Kindergeld wegen seelischer Behinderung und Auswahl eines geeigneten Sachverständigen
Leitsatz
1. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Finanzgericht die Überzeugung vom Vorliegen einer seelischen Behinderung aufgrund eines retrospektiven Gutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten bildet.
2. Maßgebliches Kriterium für die Auswahl eines geeigneten Sachverständigen ist dessen Sachkunde in Bezug auf die Beweisfrage.
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3; EStG § 63; SGB VIII § 35a; SGB IX § 2 Abs. 1; SGB IX § 17; FGO § 76; FGO § 82; FGO § 96; FGO § 118 Abs. 2; ZPO § 404
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob sich das Finanzgericht (FG) auf der Grundlage des Gutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten die Überzeugung bilden durfte, dass in den Monaten Oktober 2016 bis Oktober 2017 (Streitzeitraum) eine zu einem Kindergeldanspruch führende seelische Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorlag.
2 Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter einer am xx.08.1996 geborenen Tochter (D). Im Juni 2015 schloss D die Schule mit dem Abitur ab und jobbte in einer Bäckerei. Im September 2015 wurde bei D wegen eines Tumors die Schilddrüse entfernt. Im Juli 2016 wurde bei ihr ein Tumor in der Brust diagnostiziert, der sich im August 2016 als gutartig erwies und im April 2017 entfernt wurde; die Untersuchung des entfernten Tumors bestätigte die Gutartigkeit. D erzielte im Streitzeitraum monatliche Einkünfte in Höhe von maximal 450 €.
3 Am beantragte die Klägerin Kindergeld für D. Sie legte eine Schulbescheinigung der H Berufsfachschule (H) für einen voraussichtlichen Schulbesuch von D im Zeitraum von April 2016 bis einschließlich März 2018 vor. Mit Bescheid vom xx.03.2016 setzte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) Kindergeld für D ab März 2016 fest.
4 Mit Bescheid vom xx.02.2018 hob die Familienkasse diese Festsetzung ab April 2018 auf und forderte die Klägerin zur Vorlage von Unterlagen über den Abschluss der Ausbildung auf. Die Klägerin teilte mit, ihre Tochter bemühe sich um einen Ausbildungsplatz und werde im August 2018 an der Berufsfachschule S eine Ausbildung beginnen. Hierfür legte sie eine Bestätigung vom vor, aus der ein Schulbeginn am hervorging. Mit Bescheid vom xx.04.2018 setzte die Familienkasse Kindergeld ab April 2018 fest, da D sich ernsthaft um eine Ausbildung bemühe beziehungsweise diese mangels Ausbildungsplatzes noch nicht beginnen könne.
5 Mit Schreiben vom teilte die Klägerin der Familienkasse mit, D habe die von ihr ursprünglich geplante Ausbildung leider nicht beenden können, da sie wegen einer Krebserkrankung mehrfach habe operiert werden müssen und sich zweimal einer Radiotherapie unterzogen habe. Nachdem zunächst Besserung eingetreten und D zur Schule gegangen sei, sei erneut Krebs bei ihr diagnostiziert worden. Sie, die Klägerin, habe leider vergessen, die Familienkasse darüber zu informieren. Im weiteren Verlauf des Verfahrens übersandte die Klägerin eine „Ärztliche Bescheinigung über das Vorliegen einer Behinderung“ vom xx.05.2018, in der die Hausärztin angab, bei D liege keine Behinderung vor, sowie eine weitere Stellungnahme vom xx.08.2018, in der sie auf dem Formular „Ärztliche Bescheinigung zum möglichen Umfang der Erwerbstätigkeit“ ankreuzte, dass ihr eine Stellungnahme nicht möglich sei. Ferner legte die Klägerin eine Schulbescheinigung der H über den dortigen Schulbesuch von D im Zeitraum bis vor. Mit der von der Familienkasse vorgeschlagenen Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit erklärte sich die Klägerin zunächst nicht einverstanden.
