Gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch - Umfang der Rechtskraft - Bestimmtheit eines Klageantrags
Leitsatz
Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG sind im Falle einer Tarifkollision nur die Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags anwendbar. Die Wirkung der gesetzlichen Regelung ist auf die Verdrängung des Minderheitstarifvertrags beschränkt. Daraus folgt nicht die Anwendung des Mehrheitstarifvertrags auf die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der Gewerkschaft, die den verdrängten Tarifvertrag abgeschlossen hat.
Instanzenzug: Az: 41 Ca 8248/21 Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg Az: 16 Sa 155/22 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten in der Revision noch über Unterlassungsansprüche der klagenden Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL).
2Die GDL und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben mit dem Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. (AGV MOVE) jeweils eine Vielzahl von Tarifverträgen für Unternehmen des Konzerns der Deutschen Bahn AG (DB AG) geschlossen.
3Der AGV MOVE und die EVG verzichteten in einem am geschlossenen Tarifvertrag zur Sicherung kollisionsfreier Tarifbestimmungen ebenso wie der AGV MOVE und die GDL mit dem Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen vom (TV Grundsatzfragen) einvernehmlich auf die Anwendung von § 4a TVG. Die Laufzeit des TV Grundsatzfragen endete am .
4Im August 2020 informierte der AGV MOVE die GDL über die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit der EVG und bot der GDL ohne Erfolg die Aufnahme eigener Tarifverhandlungen an. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kündigte die GDL mit Schreiben vom gegenüber dem AGV MOVE ihre Tarifverträge. Die Tarifverhandlungen im Jahr 2021 endeten mit der Unterzeichnung eines „Abschlussprotokoll[s] mit Gesamteinigung zur Tarifrunde 2021 GDL vom “ durch den AGV MOVE und die GDL.
5Die Beklagte ist ein Tochterunternehmen der DB AG und Mitglied des AGV MOVE. Im Unternehmen der Beklagten besteht der Wahlbetrieb C1 DB Cargo Berlin, eine auf der Grundlage eines Zuordnungstarifvertrags nach § 3 BetrVG gebildete betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit. In diesem Betrieb wandte die Beklagte zunächst sowohl die Tarifverträge der GDL als auch der EVG an. Die DB AG informierte die GDL mit Schreiben vom und den AGV MOVE mit Schreiben vom , nunmehr konzernweit das Tarifeinheitsgesetz umsetzen zu wollen. Künftig komme in jedem Betrieb nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft zur Anwendung, die in dem jeweiligen Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder organisiert. Zur Ermittlung der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse zog die DB AG die Ergebnisse der Betriebsratswahlen, vorliegende Tarifbindungsanzeigen, „im Rahmen eines notariellen Verfahrens mit der EVG ermittelte gewerkschaftliche Mehrheitsverhältnisse in den Betrieben“ und eine „Analyse der betrieblichen Situation mit den betrieblichen Personalverantwortlichen“ heran. Die Beklagte geht aufgrund dessen davon aus, die Tarifverträge der EVG seien im Betrieb C1 DB Cargo Berlin die Mehrheitstarifverträge iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG.
6Die GDL hat die Auffassung vertreten, die Anwendung der Tarifverträge der EVG auf ihre Mitglieder verletze ihre Koalitionsfreiheit iSd. Art. 9 Abs. 3 GG, so dass ihr ein Unterlassungsanspruch zustehe. § 4a TVG sei verfassungs- und europarechtswidrig, so dass keine Verdrängung der Tarifverträge der GDL eintreten könne. Selbst wenn die Norm verfassungs- und europarechtskonform wäre, würde eine Verdrängung erst nach rechtskräftigem Abschluss eines Verfahrens nach § 99 ArbGG eintreten.
7Die GDL hat - soweit für die Revision von Bedeutung - beantragt,
8Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die Anträge seien mangels Bestimmtheit unzulässig. Jedenfalls sei die Klage unbegründet, da die Beklagte § 4a TVG zutreffend angewendet habe, so dass die Koalitionsfreiheit der GDL nicht verletzt worden sei.
