Instanzenzug: LG Deggendorf Az: 1 KLs 5 Js 10630/23 jug
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind in Tateinheit mit Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es den Entzug seiner Fahrerlaubnis angeordnet und eine Fahrerlaubnissperre bestimmt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und Strafausspruch aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Nähere Ausführungen sind lediglich zu dem behaupteten Verstoß gegen § 338 Nr. 5, § 247 Satz 2 StPO veranlasst.
31. Der Abwesenheitsrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4Der Angeklagte hat sich zu Beginn der Hauptverhandlung zur Sache eingelassen und eingeräumt, der Nebenklägerin am zunächst bei einem Lokalbesuch und anschließend in seinem Hotelzimmer einen Zungenkuss gegeben zu haben. Eine Kenntnis des Alters der damals 13 Jahre und sechs Monate alten Nebenklägerin hat er bestritten. Auch habe er keine weiteren sexuellen Handlungen an ihr vorgenommen. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurde die inzwischen 14 Jahre alte Nebenklägerin zeugenschaftlich vernommen. Für die Dauer ihrer Vernehmung wurde der Angeklagte gemäß § 247 Satz 2 StPO aus dem Sitzungssaal entfernt. Dem lag eine fachärztliche Stellungnahme zugrunde, wonach bei der Nebenklägerin im Fall einer Konfrontation mit dem Angeklagten ein hohes Risiko für eine Retraumatisierung bestünde, in deren Folge eine deutliche Verschlechterung ihres Zustands und damit ein erheblicher Nachteil für ihre Gesundheit zu befürchten sei. Der Angeklagte verließ den Sitzungssaal und verfolgte die weitere Verhandlung mittels Videoübertragung. Nach ihrer Aussage wurde die Nebenklägerin förmlich in Augenschein genommen. Diese Beweiserhebung ist protokolliert. Danach wurde die Zeugin unvereidigt entlassen und der Angeklagte nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal gemäß § 247 Satz 4 StPO über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Nebenklägerin unterrichtet. Erklärungen nach § 257 StPO wurden nicht abgegeben; die Inaugenscheinnahme der Nebenklägerin wurde nicht wiederholt. Ausweislich der Urteilsgründe hat die Jugendkammer dem äußeren Erscheinungsbild der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung indizielle Bedeutung für die Kenntnis des Angeklagten ihres kindlichen Alters zur Tatzeit beigemessen.
52. Der von der Revision behauptete absolute Revisionsgrund der Verletzung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten (§ 338 Nr. 5 i.V.m. § 230 Abs. 1, § 247 Satz 2 StPO) liegt nicht vor, weil sein Ausschluss von der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin nach § 247 Satz 2 StPO auch die Augenscheinseinnahme ihrer äußeren Erscheinung mit umfasste.
6a) Dem Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung, das ihm aufgrund seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, kommt eine hohe Bedeutung zu (vgl. , BGHSt 55, 87 Rn. 14; Urteil vom – 1 StR 216/17, NStZ 2018, 156, 157; jew. mwN). Es kann daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, in denen andere gewichtige Belange entgegenstehen und eine Einschränkung seiner grundsätzlich zu gewährleistenden Anwesenheit verlangen, eingeschränkt werden. Eine solche Ausnahme enthält § 247 Satz 2 StPO. Diese Vorschrift – von der die Jugendkammer vorliegend Gebrauch gemacht hat – regelt den Ausschluss des Angeklagten während der Vernehmung des Zeugen zu dessen Schutz (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 247 Rn. 1; BeckOK-StPO/Berg, 54. Ed., § 247 Rn. 6). Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 Satz 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Grundsätzlich ist jedoch mit Blick auf die Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten eine restriktive Auslegung geboten (vgl. , BGHSt 55, 87 Rn. 14 mwN). Der mit einem Ausschluss zwangsläufig verbundene Eingriff in die Autonomie des Angeklagten ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert (vgl. , BGHSt 55, 87 Rn. 15 mwN).
7b) Gemessen daran gebietet es der Zeugen- und Opferschutz im Fall des § 247 Satz 2 StPO, den Vernehmungsbegriff auf die Inaugenscheinnahme des äußeren Erscheinungsbildes der Zeugin – hier der Nebenklägerin – zu erstrecken.