6 Mit Bescheid vom xx.04.2019 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergelds für D unter anderem mangels Behinderungsnachweises für den Zeitraum Oktober 2016 bis Februar 2018 sowie ab April 2018 auf und forderte das Kindergeld bezüglich der Zeiträume von Oktober 2016 bis Februar 2018 sowie von April 2018 bis September 2018 in Höhe von insgesamt 4.426 € zurück.
7 Am xx.05.2019 legte die Klägerin Einspruch ein und übersandte den Feststellungsbescheid des Versorgungsamts Hamburg vom xx.02.2019, der für D einen Grad der Behinderung von 50 ab dem xx.09.2018 feststellte und folgende Gesundheitsstörungen berücksichtigte: Gewebeneubildung der Schilddrüse in Heilungsbewährung („Teil GdB: 50“), „Struma nodosa li“ („in die Gesamt-GdB-Bewertung mit eingeflossen“). Nicht berücksichtigt wurden Migräne (ärztlich „nicht bestätigt beziehungsweise nur als Diagnose aufgeführt“) und „Fibroadenom li.“ (da es keinen Grad der Behinderung von mindestens 10 bedinge).
8 Im Juli 2019 teilte die Klägerin mit, dass D zu einer Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit bereit sei, wenn diese notwendig sei. Sie reichte eine Bescheinigung der Hausärztin vom xx.07.2019 ein, wonach bei D im Sommer 2015 ein bösartiger Tumor der Schilddrüse entdeckt, die Schilddrüse im September 2015 entfernt und im Anschluss eine Radiotherapie durchgeführt worden sei. Während dieser Therapie habe D an einer Depression gelitten, die sich nach der Diagnose eines Brustdrüsentumors verstärkt habe. Wegen der Depression sei D in fachärztlicher Behandlung.
9 Mit Einspruchsentscheidung vom xx.09.2019 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück. Eine Behinderung sei nur für den Zeitraum ab September 2018 nachgewiesen, nicht aber für die Zeit von Oktober 2016 bis Februar 2018 und von April 2018 bis August 2018. Insoweit sei auch die Ursächlichkeit einer (möglichen) Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht nachgewiesen; sonstige Berücksichtigungstatbestände lägen nicht vor.
10 Mit ihrer fristgemäß erhobenen Klage machte die Klägerin geltend, D sei wegen einer Depression unfähig gewesen, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Das FG holte eine schriftliche Stellungnahme der Hausärztin ein. Nach Mitteilung der Klägerin, dass D sich wegen der Depression nicht in fachärztliche Behandlung begeben habe, holte das FG ein Sachverständigengutachten zum Vorliegen einer Behinderung und zur möglichen Ursächlichkeit einer solchen für die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ein (vgl. den Beweisbeschluss des ). Dieses Gutachten („Psychologisch-psychotherapeutisches Sachverständigengutachten“) erstellte der Diplom-Psychologe A (Sachverständiger), der zugleich psychologischer Psychotherapeut ist. Bezüglich der Einzelheiten des Gutachtens vom xx.07.2022 wird auf die FG-Akte verwiesen.
11 In der mündlichen Verhandlung befragte das FG den Sachverständigen. Nach Abtrennung des Verfahrens hinsichtlich des Kindergelds für die Monate April 2018 bis September 2019 gab das FG der Klage bezüglich des von der Revision erfassten 13-monatigen Streitzeitraums statt und wies sie im Übrigen ab (Kostenquote Klägerin 24 %, Familienkasse 76 %). Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 1007 veröffentlicht.
12 Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht in Gestalt einer unzutreffenden Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, auf der das FG-Urteil beruhe. Für die Feststellung einer Behinderung (auch einer seelischen Behinderung) sei eine Begutachtung durch einen Arzt notwendig. Die Begutachtung durch einen psychologischen Psychotherapeuten reiche als Nachweis allein nicht aus.
13 Die Familienkasse beantragt,
das aufzuheben und die Klage auch abzuweisen, soweit das FG den Kindergeldaufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom xx.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom xx.09.2019 in Bezug auf die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und -rückforderung für Oktober 2016 bis Oktober 2017 aufgehoben hat,
hilfsweise das Urteil in Bezug auf den klagestattgebenden Teil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.