9Das Arbeitsgericht hat die - neben den streitgegenständlichen Anträgen auch auf Durchführung der Tarifverträge der GDL gerichtete - Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der GDL zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die GDL ihr Unterlassungsbegehren weiter.
Gründe
10Die zulässige Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht ist rechtsfehlerhaft von der Zulässigkeit der Anträge ausgegangen. Dies führt nach § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
11I. Der Hauptantrag ist mangels hinreichender Bestimmtheit iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO unzulässig.
121. Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sind Anträge, mit denen die Unterlassung von Handlungen verlangt wird, so genau zu bezeichnen, dass die Inanspruchgenommene im Fall einer dem Antrag entsprechenden gerichtlichen Entscheidung eindeutig erkennen kann, unter welchen Voraussetzungen was von ihr verlangt wird. Für sie muss - bereits aus rechtsstaatlichen Gründen - aufgrund des Unterlassungstitels erkennbar sein, welche Handlungen sie künftig zu unterlassen hat, um sich rechtmäßig verhalten zu können. Die Prüfung, welche Verhaltensweise die Schuldnerin unterlassen soll, darf nicht durch eine ungenaue Antragsformulierung und einen dementsprechenden gerichtlichen Titel aus dem Erkenntnis- in das Zwangsvollstreckungsverfahren verlagert werden. Allerdings dürfen die Anforderungen insoweit auch nicht überspannt werden, weil andernfalls effektiver Rechtsschutz vereitelt würde. Dementsprechend sind die Gerichte verpflichtet, Anträge nach Möglichkeit so auszulegen, dass eine Sachentscheidung ergehen kann. Zukunftsgerichtete Verbote lassen sich häufig nur generalisierend formulieren. Die Notwendigkeit gewisser Subsumtionsprozesse im Rahmen einer etwa erforderlich werdenden Zwangsvollstreckung steht daher der Verwendung ausfüllungsbedürftiger Begriffe in einem Unterlassungstitel und dem darauf gerichteten Antrag nicht generell entgegen ( - Rn. 13; - 7 ABR 11/23 - Rn. 19 mwN).
132. Nach diesen Grundsätzen mangelt es dem Antrag der GDL an der hinreichenden Bestimmtheit.
14a) Die Tarifverträge, deren Anwendung die Beklagte unterlassen soll, sind weder abschließend noch eindeutig bezeichnet.
15aa) Die GDL hat nicht alle vom Antrag erfassten Tarifverträge benannt. Nach dessen Wortlaut soll die Anwendung der zwischen der EVG und dem AGV MOVE geschlossenen Tarifverträge unterlassen werden. Die pauschale Einbeziehung aller Tarifverträge ermöglicht nicht die Prüfung, ob die Voraussetzungen des begehrten Unterlassungsanspruchs in Bezug auf alle zwischen der EVG und dem AGV MOVE geschlossenen Tarifverträge und alle Mitglieder der GDL vorliegen. Dies kann nur für jeden Tarifvertrag einzeln festgestellt, nicht aber insgesamt beurteilt werden. Zur Identifizierung des Umfangs des Antrags ist daher die Angabe der einbezogenen Tarifverträge erforderlich. Die im Antrag enthaltene Aufzählung genügt dem nicht. Sie soll lediglich bespielhaft einige der Tarifverträge, deren Anwendung unterlassen werden soll, bezeichnen, und ist nicht abschließend. Das ergibt sich aus der Verwendung des Zusatzes „namentlich“, was „hauptsächlich, in der Hauptsache, in erster Linie, vor allem, vor allen Dingen“ (Duden Das Bedeutungswörterbuch 5. Aufl. Stichwort „namentlich“) bedeutet. Die GDL hat ein solches Verständnis in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt.
16bb) Der Antrag ist darüber hinaus nicht hinreichend bestimmt, weil die ausdrücklich bezeichneten Tarifverträge ohne Abschlussdatum aufgeführt sind. Dieses ist neben der namentlichen Bezeichnung zur Festlegung des Antragsgegenstands erforderlich (vgl. zum Einwirkungsanspruch - Rn. 40 ff.).
