Erschließung sogenannter gefangener Hinterliegergrundstücke bei Eigentümeridentität
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen einer Erschließung sogenannter gefangener Hinterliegergrundstücke bei Eigentümeridentität.
Gesetze: § 129 Abs 1 S 1 BauGB, § 131 BauGB, § 53 Abs 2 VwVfG
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Az: 6 A 11831/16 Urteilvorgehend Az: 4 K 41/15.KO Urteil
Tatbestand
1Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung des rund 200 Meter langen östlichen Endes der G.-Straße in M.
2Der Kläger ist Eigentümer der Flurstücke a und b, c und d, e und f, g und h sowie i in der Gemarkung M., Flur ..., von denen allein das letztgenannte bebaut ist. Dieses grenzt östlich an die F.straße und südlich - ebenso wie die nur wenige Meter tiefen Parzellen g und h - an die G.-Straße. Die übrigen Flurstücke liegen westlich der Parzelle i und nördlich der Parzellen g und h:
3In den Jahren 1985/1986 wurde das östliche, an die klägerischen Grundstücke grenzende Ende der G.-Straße vierspurig erbaut. Mit Bescheiden vom zog die Beklagte den Rechtsvorgänger des Klägers, Herrn ... N. (im Folgenden: Herr N.), zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag heran. Dieser zahlte für das Flurstück i; im Übrigen wurden die Vorausleistungen ausgesetzt. Ursprünglich plante die Beklagte, die G.-Straße vierspurig weiterzuführen. Im Jahr 1999 beschloss sie jedoch einen Bebauungsplan, der eine nur noch zweispurige Fortführung der Straße vorsah. In diesem Umfang wurde die G.-Straße in den Jahren 2003/2004 weitergebaut und im Juli 2007 in ihrer gesamten Länge als Gemeindestraße gewidmet.
4Unter dem erließ die Beklagte gegen Herrn N. für die vorgenannten Grundstücke drei Erschließungsbeitragsbescheide. Mit rechtskräftigem Urteil vom hob das Verwaltungsgericht Koblenz zwei der Bescheide mit der Begründung als nichtig auf, darin seien Flurstücke zu Unrecht als wirtschaftliche Einheit veranlagt worden; lediglich der das Flurstück i betreffende Bescheid sei rechtmäßig. Mit den vorliegend angefochtenen Bescheiden vom zog die Beklagte daraufhin Herrn N. für die unbebauten Flurstücke erneut zu Erschließungsbeiträgen in Höhe von insgesamt 64 630,92 € heran und veranlagte ihn bezüglich des Flurstücks i zu einem Nacherhebungsbetrag in Höhe von 5 674,56 €.
5Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom , die Höhe der Beitragsbescheide unter Berücksichtigung eines kleinen Teils einer weiteren, nicht im klägerischen Eigentum stehenden Parzelle (j) neu zu berechnen. Im Übrigen wies es die Klage mit der Begründung ab, die Beitragspflicht sei weder verjährt noch aus Gründen von Treu und Glauben ausgeschlossen. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung des Herrn N. mit Urteil vom zurück und führte zur Begründung unter anderem aus, die Festsetzungsfrist sei gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 Kommunalabgabengesetz Rheinland-Pfalz - KAG RP - vom (GVBl. S. 175), künftig: § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG a. F. i. V. m. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO am und damit nach Erlass der angefochtenen Bescheide abgelaufen. Maßgeblich für den Fristbeginn sei die Widmung als letzte Voraussetzung für die Entstehung des Beitragsanspruchs. Eine Verwirkung sei nicht eingetreten. Die Beitragserhebung verstoße auch nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Der Gesetzgeber habe auf eine gesonderte Höchstfrist für die Beitragserhebung verzichten dürfen. Diese bestimme sich - im Wege der Analogie oder vermittelt über den Grundsatz von Treu und Glauben - anhand der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 VwVfG, welche vorliegend noch nicht abgelaufen sei.
6Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen, zunächst unter dem Aktenzeichen BVerwG 9 C 5.17 geführten Revision hat Herr N. mehrere Einwände gegen die angefochtenen Bescheide erhoben und unter anderem das Fehlen einer absoluten zeitlichen Höchstgrenze für die Heranziehung zu Beitragszahlungen gerügt. Wegen der von der Frage der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Ausschlussfrist unabhängigen Problematik der Erschließung von Hinterliegergrundstücken hat der Senat mit Beschlüssen vom das Verfahren, soweit es die Erschließungsbeitragsbescheide der Beklagten hinsichtlich der Flurstücke Nr. a und b sowie c und d betraf, abgetrennt, unter dem Aktenzeichen BVerwG 9 C 8.18 fortgeführt und analog § 94 VwGO unter Mitteilung seiner vorläufigen rechtlichen Einschätzung ausgesetzt. Auf den im verbliebenen Verfahren BVerwG 9 C 5.17 ebenfalls am ergangenen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Senats gemäß Art. 100 Abs. 1 GG (BVerwGE 163, 58) hat das - (BVerfGE 159, 183) § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG a. F. insoweit für mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar erklärt, als danach Erschließungsbeiträge nach dem Eintritt der Vorteilslage zeitlich unbegrenzt erhoben werden können, und den Landesgesetzgeber zum Erlass einer verfassungsgemäßen Regelung verpflichtet. Dieser hat daraufhin mit Art. 1 des Vierten Landesgesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom (GVBl. S. 207) in § 3 Abs. 2 KAG RP eine neue Nummer 8 eingefügt, der zufolge die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig ist.
7Mit Beschlüssen vom hat der Senat die zunächst unter den Aktenzeichen BVerwG 9 C 26.21 (9 C 5.17) und 9 C 27.21 (9 C 8.18) fortgeführten Verfahren wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Todes des Herrn N. erneut ausgesetzt. Als dessen Rechtsnachfolger hat der Kläger mit Schriftsätzen vom die Verfahren wiederaufgenommen, die unter den Aktenzeichen BVerwG 9 C 1.24 (9 C 5.17; 9 C 26.21) und 9 C 2.24 (9 C 8.18; 9 C 27.21) geführt wurden.
8Der Kläger macht geltend, der östliche Teil der G.-Straße sei keine selbständige Erschließungsanlage; die fehlerhafte Planung könne die Eigenständigkeit nicht rechtfertigen. Ein vierspuriger Ausbau sei nicht notwendig gewesen. Das prognostizierte Verkehrsaufkommen sei nicht eingetreten; für den ruhenden Verkehr würden keine zusätzlichen Fahrspuren benötigt. Die für den Beginn des Laufs der Ausschlussfrist maßgebliche Vorteilslage sei mit dem Bau des östlichen Abschnitts in den Jahren 1985/1986 eingetreten.
9Der Kläger beantragt schriftsätzlich im Verfahren BVerwG 9 C 1.24
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Verwaltungsgerichts Koblenz vom zu ändern und die Erschließungsbeitragsbescheide der Beklagten vom hinsichtlich der Flurstücke Gemarkung M., Flur ..., Nr. e und g und Nr. f und h sowie den Nacherhebungsbescheid gleichen Datums hinsichtlich des Flurstücks Gemarkung M., Flur ..., Nr. i, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , aufzuheben,
und im Verfahren BVerwG 9 C 2.24
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Verwaltungsgerichts Koblenz vom zu ändern und die Erschließungsbeitragsbescheide der Beklagten vom hinsichtlich der Flurstücke Gemarkung M., Flur ..., Nr. a, b, c und d, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt schriftsätzlich in beiden Verfahren,
die Revision zurückzuweisen.
11Mit Beschluss vom hat der Senat die Verfahren gemäß § 93 Satz 1 VwGO zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und unter dem Aktenzeichen BVerwG 9 C 1.24 fortgeführt.
Gründe
12Die Revisionen, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne erneute mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), sind zulässig und begründet. Das angegriffene Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung revisiblen Rechts, § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO (1.). Ob es sich im Ergebnis als zutreffend erweist, kann der Senat auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden; dies erfordert die Zurückverweisung der Sache, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO (2.). Ebenfalls mangels erforderlicher tatrichterlicher Feststellungen kann nicht abschließend entschieden werden, ob - wozu sich die Vorinstanzen nicht verhalten haben - einzelne, nicht unmittelbar an die Anlage angrenzende Flurstücke zu Recht bei der Verteilung des beitragsfähigen Aufwands berücksichtigt wurden (3.).
131. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Bundesrecht verletzen zwar weder die Feststellung, bei dem abgerechneten Teil der Straße handele es sich um eine selbständige Erschließungsanlage (a), noch diejenige, der Erschließungsaufwand sei erforderlich gewesen (b). Jedoch widerspricht die Annahme, der Gesetzgeber habe auf eine verjährungsunabhängige Ausschlussfrist für die Beitragserhöhung verzichten dürfen, weil diese sich - im Wege der Analogie oder vermittelt über den Grundsatz von Treu und Glauben - anhand der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 VwVfG bestimme, dem verfassungsrechtlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (c). Ebenfalls nicht mit Bundesrecht im Einklang steht die vom Berufungsgericht unbeanstandet gebliebene Einbeziehung des Flurstücks j in die Verteilung des Erschließungsaufwands (d).
14a) Ohne Bundesrechtsverstoß ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass für die Beurteilung der Frage, wo eine selbständige Erschließungsanlage beginnt und endet, das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild maßgebend ist. Abzustellen ist auf die tatsächlich sichtbaren Verhältnisse, wie sie zum Beispiel durch Straßenführung, -breite, -länge und -ausstattung geprägt werden und wie sie sich im Zeitpunkt des Entstehens sachlicher Beitragspflichten einem unbefangenen Beobachter bei natürlicher Betrachtungsweise darstellen (vgl. 9 C 20.15 - BVerwGE 158, 163 Rn. 12). Diesen Maßstab hat das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt und die erschließungsbeitragsrechtliche Eigenständigkeit mit der unterschiedlichen Anzahl der Spuren sowie der unterschiedlichen Gestaltung des Straßenbildes begründet. Diese Feststellungen, gegen die der Kläger keine Revisionsgründe vorgebracht hat, sind im Revisionsverfahren bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO). Der Einwand, eine fehlerhafte Trassenplanung könne nicht zur Annahme der Eigenständigkeit der Erschließungsanlage führen, rechtfertigt keine anderweitige Betrachtung. Maßgebend ist das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild; auf eine rechtliche Bewertung kommt es folglich nicht an (vgl. 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 49).
15b) Ebenfalls im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass der Gemeinde bei der Bestimmung des nach § 129 Abs. 1 Satz 1 BauGB Erforderlichen ein weiter Entscheidungsspielraum zusteht, der erst überschritten ist, wenn die im Einzelfall gewählte Lösung sachlich schlechthin unvertretbar ist (stRspr, vgl. 9 C 6.03 - DVBl 2004, 1038). Zutreffend ist die Vorinstanz darüber hinaus davon ausgegangen, dass sich die Erforderlichkeit (auch) anhand des Bedarfs bestimmt, mit dem prognostisch unter Berücksichtigung einer voraussehbaren Entwicklung vorsorglich gerechnet werden muss. Dies schließt Entwicklungen ein, die sich nach der bebauungsrechtlichen Rechtslage künftig durch die Aufnahme oder Änderung gewerblicher oder industrieller Nutzungen ergeben können (vgl. 8 C 36.91 - NVwZ 1994, 905 <907>). Auch darf die Gemeinde bei der Entscheidung, mit welcher Breite eine Erschließungsanlage hergestellt wird, den Gesichtspunkt der Leichtigkeit des Verkehrs in ihre Überlegungen einbeziehen (vgl. 4 C 74.73 - BayVBl 1976, 281 und vom - 4 C 18.76 - DVBl 1979, 780).
16Der Bebauungsplan "Gewerbegebiet Depot II" aus dem Jahr 1975 sah neben den beiden Fahrspuren die beidseitige Errichtung zweier Abstellspuren, d. h. einen vierspurigen Ausbau, vor. Dessen Erforderlichkeit hat das Berufungsgericht nicht allein mit der für sich genommen nicht ausreichenden (vgl. 4 C 23.74 - BRS 37 Nr. 142) Begründung bejaht, die Breite der Straße liege unterhalb des satzungsmäßig zulässigen Höchstmaßes. Es hat vielmehr unabhängig hiervon festgestellt, eine ausreichende Zahl von Stellplätzen sei auf den erschlossenen Grundstücken nicht sichergestellt gewesen; zudem könnten Lastkraftwagen bei der gewählten Straßenbreite ohne Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn auf die anliegenden Grundstücke abbiegen. Mit dem Einwand, es würden keine zusätzlichen Fahrspuren für den ruhenden Verkehr benötigt und der angeblich besondere Bedarf an zusätzlicher Abbiegefläche bleibe unklar, legen der Kläger bzw. sein Rechtsvorgänger nicht dar, dass das Berufungsgericht bei seiner Überzeugungsbildung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher an die vorgenannten Feststellungen gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO). Sie werden darüber hinaus nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Beklagte im Jahr 1999 - dreizehn Jahre nach dem Ausbau des streitgegenständlichen Abschnitts 1986 - für den weiteren Verlauf der G.-Straße auf einen vierspurigen Ausbau verzichtet hat, den sie noch 1989 mit dem Deckblatt 3 zum Bebauungsplan "Gewerbegebiet Depot II" bestätigt hatte.