8aa) Wurde – wie hier – der Angeklagte zu Recht nach § 247 Satz 2 StPO für die Dauer der Vernehmung einer minderjährigen Zeugin aus dem Sitzungssaal entfernt, weil bei dieser Zeugin im Fall einer Konfrontation mit dem Angeklagten ein hohes Risiko für eine Retraumatisierung besteht, würde der Zweck dieser Maßnahme vereitelt, wenn eine Inaugenscheinnahme des äußeren Erscheinungsbildes der Zeugin wiederum in Anwesenheit des Angeklagten stattfinden müsste. Vielmehr ist es zur Vermeidung jedweden Zusammentreffens von Angeklagtem und zu schützendem Zeugen regelmäßig unabdingbar, den Angeklagten auch von der Augenscheinseinnahme des Zeugen auszuschließen. Insoweit könnte sogar zu besorgen sein, dass der Zeuge bei der Durchführung des Augenscheins noch intensiver der Begegnung mit dem Angeklagten ausgesetzt wäre als bei seiner Vernehmung. Denn konsequenterweise müsste dem Angeklagten als Prozessbeteiligtem dann auch das Recht zugesprochen werden, den Augenschein selbst vorzunehmen und sich zu diesem Zweck dem Zeugen zu nähern (vgl. Rn. 17). Es liegt daher auf der Hand, dass eine derartige Konfrontation während der Augenscheinseinnahme für den Zeugen ebenso einen erheblichen Nachteil für sein Wohlergehen besorgen ließe wie seine Vernehmung im Beisein des Angeklagten.
9Ein anderes Prozedere, das zugleich das Anwesenheitsrecht des Angeklagten gewährleistet und eine Begegnung zwischen Zeugen und Angeklagtem vermeidet, ist durch das Gericht, wenn es die Person des Zeugen unmittelbar zum Gegenstand eines Augenscheins machen will, nicht zu gestalten (anders beim Ausschluss von der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen: vgl. , BGHSt 55, 87 Rn. 16 ff.; vgl. auch Urteil vom – 4 StR 112/90, BGHSt 37, 48, 49 [§ 247 Satz 2 StPO entsprechend auf die Vereidigung]).
10bb) Es kann danach dahinstehen, ob im vorliegenden Fall in der Sache überhaupt eine eigenständige Inaugenscheinnahme stattgefunden hat. Denn das Betrachten der äußeren Erscheinung im Sinne der sich offen darbietenden Körperbeschaffenheit eines Zeugen während seiner Befragung gehört zur Vernehmung. Eines förmlichen Augenscheins bedarf es dazu nicht (vgl. , bei Dallinger MDR 1974, 367 f.: die Entscheidung betraf die visuelle Wahrnehmung der Narbe eines Angeklagten, bezieht sich aber auf die allgemeine Abgrenzung zwischen Vernehmung und Augenschein, die insoweit auch für Zeugen gilt, vgl. hierzu , BGHSt 5, 354, 356; Hanack, JR 1989, 254, 256; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 86 Rn. 14; MüKo-StPO/Trück, 2. Aufl., § 86 Rn. 23; BeckOK-StPO/Goers, 54. Ed., § 86 Rn. 12.).
11Dass vorliegend die Augenscheinseinnahme über die schon während der Anhörung der Nebenklägerin evidente körperliche Betrachtung hinausgegangen wäre, hat weder die Revision vorgetragen noch ergeben die Urteilsgründe hierfür irgendeinen Anhaltspunkt. Dass die Jugendkammer es vorliegend gerade nicht bei der Vernehmung der Nebenklägerin belassen, sondern diese im Anschluss an die Befragung noch förmlich in Augenschein genommen hat, führte danach nicht zu einer anderen Sichtweise. Denn diesem Verfahrensvorgang käme dann keine selbstständige Bedeutung mehr zu (vgl. Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 34). Vielmehr erschöpfte er sich in der erneuten visuellen Wahrnehmung der Nebenklägerin, die allen (präsenten) Prozessbeteiligten bereits während der vorangegangenen Zeugenvernehmung möglich gewesen war.
Quentin Sturm Maatsch
Scheuß Marks
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:260325B4STR29.25.0
Fundstelle(n):
TAAAJ-92546