17(1) Ob eine einen Unterlassungsanspruch begründende Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit einer Gewerkschaft - hier der GDL - durch die Anwendung von Tarifverträgen anderer Gewerkschaften - hier der EVG - vorliegt, kann nur in Bezug auf konkrete Tarifverträge festgestellt werden. Bei der Prüfung müssen die Inhalte der Tarifverträge, deren Verhältnis zueinander und die jeweiligen Gründe für die Anwendung oder Nichtanwendung berücksichtigt werden. Endet die normative Geltung eines Tarifvertrags (§ 3 Abs. 1 und 3 TVG), kann ein Unterlassungsbegehren hierauf nicht mehr gestützt werden (vgl. - Rn. 32, BAGE 180, 55). Das Unterlassungsbegehren bezieht sich damit stets auf einen bestimmten Tarifvertrag während seiner Geltungszeit; die zu unterlassene Handlung ist nur bei eindeutiger Bezeichnung des jeweiligen Tarifvertrags hinreichend bestimmt. Dies erfordert die Angabe des Abschlussdatums.
18(2) Auch ein Antrag, der sich auf die jeweils geltende Fassung eines Tarifvertrags bezieht, ist nicht hinreichend bestimmt. Dessen jeweilige Fassungen betreffen unterschiedliche Streitgegenstände und können nicht Gegenstand desselben Antrags sein. Durch die Änderung des Tarifvertrags - ggf. auch nur hinsichtlich der Geltungszeit - ändert sich das rechtliche Prüfprogramm. Der Unterlassungsanspruch würde damit auf einen geänderten Lebenssachverhalt gestützt (vgl. zur Änderung der Tarifverträge, auf deren Verdrängung der Unterlassungsanspruch gestützt wird - Rn. 37, BAGE 180, 55).
19b) Zudem fehlt es an der namentlichen Benennung der Mitglieder der Klägerin, gegenüber denen die Anwendung der Tarifverträge unterlassen werden soll. Diese ist jedenfalls in einem Fall wie dem Vorliegenden für einen hinreichend bestimmten Antrag erforderlich (vgl. zur Bestimmtheit eines auf einen Durchführungsanspruch bezogenen Leistungsantrags ohne namentliche Nennung der Mitglieder - Rn. 23 ff., BAGE 176, 27).
20aa) Die GDL begehrt die Unterlassung der Anwendung verschiedener Tarifverträge, deren Geltungsbereiche sich - wie sich bereits aus ihrer Bezeichnung ergibt - zum Teil nicht auf alle Beschäftigten der Beklagten, sondern lediglich auf bestimmte „Funktionsgruppen“ beziehen. Ohne namentliche Nennung der Mitglieder und deren Zuordnung zu den jeweils einschlägigen Tarifverträgen bliebe unklar, welcher Antrag sich auf welche Beschäftigten bezieht.
21bb) Darüber hinaus könnte die Nennung der Mitglieder nur dann entbehrlich sein, wenn der Anspruch gegenüber allen Mitgliedern unabhängig von deren individuellen Arbeitsverhältnissen in gleicher Weise besteht oder nicht bestehen würde. Das würde voraussetzen, dass es sich bei der beanstandeten Verhaltensweise der Beklagten um eine einheitliche Maßnahme handelt. Eine solche liegt vorliegend allenfalls in der Nichtanwendung der Tarifverträge der GDL, nicht aber in der Anwendung der Tarifverträge der EVG.
22(1) Aus der - nach Auffassung der GDL fehlerhaften - Anwendung des § 4a TVG folgt die Nichtanwendung der Tarifverträge der GDL. Die Beklagte hat, wie sich aus dem Schreiben der DB ergibt, die Mehrheitsverhältnisse im streitgegenständlichen Betrieb ermittelt und ist zu der Auffassung gelangt, die mit der EVG geschlossenen Tarifverträge seien die Mehrheitstarifverträge. Seither geht sie von einer Verdrängung der Tarifverträge der GDL nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aus und wendet diese nicht mehr an. Hierin liegt eine einheitliche Maßnahme, die unabhängig von den individuellen arbeitsvertraglichen Vereinbarungen der Mitglieder der GDL erfolgt.