14 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Gründe
II.
15 Die Revision ist unbegründet. Das FG durfte auf der Grundlage des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens davon ausgehen, dass bei D im Streitzeitraum eine seelische Behinderung vorlag, wegen der sie zum Selbstunterhalt außerstande war. Das Urteil ist weder in rechtsgrundsätzlicher Hinsicht (Möglichkeit der Überzeugungsbildung aufgrund eines psychologisch-psychotherapeutischen Gutachtens) rechtsfehlerhaft noch ist es im Hinblick auf die konkrete Beweiswürdigung revisionsrechtlich zu beanstanden.
16 1. Die für die Entscheidung relevanten Rechtsgrundsätze zum Begriff der seelischen Behinderung sowie zur behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sind bereits geklärt. Von ihnen ist das FG in zutreffender Weise ausgegangen (zu den Anforderungen an den Nachweis einer Behinderung s. unten 2.).
17 a) Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 vom (BGBl I 2006, 1652), inzwischen § 52 Abs. 32 Satz 1 EStG, weiterhin die vorherige Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) maßgeblich geblieben ist.
18 b) Für die Frage, welche Anforderungen an das Vorliegen einer Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu stellen sind, ist die Legaldefinition in § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) in ihrer im jeweiligen Streitzeitraum geltenden Fassung maßgeblich. Danach ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (z.B. , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 2017, 412, Rz 16 und vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 19, m.w.N.; vgl. dazu auch die Anmerkungen von Avvento in HFR 2017, 414; Selder in juris PraxisReport Steuerrecht 36/2020 Anm. 5 und Wendl in HFR 2020, 816). Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX i.d.F. bis zum ist dreigliedrig und besteht erstens aus einer für das Lebensalter untypischen gesundheitlichen Situation, zweitens ihrer mit hoher Wahrscheinlichkeit längeren Dauer von mehr als sechs Monaten und drittens einer dadurch verursachten Teilhabebeeinträchtigung; im Hinblick auf detailliertere Erläuterungen hierzu wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Senatsurteil vom - III R 44/17 (BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 18 ff.) verwiesen (zur Neufassung des § 2 Abs. 1 SGB IX mit Wirkung vom vgl. BTDrucks 18/9522 und Schaumberg/Seidel, Die Sozialgerichtsbarkeit 2017, 572 und 618).
19 Der Behinderungsbegriff lässt sich nicht auf eine rein medizinische Frage reduzieren (Senatsurteil vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 21). So bezieht sich zum Beispiel der Begriff der seelischen Gesundheit nicht nur auf Krankheiten, sondern auch auf psychisch-funktionale Fähigkeiten wie Persönlichkeit (Selbstsicherheit und -vertrauen), psychische Energie, Antrieb, Psychomotorik, Belastbarkeit und Emotionen (Senatsurteil vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 23, m.w.N.).
20 c) Seelisch behindert ist, wer infolge einer seelischen Störung eine in diesem Sinne länger andauernde Funktions- und Teilhabebeeinträchtigung aufweist. In Betracht kommen körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge einer Krankheit oder Verletzung des Gehirns, Anfallsleiden oder körperliche Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (, BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 21; vgl. auch Senatsurteil vom - III R 44/14, HFR 2017, 412, Rz 17 ff.). Eine drohende, aber noch nicht eingetretene seelische Behinderung erfüllt (noch) nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (vgl. Senatsurteil vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 28).
21 Für die Frage, ob die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft infolge einer seelischen Störung beeinträchtigt ist, kommt es auf deren Ausmaß und Grad an. Entscheidend ist, ob die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv ist, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt. Die Prüfung einer Teilhabebeeinträchtigung hat aufgrund einer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds zu erfolgen, ihre Feststellung bedarf einer auf entsprechende tatsächliche Feststellungen gestützten Begründung. Neben medizinischem ist gegebenenfalls auch der Sachverstand anderer Wissensgebiete heranzuziehen, insbesondere sozialpädagogischer und psychologischer Art. Sofern eine fachärztliche beziehungsweise therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen einer seelischen Gesundheitsstörung Aussagen zur Frage der Teilhabebeeinträchtigung enthält, sind diese bei der Beurteilung angemessen zu berücksichtigen (vgl. , HFR 2017, 412, Rz 20 und vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 27; , BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 24).
