Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 5/16 KLs 14/24
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Aufenthalts im Bundesgebiet entgegen § 11 Abs. 1 AufenthG zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten und zwei Wochen verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
21. Nach den Feststellungen wurde der Angeklagte rechtskräftig mit Verfügung des Regierungspräsidiums D. vom aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Mit gleicher Verfügung wurde gegen ihn gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von drei Jahren festgesetzt. Die Zustellung der Ausweisungsverfügung an den Angeklagten erfolgte in der Justizvollzugsanstalt F., in der er sich bis zum in Untersuchungshaft befand. An diesem Tag wurde der Angeklagte aus der Haft entlassen, nachdem ihn das Amtsgericht wegen Handeltreibens mit und Besitzes von Betäubungsmitteln, jeweils in nicht geringer Menge, sowie wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz (Verstoß gegen die Pass-/Ausweispflicht) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt hatte.
3Nach der Haftentlassung verblieb der Angeklagte in Kenntnis seiner Ausreisepflicht in Deutschland. Er unternahm auch keinerlei Anstrengung, das Land zu verlassen oder sich mit der zuständigen Ausländerbehörde in Verbindung zu setzen. Am wurde er in F. einer Personenkontrolle unterzogen. Er wurde deswegen durch Strafbefehl vom wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b), § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt.
4In der Nacht vom 5. auf den wurde der weiterhin nicht ausgereiste Angeklagte im Bahnhofsviertel von F. neuerlich einer Personenkontrolle unterzogen. Er wurde am darauffolgenden Tag aufgrund des Verdachts einer weiteren Straftat – dieser Vorwurf führte hier zu dem eingangs erwähnten Teilfreispruch – festgenommen. Die vorgenannte Geldstrafe ist zwischenzeitlich im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt.
52. Diese Feststellungen tragen eine Verurteilung nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Var. 1 (i.d.F. vom ), § 11 Abs. 1 (i.d.F. vom ) AufenthG nicht. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend ausgeführt hat, verhalten sich die Urteilsgründe nicht dazu, ob der Angeklagte einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG hat.
6a) Ein Verstoß gegen ein Aufenthaltsverbot liegt nicht vor, wenn der Ausländer einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Erteilung der Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG hat; dies ist von den Strafgerichten selbständig zu prüfen (vgl. , NStZ 2003, 488 f.; , BGHR AuslG § 92 Unerlaubter Aufenthalt 4; BeckOK-MigR/Kretschmer, 20. Ed., AufenthG § 95 Rn. 12; BeckOK-AuslR/Hohoff, 43. Ed., AufenthG § 95 Rn. 18 f.; MüKo-StGB/Gericke, 4. Aufl., AufenthG § 95 Rn. 34). Der Ausländer bleibt allerdings strafbar, wenn die Ursache für die (gesetzwidrige) Untätigkeit der Ausländerbehörde (Nichterteilung der Duldungsentscheidung nach § 60a Abs. 2 AufenthG) allein im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, weil er beispielsweise abgetaucht ist oder jeden Kontakt mit der Ausländerbehörde meidet, da eine – auch hypothetische – Erteilung einer Duldung stets voraussetzt, dass die Ausländerbehörde Kenntnis von dem Aufenthalt des Ausländers hat (vgl. , BGHR AuslG § 92 Unerlaubter Aufenthalt 4; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom – 1 Ss 225/13, StV 2015, 356, 357; BeckOK-AuslR/Hohoff, 43. Ed., AufenthG § 95 Rn. 19; a.A. BeckOK-MigR/Kretschmer, 20. Ed., AufenthG § 95 Rn. 12). Dies gilt bei einem Verbleib im Inland trotz Ausweisung und vollziehbarer Ausreisepflicht sowohl für eine mögliche Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG als auch für eine solche nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Var. 1 AufenthG bei einem zusätzlichen nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG angeordneten Aufenthaltsverbot (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom – 3 Ss 71/09, Rn. 5 ff.; BeckOK-AuslR/Hohoff, 43. Ed., AufenthG § 95 Rn. 18), sofern man bei einem Verbleib im Inland entgegen einem Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Strafbarkeit – jenseits von § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Var. 1 AufenthG überhaupt für möglich hält (gegen die Anwendbarkeit in dieser Fallkonstellation OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom – 1 Ss 278/14, Rn. 15 f.; ebenso BeckOK-AuslR/Hohoff, 43. Ed., AufenthG § 95 Rn. 86; MüKo-StGB/Gericke, 4. Aufl., AufenthG § 95 Rn. 95; GK-AufenthG/Berlit, Stand , § 95 Rn. 269; a.A. BeckOK-StGB/Dastis, 64. Ed., AufenthG § 95 Rn. 129).
7b) Hieran gemessen ist eine Strafbarkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei belegt. Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass sich der Angeklagte bis zum unter anderem wegen eines „Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Verstoß gegen die Pass-/Ausweispflicht i.S.v. § 3 Abs. 1, § 48 Abs. 2 AufenthG)“ in Untersuchungshaft befand. Ferner konnte ihm der Strafbefehl vom wegen unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zugestellt werden. Wieso die Ausländerbehörde ungeachtet des ihr offensichtlich bekannten fortwährenden Aufenthalts des Angeklagten in der Bundesrepublik Deutschland nicht dafür gesorgt hat, dass der Aufenthalt des Angeklagten in der Untersuchungshaft (§ 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) legalisiert oder er jedenfalls aus der Untersuchungshaft nicht in einen ungeregelten Aufenthalt entlassen wurde, bzw. in der Folge entweder für seine Abschiebung Sorge trug oder ihm eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilte und damit den Aufenthalt des Angeklagten entweder beendete oder legalisierte, bleibt in den Urteilsgründen offen.
83. Das Urteil beruht auf dem Erörterungsmangel (§ 337 StPO). Die Sache bedarf daher, soweit der Angeklagte verurteilt ist, neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassende Neubewertung zu ermöglichen. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 3 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das zuständige Amtsgericht Frankfurt am Main – Strafrichter – zurück (vgl. , Rn. 15).
Zeng Meyberg Schmidt
Lutz Zimmermann
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:240425B2STR171.25.0
Fundstelle(n):
SAAAJ-92192