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BFH Beschluss v. - X B 31, 32/25

Teilweise nicht mit Gründen versehene Entscheidung

Leitsatz

1. NV: Ein Urteil ist (teilweise) nicht mit Gründen versehen, wenn das Finanzgericht einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt.

2. NV: Ein offenes Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Prüfungsanordnung ist für ein Klageverfahren gegen die aufgrund der Außenprüfung geänderten Steuerbescheide grundsätzlich vorgreiflich. Denn die erfolgreiche Anfechtung einer Prüfungsanordnung führt dazu, dass die Erkenntnisse der Außenprüfung nicht verwertet werden dürfen.

3. NV: Ein Einspruchsverfahren wird durch einen als „Abhilfebescheid“ bezeichneten Verwaltungsakt nur dann erledigt, wenn damit dem Begehren des Einspruchsführers in vollem Umfang Rechnung getragen wird. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung sowohl des Einspruchsbegehrens als auch des Änderungsbescheids zu würdigen.

Gesetze: FGO § 74; FGO § 119 Nr. 6; AO § 365 Abs. 3 Satz 1;

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb in den Streitjahren 2012 bis 2016 eine Schankwirtschaft. Bei ihr wurde zunächst für die Jahre 2014 bis 2016 eine Außenprüfung angeordnet und begonnen. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) wurde am eine erweiterte Prüfungsanordnung für die Jahre 2012 und 2013 erlassen. Die Außenprüfung führte zu erheblichen Mehrergebnissen, die den in den vorliegenden Verfahren angefochtenen geänderten Einkommen- und Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre zugrunde liegen.

2 Während der Klageverfahren trug die Klägerin im Schriftsatz vom vor, sie habe die erweiterte Prüfungsanordnung vom angefochten; über diesen Einspruch sei bis heute nicht entschieden worden. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) erwiderte am , er habe auf den Einspruch am „eine geänderte Prüfungsanordnung als Abhilfebescheid“ erlassen. Hiergegen habe die Klägerin keine Einwendungen mehr vorgetragen. Damit sei das Einspruchsverfahren beendet gewesen. Die Klägerin erklärte am , ein Bescheid vom liege ihr nicht vor. Sie widersprach ausdrücklich der Auffassung des FA, das Einspruchsverfahren habe sich mit Erlass dieses Bescheids erledigt, und beantragte, ihr eine Kopie dieses Verwaltungsakts aus der Gerichtsakte zu überlassen. Dem kam das FG nicht nach.

3 Das FG wies die Klagen mit der Begründung ab, die Hinzuschätzungen seien rechtmäßig.

4 Mit ihren Beschwerden begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision. Sie rügt unter anderem, das FG habe sich mit der erweiterten Prüfungsanordnung nicht auseinandergesetzt.

5 Das FA tritt der Beschwerde entgegen. Abweichend von seiner während des Klageverfahrens gegebenen Darstellung trägt es nun vor, es habe dem Einspruch gegen die erweiterte Prüfungsanordnung durch Erlass eines Aufhebungsbescheids abgeholfen. Am habe es eine neue Prüfungsanordnung erlassen, die nicht angefochten worden sei.

Gründe

II.

6 Die —gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen Gleichartigkeit zu gemeinsamer Entscheidung zu verbindenden— Beschwerden sind nur hinsichtlich der Streitjahre 2012 und 2013 begründet, im Übrigen aber wegen Nichterfüllung der gesetzlichen Darlegungsanforderungen unzulässig.

7 1. In Bezug auf die Streitjahre 2012 und 2013 liegt ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidungen des FG beruhen können (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

8 a) Nach § 119 Nr. 6 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Dabei muss das FG zwar nicht auf alle Einzelheiten des Sachverhalts und auf jede von den Beteiligten angestellte Erwägung näher eingehen. Ein Urteil enthält aber keine hinreichenden Entscheidungsgründe, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt (, BFH/NV 2025, 886, Rz 13, m.w.N.).

9 b) Das FG hätte dem Einwand der Klägerin, sie habe die erweiterte Prüfungsanordnung angefochten und das Einspruchsverfahren sei noch nicht erledigt, nachgehen müssen. Ein offenes Einspruchsverfahren gegen die erweiterte Prüfungsanordnung wäre für die Klageverfahren vorgreiflich gewesen. Denn die erfolgreiche Anfechtung einer Prüfungsanordnung führt dazu, dass die Erkenntnisse der Außenprüfung grundsätzlich (zu einer Ausnahmefallgruppe s. unten 2.c) nicht verwertet werden dürfen (BFH-Entscheidungen vom  - X R 112/91, BFHE 171, 15, BStBl II 1993, 649, unter B.II.1.a, und vom  - VI R 32/17, BFHE 268, 493, BStBl II 2020, 487, Rz 22, m.w.N.).