23(2) Aus § 4a TVG folgt nicht zugleich die Anwendung des Mehrheitstarifvertrags auf die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der GDL. Die Wirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist auf die Verdrängung der Minderheitstarifverträge beschränkt (Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 311; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4a Rn. 195; Däubler/Zwanziger/Däubler TVG 5. Aufl. § 4a Rn. 88; MHdB ArbR/Klumpp 6. Aufl. § 256 Rn. 54; vgl. auch BT-Drs. 18/4062 S. 13). Soweit daher die Beklagte die Tarifverträge der EVG auf Mitglieder der GDL anwendet, ergibt sich dies nicht unmittelbar aus der nach Auffassung der GDL fehlerhaften Anwendung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG.
24(3) Eine einheitliche Maßnahme, die zur Anwendung der Tarifverträge der EVG auf die Mitglieder der GDL führen würde, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Es ist daher im Einzelfall zu prüfen, ob eine Anwendung erfolgt und auf welcher Grundlage diese beruht. Hierfür kommen insbesondere - wie auch im Vortrag der Parteien angedeutet - arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln in Betracht. Die Beurteilung kann, abhängig vom Inhalt des jeweiligen Arbeitsvertrags und im Hinblick auf das in § 4 Abs. 3 TVG geregelte Günstigkeitsprinzip für jedes Mitglied der GDL anders ausfallen.
25II. Der Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts führt nach § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Der Senat kann nicht nach § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst entscheiden und den Antrag als unzulässig abweisen. Die GDL hatte nach dem Verfahrensverlauf nicht ausreichend Gelegenheit und Veranlassung, einen sachdienlichen Antrag zu stellen, der den Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO genügt. Hierzu war der (in beiden Instanzen erfolgte) Hinweis der Beklagten nicht ausreichend. Vielmehr hätte es eines gerichtlichen Hinweises nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO bedurft.
261. Gerichtliche Hinweispflichten dienen der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör. Die grundrechtliche Gewährleistung des rechtlichen Gehörs vor Gericht schützt auch das Vertrauen der in der Vorinstanz obsiegenden Partei da-rauf, vom Rechtsmittelgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses anders als die Vorinstanz Anträge als nicht sachdienlich erachtet. Hält ein Gericht einen Antrag abweichend vom Ausspruch der Vorinstanz für unzulässig, weil er dem Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht genügt, so muss es auf eine Heilung dieses Mangels hinwirken. Die betroffene Partei muss Gelegenheit erhalten, ihren Sachantrag den Zulässigkeitsbedenken des erkennenden Gerichts anzupassen. In der Regel können sich zwar Hinweise des Gerichts erübrigen, wenn die betroffene Partei von der Gegenseite die erforderliche Unterrichtung erhalten hat. Dies gilt jedoch nicht ohne weiteres für die gerichtliche Pflicht, auf sachdienliche Anträge hinzuwirken. Begründeten Anlass zur Änderung ihres Sachantrags hat eine Partei nicht schon dann, wenn die Gegenseite in der Rechtsmittelinstanz die erstrittene Sachentscheidung wegen ihres angeblich unbestimmten Ausspruchs angreift. Denn dieser Angriff wiegt nicht schwerer als die ergangene günstige Sachentscheidung. Prozessuale Obliegenheiten der vorinstanzlich obsiegenden Partei erwachsen deshalb noch nicht allein aus der gegnerischen Bestimmtheitsrüge im Hinblick auf eine nachträgliche Konkretisierung des Sachantrags. Solche Konsequenzen muss die Partei erst dann erwägen, wenn sie durch die Rechtsmittelinstanz selbst erfährt, dass diese den für sie günstigen Standpunkt der Vorinstanz insoweit nicht teilt ( - Rn. 15; - 7 ABR 16/14 - Rn. 21; - Rn. 6).
