Suchen
BVerfG Urteil v. - 1 BvR 1902/24

Stattgebender Kammerbeschluss: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen sozialgerichtliche Kostengrundentscheidung nach unstreitiger Erledigung einer Untätigkeitsklage - hier: unvertretbare Bejahung eines zureichenden Grundes für die Verspätung gem § 88 Abs 1 S 1 SGG verletzt das Willkürverbot

Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b AsylbLG, § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG, § 88 Abs 1 S 1 SGG, § 88 Abs 1 S 3 SGG, § 193 Abs 1 S 1 SGG, § 193 Abs 1 S 3 SGG

Instanzenzug: SG Darmstadt Az: S 16 AY 102/22 Beschluss

Gründe

11. Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine sozialgerichtliche Kostengrundentscheidung nach unstreitiger Erledigung einer Untätigkeitsklage.

2Mit mehreren Bescheiden bewilligte der Landkreis Darmstadt-Dieburg der Beschwerdeführerin Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Monate Januar 2020 bis Mai 2020. Der Leistungsberechnung legte er unter Verweis auf § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG (Unterbringung in einer Sammelunterkunft) die Bedarfsstufe 2 anstelle der Bedarfsstufe 1 zugrunde.

3Mit Schreiben vom beantragte die Beschwerdeführerin die Überprüfung der Bescheide gemäß § 9 Abs. 4 AsylbLG in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB X und machte unter anderem die Verfassungswidrigkeit von § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG geltend. Ein im August 2022 unterbreitetes Angebot des Landkreises, das Überprüfungsverfahren bis zum Abschluss des beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens 1 BvL 3/21 ruhend zu stellen, das die für Analogleistungen geltende Parallelregelung des (damaligen) § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG zum Gegenstand hatte, lehnte sie ab.

4Am hat die Beschwerdeführerin Untätigkeitsklage erhoben. Am ist der - veröffentlicht worden, der für Analogleistungen die Unvereinbarkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum feststellt. Daraufhin hat der Landkreis erklärt, er werde dem Überprüfungsantrag stattgeben; das Untätigkeitsklageverfahren ist danach unstreitig beendet worden.

5Dem von der Beschwerdeführerin im Anschluss gestellten Kostenantrag ist der Landkreis entgegengetreten. Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom - S 16 AY 102/22 - abgelehnt. Es entspreche der Billigkeit, dem Gesichtspunkt der Veranlassung zur Klageerhebung hier besondere Bedeutung beizumessen. Das Verhalten der Beschwerdeführerin verstoße ausnahmsweise gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Sie habe im hier relevanten Zeitraum sieben Gerichtsverfahren aus dem Bereich des Asylbewerberleistungsgesetzes gegen den Landkreis geführt. Diesen seien Widerspruchsverfahren entweder vorausgegangen, oder sie seien Gegenstand einer Untätigkeitsklage gewesen. Der rechtskundig vertretenen Beschwerdeführerin habe die dadurch ausgelöste Belastung des Landkreises bewusst sein müssen. Hierauf berufe sich der Landkreis zu Recht als zureichenden Grund für das Ausbleiben einer Entscheidung innerhalb der Frist des § 88 Abs. 1 SGG. Auch habe die Beschwerdeführerin es abgelehnt, das Überprüfungsverfahren ruhend zu stellen.

62. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG), des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).

73. Die Hessische Staatskanzlei und der im Ausgangsverfahren beklagte Landkreis haben von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

I.

8Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Offenbleiben kann, ob der Beschluss zudem gegen Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verstößt.

91. Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Inhalt einer Norm in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird. Dabei kommt es darauf an, ob die Entscheidung im Ergebnis nicht vertretbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 524/22 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1021/24 -, Rn. 8). Es ist also nicht zu prüfen, ob die Entscheidung vom Fachgericht zutreffend begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1021/24 -, Rn. 8).