10 Das FG hätte daher aufgrund des Vorbringens der Beteiligten Ermittlungen zum Stand des —unstreitig von der Klägerin eingeleiteten— Einspruchsverfahrens gegen die erweiterte Prüfungsanordnung anstellen müssen. Sollte das Einspruchsverfahren noch nicht erledigt sein, hätte das FG erwägen müssen, das Klageverfahren gegen die Steuerbescheide bis zur bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung über die Prüfungsanordnung gemäß § 74 FGO auszusetzen.

11 2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, die angefochtenen Urteile in Bezug auf die Streitjahre 2012 und 2013 aufzuheben und die Verfahren insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat —ohne Bindungswirkung für das FG— auf die folgenden Punkte hin:

12 a) Sollten die weiteren Ermittlungen des FG ergeben, dass das FA —entsprechend seinem Vorbringen im Schriftsatz vom — am „eine geänderte Prüfungsanordnung als Abhilfebescheid“ erlassen hat, wäre das Einspruchsverfahren durch einen solchen Bescheid nur dann beendet worden, wenn das FA dem Begehren der Klägerin damit in vollem Umfang Rechnung getragen hätte (Senatsbeschluss vom  - X B 99/19, BFHE 266, 494, BStBl II 2020, 375, Rz 27, m.w.N.). Ob dies der Fall ist, würde das FG durch Auslegung sowohl des Einspruchsbegehrens als auch des Änderungsbescheids zu würdigen haben.

13 b) Auch wenn das FA —entsprechend seinem geänderten Vorbringen in den Beschwerdeerwiderungen— die ursprünglich angefochtene erweiterte Prüfungsanordnung aufgehoben und zugleich eine neue Prüfungsanordnung erlassen haben sollte, die nicht (nochmals) angefochten worden ist, hätte dies nicht zwingend zur Erledigung des Einspruchsverfahrens geführt. Das FG hätte in diesem Fall vielmehr zu prüfen, ob die neue Prüfungsanordnung die angefochtene Prüfungsanordnung im Sinne des § 365 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) „ersetzt“ hat (so —zur Parallelvorschrift des § 68 FGO, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539, unter II.2., und vom  - X R 13/15, BFHE 257, 486, BStBl II 2017, 1110, Rz 32 ff.). Bejahendenfalls wäre das Einspruchsverfahren nicht erledigt; vielmehr wäre die neue Prüfungsanordnung Gegenstand des weiterhin anhängigen Einspruchsverfahrens geworden.

14 c) Nach der BFH-Rechtsprechung besteht trotz der erfolgreichen Anfechtung einer Prüfungsanordnung dann kein Verwertungsverbot, wenn der geänderte Bescheid beim Ergehen des Änderungsbescheids noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand (, BFHE 211, 424, BStBl II 2006, 400, unter II.2.a, m.w.N.). Der Vorbehalt der Nachprüfung entfällt, wenn die Festsetzungsfrist abläuft, wobei hier bestimmte Tatbestände der Verlängerung oder Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist nicht zu berücksichtigen sind (§ 164 Abs. 4 AO). Das FG wird daher zu prüfen haben, ob die Bescheide für die Streitjahre 2012 und 2013 im Zeitpunkt des Erlasses der Änderungsbescheide am auch dann noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen, wenn man die ablaufhemmende Wirkung des —auf einer wirksamen Prüfungsanordnung beruhenden (, BFHE 271, 41, BStBl II 2021, 415, Rz 18, m.w.N.)— Beginns einer Außenprüfung (§ 171 Abs. 4 AO) hinwegdenkt. In diesem Fall wäre das Ergebnis des Einspruchsverfahrens gegen die erweiterte Prüfungsanordnung für die Entscheidung über die Klage gegen die Änderungsbescheide unerheblich.

15 3. Im Übrigen (in Bezug auf die Streitjahre 2014 bis 2016) ist die Beschwerde unzulässig, weil die gesetzlichen Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht erfüllt sind.

16 Die Klägerin macht insoweit nur geltend, es könne nicht nachvollzogen werden, weshalb die Ausbeutekalkulationen der Prüferin detaillierter sein sollten als die der anderen Beteiligten. Mit diesem Vorbringen werden indes nicht die Voraussetzungen eines der in § 115 Abs. 2 FGO abschließend genannten Zulassungsgründe dargelegt. Soweit die Klägerin behauptet, eine tatsächliche Verständigung sei nicht erfolgt, ist dies für das Rechtsmittelverfahren unerheblich, weil das FG diese Frage ausdrücklich offengelassen hat.

17 4. Die Übertragung der Kostenentscheidungen auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Auch bei einer nur teilweisen Zurückverweisung der Sache kann dem FG im Hinblick auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung die Entscheidung über die gesamten Kosten des Verfahrens übertragen werden (zu einer teilweisen Zurückverweisung im Revisionsverfahren Senatsurteil vom  - X R 14/14, BFHE 250, 19, BStBl II 2015, 931, Rz 47, m.w.N.).

18 5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:B.291025.XB31.25.0

Fundstelle(n):
KAAAK-03886