübung des Vorsitzenden bewegt ( - MDR 2001, 1432). Auf eine rechtswidrige Spruchpraxis braucht sich der Staatsbürger nicht einzustellen ( - BVerfGE 79, 372).

2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts durfte der Kläger auf die Bewilligung seines Verlängerungsantrags vertrauen.

a) Ein Prozessbevollmächtigter kann grundsätzlich erwarten, dass einem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn erhebliche Gründe iSv. § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG vorgebracht werden. Zu den Gründen, die in der Gerichtspraxis im Allgemeinen als "erheblich" angesehen werden, zählt ua. die - hier geltend gemachte - berufliche Überlastung bzw. besonders starke Arbeitsbelastung des Prozessbevollmächtigten ( - BAGE 78, 68; - BVerfGE 79, 372; zu § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO vgl. IVb ZB 53/89 - aaO ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 3; - III ZB 13/85 - VersR 1985, 972). Es ist regelmäßig nicht erforderlich, die Gründe für die behauptete Belastung und ihre Auswirkungen auf das konkrete Verfahren besonders darzulegen ( - BAGE 75, 350; IVb ZB 53/89 - aaO; - III ZB 13/85 - aaO).

Dies bedeutet nicht, dass auf das Erfordernis erheblicher Gründe verzichtet würde. Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die pauschal vorgebrachten Gründe in Wahrheit nicht vorliegen, ist der Kammervorsitzende im Einzelfall nicht gehindert, eine Substantiierung der im Verlängerungsgesuch dargelegten Gründe zu verlangen ( - BAGE 78, 68). Dem Beschleunigungsgrundsatz nach § 9 Abs. 1 ArbGG ist dadurch genügt, dass die Berufungsbegründungsfrist nach § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG nur einmal verlängert werden kann. Zudem ist der Vorsitzende nach Vornahme einer am Einzelfall orientierten Ermessensausübung nicht verpflichtet, die Monatsfrist auszuschöpfen ( - BAGE 75, 350). Er kann die Frist auch um einen kürzeren, unter Berücksichtigung der Antragsbegründung aber noch angemessenen Zeitraum verlängern.

b) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Justizgewährungsanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtswegs der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. - BVerfGE 44, 302, 305; - 1 BvR 726/78 - BVerfGE 52, 203, 207; - 1 BvR 370/84 - BVerfGE 69, 381, 385). Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden ( - NJW 2004, 2887; - 1 BvR 10/98 - AP ZPO § 519 Nr. 51; - 1 BvR 1395/87 -; - 1 BvR 649/88 - BVerfGE 79, 372). Das ist aber der Fall, wenn das Landesarbeitsgericht unabhängig vom Einzelfall und insbesondere ohne Anhaltspunkte für das Nichtvorliegen der vorgebrachten Gründe deren nähere Substantiierung verlangt. Auf eine solche Praxis braucht sich der Prozessbevollmächtigte nicht einzustellen.

3. Es gereicht dem Kläger schließlich nicht zum Verschulden (§ 85 Abs. 2 ZPO), dass sein Prozessbevollmächtigter den Verlängerungsantrag erst am letzen Tag der Frist gestellt hat. Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen. Auch die unter diesen Umständen erhöhten Sorgfaltsanforderungen ( - BGHR ZPO § 233 Rechtsmittelfrist Nr. 1) hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht verletzt. Er konnte - wie ausgeführt - damit rechnen, dass die Begründung seines Antrags ausreichen würde. Daher bestand keine erkennbare Notwendigkeit, den Antrag so früh anzubringen, dass noch vor Fristablauf eine Rückfrage bei Gericht möglich gewesen wäre (vgl. - BAGE 78, 68; - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350; IVb ZB 53/89 - BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 3).

4. Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts ist damit aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, zurückzuverweisen.

Fundstelle(n):
BB 2004 S. 2696 Nr. 48
DB 2004 S. 2648 Nr. 49
BAAAB-94225

1Für die Amtliche Sammlung: ja; Für die Fachpresse: Nein