17c) Bundesrecht verletzt das Urteil des Berufungsgerichts aber insoweit, als es zur Bestimmung der zeitlichen Höchstgrenze für die Abgabenerhebung auf die 30-jährige Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 VwVfG zurückgegriffen hat (vgl. - BVerfGE 159, 183; 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58).
18d) Darüber hinaus hat das Berufungsgericht unter Verstoß gegen Bundesrecht die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht beanstandet, der zufolge das nicht im Eigentum des Klägers stehende Flurstück j nur zu einem kleinen Teil bei der Verteilung des Erschließungsaufwands zu berücksichtigen sei. Das Verwaltungsgericht stützt seine Auffassung zu Unrecht auf das 8 C 77.83 - (BVerwGE 70, 247 <253 f.>). Dieses betrifft die von der vorliegenden abweichende Konstellation, dass ein Grundstück an zwei zulässigerweise gebildeten Abschnitten einer einzigen Anbaustraße liegt. Während das Grundstück in einem solchen Fall nur von einer Erschließungsanlage erschlossen wird, wird es, wenn es - wie hier - an zwei selbständige Anbaustraßen grenzt, grundsätzlich durch beide Straßen, d. h. insgesamt zweimal erschlossen (stRspr, vgl. 8 C 12.94 - Buchholz 406.11 § 131 Nr. 100 S. 62 f. und vom - 9 C 11.15 - BVerwGE 155, 171 Rn. 27) und kann eine Belastungsbeschränkung nur nach Maßgabe der satzungsmäßigen Vergünstigung für mehrfach erschlossene Grundstücke erfolgen ( 8 C 18.92 - Buchholz 406.11 § 131 Nr. 91 S. 7).
192. Da sich das angefochtene Urteil nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO), ist es aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
20a) Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich ohne weitere Feststellungen nicht aufgrund der in Reaktion auf den mit Art. 1 des Vierten Landesgesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes vom (GVBl. S. 207) neu eingefügten Ausschlussfrist in § 3 Abs. 2 Nr. 8 KAG RP, die im vorliegenden Revisionsverfahren zu berücksichtigen ist ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 92; zur Berücksichtigung von Rechtsänderungen, die nach Erlass der Berufungsentscheidung eingetreten sind, im Revisionsverfahren vgl. 9 C 12.21 - BVerwGE 177, 48 Rn. 20), als im Ergebnis richtig.
21Danach ist über § 169 Abs. 1 Satz 1 AO hinaus die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig. Die Auslegung und Anwendung dieser landesrechtlichen Ausschlussfrist, insbesondere des Begriffs der Vorteilslage, obliegt in erster Linie dem Oberverwaltungsgericht. Dabei hat es die Anforderungen, die sich aus dem Bundes(verfassungs)recht ergeben, zu beachten. Maßstab ist hier insbesondere das Verfassungsgebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, dem die landesgesetzliche Regelung gerade Rechnung tragen soll ( 9 C 12.21 - BVerwGE 177, 48 Rn. 30).
22Das Verfassungsgebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit fordert für das Erschließungsbeitragsrecht, dass die Vorteilslage an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpft und rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht außer Betracht zu lassen sind ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 69).
23Für das Entstehen der für die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung relevanten Vorteilslage kommt es maßgeblich auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen (vgl. zu den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit im Einzelnen - BVerfGE 159, 183 Rn. 67 ff.; 9 C 12.21 - BVerwGE 177, 48 Rn. 30 ff. und Vorlagebeschluss vom - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 55 f.; Sieveking, juris PR-BVerwG 14/2023; Steinkühler, juris PR-BVerwG 9/2019).