272. Nach diesen Grundsätzen fehlt es vorliegend an dem erforderlichen rechtlichen Hinweis auf die Unbestimmtheit des Antrags. Die GDL hat zwar in den Vorinstanzen nicht obsiegt, diese haben ihren Antrag aber ausdrücklich für zulässig und damit hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erachtet. Insoweit hatte die GDL mangels gerichtlichen Hinweises keine Veranlassung, ihren Antrag zu konkretisieren. Auf einen solchen Hinweis in der Revisionsinstanz hin könnte die GDL ihr Vorbringen nicht mehr konkretisieren. Hierzu wäre nach § 559 Abs. 1 ZPO unzulässiger neuer Sachvortrag erforderlich. Das führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, um der GDL eine Konkretisierung ihres Antrags und eine entsprechende Sachentscheidung zu ermöglichen.
28III. Sollte die GDL im fortgesetzten Berufungsverfahren einen den Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entsprechenden Sachantrag stellen, wird das Landesarbeitsgericht bei seiner Entscheidung Folgendes zu beachten haben:
291. Der Zulässigkeit der Unterlassungsanträge steht die rechtskräftige Abweisung des früheren Antrags zu 1., mit dem die GDL die Durchführung im Einzelnen benannter zwischen ihr und dem AGV MOVE abgeschlossener Tarifverträge durch die Beklagte begehrt hat, nicht entgegen.
30a) Die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung (§ 322 Abs. 1 ZPO) steht - als von Amts wegen zu beachtende negative Prozessvoraussetzung - einer neuen Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand entgegen (ne bis in idem). Wird in einem nachfolgenden Prozess über den identischen prozessualen Anspruch oder dessen kontradiktorisches Gegenteil gestritten, ist diese Klage unzulässig. Dies gilt auch, wenn im Zweitprozess eine andere Klageart gewählt wird ( - Rn. 19 mwN; - 9 AZR 113/19 - Rn. 17).
31b) Der Umfang der materiellen Rechtskraft gemäß § 322 Abs. 1 ZPO ist aus dem Urteil und den dazu ergangenen Gründen zu bestimmen. Bei einer klageabweisenden Entscheidung ist der aus der Begründung zu ermittelnde ausschlaggebende Abweisungsgrund Teil des in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungssatzes und nicht allein ein Element der Entscheidungsbegründung ( - Rn. 23 mwN).
32c) Mit der Entscheidung über den Durchführungsanspruch ist danach nicht über denselben prozessualen Anspruch entschieden worden, wie er nunmehr (noch) mit dem Unterlassungsantrag geltend gemacht wird. Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag der GDL mit der Begründung abgelehnt, ein schuldrechtlicher Durchführungsanspruch bestehe gegenüber dem Tarifvertragspartner, nicht jedoch gegenüber der Beklagten als Mitgliedsunternehmen des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes. Damit ist keine inhaltliche Entscheidung über die (un-)zutreffende Anwendung des § 4a TVG sowie über die im streitgegenständlichen Betrieb anwendbaren Tarifverträge und eine Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit der GDL getroffen.
332. Die GDL hat einen Anspruch nach § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG auf Unterlassen der Anwendung der zwischen der EVG und dem AGV MOVE geschlossenen Tarifverträge auf ihre Mitglieder bislang nicht schlüssig dargelegt.
34a) Art. 9 Abs. 3 GG schützt eine Koalition in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Geschützt ist insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen. Das schließt den Bestand und die Anwendung geschlossener Tarifverträge ein ( ua. - Rn. 131, BVerfGE 146, 71). Die Koalitionsfreiheit wird nicht erst dann beeinträchtigt, wenn eine Koalition daran gehindert wird, Tarifrecht zu schaffen. Eine Einschränkung oder Behinderung dieses Freiheitsrechts liegt bereits in Abreden oder Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Wirkung des von Koalitionen geschaffenen Tarifrechts zu vereiteln oder leerlaufen zu lassen. Ohne Bedeutung ist, ob entsprechende Abreden nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig sind, also die tarifliche Ordnung nicht in rechtlich erzwingbarer Weise ersetzen können. Die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit liegt bereits in der Eignung solcher Absprachen, aufgrund ihres erklärten Geltungsanspruchs faktisch an die Stelle der tariflichen Regelung zu treten, die Tarifnormen als kollektive Ordnung zu verdrängen und sie damit ihrer zentralen Funktion zu berauben ( - Rn. 31, BAGE 180, 55; - 1 ABR 32/15 - Rn. 20, BAGE 159, 222; - 1 AZR 473/09 - Rn. 35, BAGE 138, 68).