22 d) § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG setzt voraus, dass das Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Behinderung muss nach den Gesamtumständen des Einzelfalls für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein (Senatsurteil vom - III R 42/22, BStBl II 2025, 16, Rz 20, m.w.N.). Das in § 32 EStG ebenso wie der Begriff der Behinderung gesetzlich nicht näher umschriebene Außerstandesein zum Selbstunterhalt ist gegeben, wenn das behinderte Kind seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten, ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits. Diese Prüfung hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen (, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 15 und vom - III R 2/23, BStBl II 2024, 908, Rz 18 f., m.w.N.).
23 2. Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist es nicht ausgeschlossen, dass sich das FG als das für die tatrichterliche Würdigung zuständige Gericht die Überzeugung vom Vorliegen einer seelischen Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG auf der Grundlage eines retrospektiven Sachverständigengutachtens eines psychologischen Psychotherapeuten bildet, ohne hierzu eine ergänzende ärztliche Stellungnahme einzuholen.
24 a) Ob eine Behinderung gegeben ist, hat das FG aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen (vgl. , BFHE 251, 147, BStBl II 2016, 40, Rz 25). Es hat sich eine eigene Überzeugung darüber zu bilden, ob bei einem Kind eine Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorlag und ob es aufgrund dieser Behinderung im streitigen Zeitraum außerstande war, sich selbst zu unterhalten (vgl. Senatsbeschluss vom - III B 179/16, BFH/NV 2018, 350, Rz 9). Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (vgl. zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung und zum sogenannten formalisierten Nachweisverlangen , BFHE 279, 159, BStBl II 2023, 807). Die für die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) gegebenenfalls notwendige Zuziehung eines Sachverständigen und ebenso dessen Auswahl stehen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (§ 82 FGO i.V.m. §§ 404, 412 der Zivilprozessordnung; vgl. , BFH/NV 2019, 39, Rz 4). Maßgebliches Kriterium für die Sachverständigenauswahl ist die Sachkunde des Sachverständigen in Bezug auf die Beweisfrage (Krumm in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz 61 mit Verweis auf , Neue Juristische Wochenschrift 2009, 1209, Rz 18; vgl. , BFH/NV 2023, 866, Rz 34). Soweit sich eine Behinderung nicht feststellen lässt, geht der fehlende Nachweis nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten des Kindergeldberechtigten (vgl. , BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.c und vom - III R 44/14, HFR 2017, 412, Rz 27).
25 b) Die Art und Weise, wie eine Behinderung festzustellen ist, wird in § 32 EStG —anders als in § 35a des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe) bei den Voraussetzungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung— nicht gesetzlich geregelt. Der Nachweis der Behinderung kann im Kindergeldrecht durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises, durch einen Feststellungsbescheid gemäß § 152 SGB IX (§ 69 SGB IX a.F.) oder durch einen Rentenbescheid erbracht werden, aber auch in anderer Form wie durch Vorlage einer Bescheinigung beziehungsweise eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens (Senatsurteil vom - III R 47/08, BFH/NV 2012, 939, Rz 16; , BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738 und vom - XI R 17/14, BFH/NV 2016, 190, Rz 27; ebenso A 19.2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz —DA-KG— Stand 2017, BStBl I 2017, 1007, vgl. auch A 19.2 DA-KG Stand 2024, BStBl I 2024, 736). Im Regelfall soll das FG zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht ein ärztliches Gutachten einholen oder entsprechende Erkenntnisse durch Einvernahme der behandelnden Ärzte als Zeugen gewinnen (Senatsurteil vom - III R 47/08, BFH/NV 2012, 939, Rz 16). Primär entscheidend für die Auswahl des vom FG hinzuziehenden Sachverständigen ist dessen Fachkompetenz für die sich im konkreten Fall stellende Beweisfrage.