24Das Oberverwaltungsgericht konnte sich hier wegen der erst im Laufe des Revisionsverfahrens neu geregelten Ausschlussfrist noch nicht zu deren Auslegung äußern und entsprechende Feststellungen treffen. Dies hat es nach der Zurückverweisung nachzuholen.
25b) Der Senat kann auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zudem nicht selbst entscheiden, ob sich das angefochtene Urteil bezüglich der Berücksichtigung des Flurstücks j im Ergebnis als richtig erweist. Weder den Feststellungen des Berufungsgerichts noch dem ergänzenden Tatsachenvortrag der Beklagten im Revisionsverfahren ist die Höhe der Erschließungsbeiträge zu entnehmen, die sich bei einer nur teilweisen und bei einer vollständigen Berücksichtigung des Flurstücks j ergeben.
263. Darüber hinaus kann der Senat anhand der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen nicht selbst entscheiden, ob die Flurstücke a und b sowie c und d im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB durch die F.straße und/oder die G. Straße erschlossen sind und somit zu Recht bei der Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands zu berücksichtigen waren.
27Vorbehaltlich abweichender Festsetzungen im Bebauungsplan kann sich der Erschließungsvorteil neben den unmittelbar an die Anbaustraße angrenzenden, selbständig bebaubaren oder gewerblich nutzbaren Grundstücke, die von der Anlage - gegebenenfalls nach Ausräumung bestehender, aber mit zumutbarem Aufwand zu beseitigender Hindernisse - mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen angefahren werden können, ausnahmsweise auch auf Grundstücke erstrecken, die durch weitere Grundstücke von der Anlage getrennt sind (sog. Hinterliegergrundstücke; 9 C 4.13 - BVerwGE 150, 308 Rn. 13; Beschluss vom - 9 C 8.18 - juris Rn. 10 m. w. N.), wenn diese entweder durch eine dauerhafte, rechtlich gesicherte Zufahrt mit der Anlage verbunden sind oder wenn die Eigentümer der übrigen Grundstücke nach den bestehenden tatsächlichen Verhältnissen bei Eigentümeridentität von Anlieger- und Hinterliegergrundstück schutzwürdig erwarten können, dass auch Letzteres in den Kreis der erschlossenen Grundstücke einbezogen wird, weil es tatsächlich durch eine Zufahrt über das Anliegergrundstück mit der Anlage verbunden ist oder weil Hinter- und Anliegergrundstück einheitlich genutzt werden ( 9 C 20.15 - BVerwGE 158, 163 Rn. 39 m. w. N.). Zu diesen Voraussetzungen verhält sich das Berufungsurteil nicht.
28Hiervon unabhängig können in Fällen der Eigentümeridentität darüber hinaus sogenannte gefangene, d. h. an keine Erschließungsanlage grenzende Hinterliegergrundstücke in die Verteilung des erschließungsbeitragsfähigen Erschließungsaufwands einbezogen werden. Sofern im Übrigen die Voraussetzungen des § 131 BauGB erfüllt sind, kann - vorbehaltlich gesonderter Festsetzungen des Bebauungsplans, etwa hinsichtlich der Lage von Baufenstern oder Zuwegungen, sowie topographischer Besonderheiten, die der Erwartung einer Erschließung über das Anliegergrundstück entgegenstehen - eine dahingehende schutzwürdige Erwartung der übrigen Anlieger jedenfalls insoweit bestehen, als dies der sonst üblichen Grundstücks- und Bebauungstiefe der umliegenden Anliegergrundstücke entspricht. Unter dieser Voraussetzung ist die Einbeziehung auch nicht auf das unmittelbar an das eigentliche Anliegergrundstück angrenzende Hinterliegergrundstück beschränkt und kann ein gefangenes Hinterliegergrundstück, das über Anliegergrundstücke desselben Eigentümers an mehrere Erschließungsanlagen grenzt, gegebenenfalls auch mehrfach erschlossen sein (vgl. 9 C 8.18 - juris Rn. 12 ff.). Dahingehende Feststellungen hat das Berufungsgericht bislang nicht getroffen, sodass die Sache auch insoweit zurückzuverweisen ist.
294. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:080425U9C1.24.0
Fundstelle(n):
MAAAJ-92596