102. Das Sozialgericht hat bei seiner Entscheidung das Willkürverbot verletzt.

11a) Handelt die Behörde nach Erhebung der Untätigkeitsklage, ist das Verfahren für erledigt zu erklären (§ 88 Abs. 1 Satz 3 SGG). Das Gericht entscheidet dann auf Antrag nach § 193 Abs. 1 Sätze 1 und 3 SGG über die Kosten. Diese Vorschriften enthalten keine Vorgaben für den Inhalt der Kostenentscheidung. Das Sozialgericht entscheidet daher nach billigem Ermessen aufgrund allgemeiner Grundsätze. Bei Erledigung des Hauptsacheverfahrens ist grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens auf Grundlage des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblich. Dies beruht auf einer Anwendung der Rechtsgedanken der § 91 Abs. 1 Satz 1, § 91a Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO und § 154 Abs. 1, 2 und 4, § 155 Abs. 1 und 2 VwGO. Eine Kostenerstattung kommt danach grundsätzlich in Betracht, wenn die Behörde nicht innerhalb der gesetzlichen Sperr- beziehungsweise Wartefrist über den Antrag entscheidet und kein zureichender Grund für die Verspätung vorlag (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG), denn die Untätigkeitsklage ist dann zulässig und begründet gewesen. Im hier zu entscheidenden Fall war diese gesetzliche Frist bei Erhebung der Untätigkeitsklage abgelaufen. Die Erwägungen des Sozialgerichts, warum ein zureichender Grund für eine Verzögerung der Entscheidung vorgelegen habe, sind objektiv nicht nachvollziehbar, ebenso wenig wie der Rückgriff auf die kostenrechtliche Figur des Veranlassungsprinzips.

12aa) In nicht mehr vertretbarer Weise hat das Sozialgericht einen zureichenden Grund im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG darin gesehen, dass der Landkreis parallel mit sieben von der Beschwerdeführerin initiierten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren befasst war.

13Nach einhelliger Auffassung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur bildet die zeitgleiche Befassung mit mehreren Verfahren nur dann einen zureichenden Grund, wenn der Leistungsberechtigte die Verwaltung mit einer "Vielzahl" von Verfahren "überzieht" - in der Regel mit der zusätzlichen Einschränkung, dass sich darunter zudem Verfahren von "geringer Bedeutung" oder "mutwillig erhobene" Anträge befinden - (vgl. SO -, juris, Rn. 21; -, juris, Rn. 10, 18; SG Nordhausen, Beschluss vom - S 12 AS 4365/10 -, juris, Rn. 13 f.; SG Neuruppin, Gerichtsbescheid vom - S 26 AS 1623/13 -, juris, Rn. 20 f.; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 88 Rn. 7a; ähnlich Diehm, in: BeckOGK SGG, § 88 Rn. 60 <Feb. 2025>; Hintz, in: BeckOK SozR, § 88 SGG Rn. 6 <März 2025>) oder wenn ein einzelnes Verfahren enormen Verwaltungsaufwand auslöst ( -, juris, Rn. 22 f.).

14Bei sieben Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren, die zudem teilweise unterschiedliche Leistungszeiträume betreffen, kann von einem "Überziehen" mit einer "Vielzahl" von Verfahren nicht die Rede sein. Auch ist nicht erkennbar, dass diese sieben Verfahren besonders hohen Verwaltungsaufwand ausgelöst haben.

15bb) Die Erwägung, die Beschwerdeführerin hätte das Überprüfungsverfahren bis zum Abschluss des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens 1 BvL 3/21 ruhend stellen können, ist ebenfalls nicht vertretbar.

16Die ganz herrschende Auffassung in der sozialrechtlichen Rechtsprechung und Literatur geht generell davon aus, dass ein Leistungsberechtigter dem Ruhen des Verfahrens nicht mit Rücksicht auf ein anhängiges verfassungsgerichtliches Verfahren oder ein anhängiges Musterverfahren zustimmen muss (vgl. Bayerisches -, juris, Rn. 24; -, juris, Rn. 19; Binder, in: Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 88 Rn. 15; Claus, in: jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 88 Rn. 37; Diehm, in: BeckOGK SGG, § 88 Rn. 37 <Feb. 2025>; Müller, in: Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 6. Aufl. 2024, § 43 Rn. 35; vgl. für die Aussetzung eines Gerichtsverfahrens -, juris, Rn. 15). Soweit teilweise eine solche Obliegenheit bejaht wird, wird diese nur angenommen, wenn in naher Zukunft mit einer Klärung der Frage gerechnet werden könne (vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 88 Rn. 7b). Dies war hier nicht der Fall, weil die Beschwerdeführerin schon nicht absehen konnte, wann eine Entscheidung in dem Verfahren 1 BvL 3/21 ergehen würde.