26 c) Infolgedessen schließt der Grundsatz, dass der Nachweis einer Behinderung im Regelfall eine ärztliche Begutachtung voraussetzt, nicht aus, dass dieser Nachweis in bestimmten Fällen auch ohne eine solche erbracht werden kann (vgl. (Kg), juris-Rz 12). Eine solche, sachlich gerechtfertigte Ausnahme besteht bei der —im Streitfall erfolgten— Feststellung einer seelischen Behinderung. In einem solchen Fall kann das Gutachten eines psychologischen Psychotherapeuten mit besonderen Erfahrungen auf dem zu begutachtenden Gebiet als einem ärztlichen Gutachten gleichwertig anerkannt werden.
27 Dies belegt auch die gesetzliche Regelung des § 35a SGB VIII. Den Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dieser Vorschrift haben Kinder und Jugendliche, wenn erstens ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und zweitens aus diesem Grund ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII; zu dem bei dieser Norm genügenden Drohen einer seelischen Behinderung s.a. § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
28 Im Gegensatz zu § 17 SGB IX, in dessen Abs. 1 Satz 1 der Auftrag an „einen geeigneten Sachverständigen“ ohne nähere Konkretisierung geregelt ist, wird in § 35a Abs. 1a SGB VIII im Einzelnen aufgelistet, bei welchen sachkundigen Personen der Jugendhilfeträger die Stellungnahme hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand einzuholen hat (vgl. von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, juris PraxisKommentar SGB VIII, § 35a Rz 31 ff.). Im Gesetz genannt werden hier Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (§ 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 SGB VIII), Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (so die im Streitzeitraum anwendbare Nr. 2 a.F.; inzwischen nennt die Nr. 2 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen) sowie Ärzte oder psychologische Psychotherapeuten, die über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügen (Nr. 3). Die gutachterliche Stellungnahme der in § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB VIII genannten Personen ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) zu erstellen; darzulegen ist dabei auch, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht (§ 35a Abs. 1a Satz 2 und 3 SGB VIII).
29 § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII beruht auf der Wertung des Gesetzgebers, dass nicht nur Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Nr. 1), sondern ebenso auch Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (Nr. 2 a.F.) sowie Ärzte und psychologische Psychotherapeuten mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Nr. 3) die notwendige Expertise haben, um Stellungnahmen zum Vorliegen seelischer Störungen und Behinderungen abgeben zu können. In den Sätzen 2 und 3 des § 35 Abs. 1a SGB VIII kommt außerdem die Annahme des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass auch die in Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 genannten nichtärztlichen Fachpersonen befähigt sind, seelische Gesundheitsstörungen auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten zu beschreiben und zu bewerten (vgl. zur Heranziehung der ICD-10 bei der Feststellung einer Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX Senatsurteil vom - III R 44/17, BFHE 267, 337, BStBl II 2020, 558, Rz 25; zu Begriff und Tätigkeit eines Arztes vgl. Hahn, Medizinrecht 2024, 1).
30 d) Aus der gesetzlichen Gleichstellung in § 35a SGB VIII ist auch im Hinblick auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX abzuleiten, dass mit Blick auf die maßgebliche Fachkompetenz keine Veranlassung besteht, den Kreis der für die Begutachtung von seelischen Störungen und Behinderungen geeigneten Sachverständigen auf Ärzte zu beschränken. Im Anwendungsbereich des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellen sich insoweit in Bezug auf schon während der Minderjährigkeit des Kindes eingetretene seelische Störungen und Behinderungen identische, im Übrigen vergleichbare Fragen. Ein Grund, die grundsätzliche Eignung einschlägig sachkundiger Personen anders als in § 35a SGB VIII zu beurteilen, besteht somit nicht. Das Gutachten eines psychologischen Psychotherapeuten kann daher als Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung geeignet sein, dass eine seelische Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorliegt (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Gemeinsame Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. nach § 26 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX für die Durchführung von Begutachtungen möglichst nach einheitlichen Grundsätzen, 2023, sowie die im November 2023 veröffentlichte Richtlinie des Medizinischen Dienstes Bund nach § 283 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V, Begutachtungsanleitung Vorsorge und Rehabilitation).