35b) Geltendes Tarifrecht wird allerdings nur dann verdrängt, wenn der betreffende Tarifvertrag im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gilt, sei es nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG. Soweit es daran fehlt, besteht kein Geltungsanspruch des Tarifvertrags. Mit Beendigung der Tarifgebundenheit entfällt die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit als Voraussetzung eines negatorischen Unterlassungsanspruchs, der auf die Abwehr zukünftiger Störungen gerichtet ist (vgl. - Rn. 32, BAGE 180, 55; - 1 ABR 32/15 - Rn. 21 mwN, BAGE 159, 222).
36c) Hiervon ausgehend ist dem bisherigen Vortrag der GDL ein Unterlassungsanspruch nicht zu entnehmen.
37aa) Die durch die GDL behauptete Anwendung der Tarifverträge der EVG ist keine Maßnahme, die auf die Verdrängung der Tarifverträge der GDL als kollektive Ordnung gerichtet wäre.
38(1) Die Nichtanwendung der Tarifverträge der GDL beruht auf der - nach Auffassung der GDL fehlerhaften - Anwendung des § 4a TVG. Hierbei handelt es sich um eine Maßnahme, durch die die Tarifverträge der GDL als kollektive Ordnung verdrängt werden. Soweit die Auffassung der GDL zutrifft, könnte dies einen Eingriff in die Tarifautonomie darstellen. Mit dem Unterlassungsantrag wendet sich die GDL aber nicht gegen die Nichtanwendung ihrer eigenen Tarifverträge, sondern gegen die Anwendung der Tarifverträge der EVG.
39(2) Hinsichtlich der Anwendung der Tarifverträge der EVG ist eine Maßnahme, die auf die Verdrängung der Tarifverträge der GDL gerichtet wäre, nicht ersichtlich. Die Wirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist auf die Verdrängung des Minderheitstarifvertrags beschränkt (Rn. 23). Auf welcher Basis die Anwendung der Tarifverträge der EVG beruht, ist bislang nicht vorgetragen. Soweit sie auf einzelvertragliche Regelungen zurückzuführen wäre, ist nicht ersichtlich, dass es sich beim Abschluss der Arbeitsverträge um eine gezielte Maßnahme der Beklagten zur Verdrängung der Tarifverträge der GDL gehandelt hätte.
40bb) Die durch die GDL geltend gemachte Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsfreiheit konnte sich zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht nur auf die nach dem Tarifabschluss aus September 2021 geschlossenen Tarifverträge beziehen. Diese Tarifverträge der GDL dürften allerdings nach dem gerichtsbekannten (vgl. - Rn. 51) Tarifabschluss vom durch die dabei vereinbarten Tarifverträge abgelöst worden sein. Soweit eine Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit bestanden haben sollte, wäre diese mit Beendigung der normativen Wirkung dieser Tarifregelungen entfallen ( - Rn. 32, BAGE 180, 55).
413. Der Hilfsantrag, für den die Zulässigkeitsanforderungen in gleicher Weise gelten, würde nach der durch das Arbeitsgericht vorgenommenen und durch die GDL bestätigten Auslegung dem Landesarbeitsgericht lediglich dann zur Entscheidung anfallen, wenn der Hauptantrag mit der Begründung abgewiesen würde, ein Unterlassungsanspruch bestehe nur bis zum Zeitpunkt einer rechtskräftigen Mehrheitsfeststellung.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:190325.U.4AZR283.23.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-93750