17Im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht besteht ein vergleichbares Meinungsbild für (allein thematisierte) Fälle mit anhängigen Musterverfahren. Entweder wird eine Obliegenheit abgelehnt, den Ausgang des Musterverfahrens abzuwarten (Brenner, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 75 Rn. 56; Porsch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 75 VwGO Rn. 8 <Aug. 2024>; Redeker/Kothe/von Nicolai, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 17. Aufl. 2022, § 75 Rn. 4; Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 75 Rn. 9), oder nur bejaht, wenn mit einem Abschluss dieses Musterverfahrens alsbald zu rechnen ist (vgl. -, juris, Rn. 4; -, juris, Rn. 2; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 75 Rn. 13; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/v. Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 75 Rn. 16).

18Allerdings hat der Bundesfinanzhof eine weiterreichende Obliegenheit bei Anhängigkeit eines Musterverfahrens angenommen, in dem dieselbe Streitfrage entscheidungserheblich war (vgl. -, juris, Rn. 10; Beschluss vom - V R 43/08 -, Rn. 21). Bei dem bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren 1 BvL 3/21 handelte es sich jedoch um kein Musterverfahren in diesem Sinne.Das Verfahren 1 BvL 3/21 betraf allein die für Analogleistungen geltende Parallelregelung des (damaligen) § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG.Die Beschwerdeführerin konnte bis zuletzt nicht vorhersehen, ob sich die Feststellung eines Verfassungsverstoßes dort auch zu ihren Gunsten auswirken würde. Eine Erstreckung der Entscheidungswirkung auf die Grundleistungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG stand im Ermessen des Bundesverfassungsgerichts(§ 78 Satz 2 BVerfGG). Inwieweit die für den Vollzug des Asylbewerberleistungsgesetzes zuständigen Träger - wie hier der Landkreis - bei festgestellter Verfassungswidrigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG auch die Grundleistungen nach der Bedarfsstufe 1 (anstatt nach der Bedarfsstufe 2) gewähren würden, war gleichfalls nicht absehbar. Denn die Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG ist von der Verwaltung als gültig zu beachten, solange das Bundesverfassungsgericht sie nicht aufgehoben hat. Einige Träger wenden deshalb § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG auch gegenwärtig weiterhin uneingeschränkt an (vgl. Frerichs, in: jurisPK-SGB XII, 4. Aufl. 2024, § 3a AsylbLG Rn. 55;s. jetzt auch -, juris). Eine feste Zusage, aus der Entscheidung für Analogleistungen später Konsequenzen auch für Grundleistungen zu ziehen, ist der Anfrage nach der Ruhendstellung des Verfahrens durch den Landkreis nicht zu entnehmen.

19cc) Einen zureichenden Grund konnte das Sozialgericht auch nicht vertretbar darin sehen, dass infolge des Ukrainekriegs eine kurzfristige und unvorhersehbare Arbeitsspitze entstanden sein soll. Der dahingehende Vortrag des Landkreises ist nicht belegt und auch im Übrigen als zureichender Grund fernliegend. Entsprechendes gilt für das Vorbringen des Landkreises, die Einführung der elektronischen Akte habe zu einer Erhöhung des allgemeinen verwaltungsinternen Aufwands geführt.

20b) Auch durch einen Rückgriff auf das kostenrechtliche Veranlasserprinzip lässt sich nicht in vertretbarer Weise begründen, dass die Beschwerdeführerin keine Kostenerstattung verlangen kann. Dass Leistungsberechtigte mit Rücksicht auf ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren gehalten seien, vom Weiterbetreiben eines Verwaltungsverfahrens abzusehen, wird zwar vereinzelt bejaht (vgl. -, juris, Rn. 5). Mangels Vorliegens eines "Musterverfahrens" (vgl. zuvor) durfte die Beschwerdeführerin das Überprüfungsverfahren jedoch weiterverfolgen.

II.

21Der angegriffene Beschluss vom beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Er ist daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Darmstadt zurückzuverweisen. Der Beschluss des Sozialgerichts vom - S 16 AY 66/24 - wird damit gegenstandslos.

22Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

23Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250424.1bvr190224

Fundstelle(n):
JAAAJ-92224