31 3. Nach diesen Maßstäben durfte das FG auf der Grundlage des nicht von einem Arzt erstellten Sachverständigengutachtens eine bei D vorliegende seelische Behinderung bejahen, die im Streitzeitraum dazu führte, dass sie außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Die tatrichterliche Würdigung des Gutachtens und der Aussage des als Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut in hinreichender Weise qualifizierten Sachverständigen hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
32 a) Das FG hat entschieden, dass die damals 20 beziehungsweise 21 Jahre alte D im Streitzeitraum gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG seelisch behindert und behinderungsbedingt außerstande zum Selbstunterhalt war. Es stützt diese Überzeugung vor allem auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen.
33 Dieser hat in seinem psychologisch-psychotherapeutischen Gutachten vom xx.07.2022 festgestellt, dass es sich bei D um eine zum Untersuchungszeitpunkt 25-jährige Probandin handele, die „aktuell mit Ausnahme von niederfrequent erlebten Panikanfällen nicht unter einer psychischen Erkrankung“ leide. Im Zuge der gutachterlichen Untersuchung hätten sich aber deutliche Hinweise darauf ergeben, dass in der Vergangenheit eine depressive Störung mittelgradigen Ausmaßes bestanden habe, die sich aus einer Anpassungsstörung in Bezug auf eine ärztlich übermittelte Diagnose eines gutartigen Tumors in der Brust herausgebildet habe. Zu seinem methodischen Vorgehen weist der Sachverständige vorab darauf hin, dass ihm zwar keine psychiatrischen oder psychotherapeutischen Befundberichte vorgelegen hätten und infolgedessen nur ein retrospektiver Rückschluss („anhand des aktuellen psychopathologischen Befundes sowie der Anamnese und Selbstauskünfte der Probandin“) möglich sei. Er erläutert aber, weshalb die Überprüfung der Leistungsfähigkeit in der Vergangenheit nach seiner Auffassung dennoch „ohne manifeste Zweifel an der Qualität der Informationen durchgeführt“ werden konnte.
34 Der Sachverständige gelangt in seinem Gutachten zum Ergebnis, dass D zwischen Juli 2016 und Oktober 2017 unter einer psychischen Störung gelitten habe, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abgewichen sei und die Kriterien einer mittelgradigen depressiven Episode nach ICD-10 erfüllt habe (vgl. die Angabe „ICD F32.1Z“ bei der Hauptdiagnose). Diese habe sich aus einer nicht psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelten Anpassungsstörung herausgebildet (irrationale und phobische Verarbeitung der im Raum stehenden Möglichkeit einer Brustoperation nach bereits früherer Krebserkrankung). Die Art der psychischen Erkrankung könne als Neurose bezeichnet werden. Ab November 2017 könne das Vorliegen einer psychischen Erkrankung nicht nachgewiesen werden.
35 b) Das FG hat festgestellt, dass der Gutachter, der ihm ausweislich eines Aktenvermerks von der Ärztekammer empfohlen worden war, nach seinen theoretischen Kenntnissen und praktischen Berufserfahrungen in Kliniken die für die Beurteilung erforderlichen Kenntnisse aufweise (Urteil S. 14 ff. mit Ausführungen zu dem im Jahr 2019 reformierten Psychotherapeutengesetz —PsychThG— und zur Qualifikation eines psychologischen Psychotherapeuten; vgl. § 26 PsychThG zum Weiterführen der alten Berufsbezeichnungen sowie zur gutachterlichen Tätigkeit Aßhauer, Der medizinische Sachverständige 2024, 211). Die Tätigkeit des Sachverständigen als Leitender Psychologe entspreche derjenigen eines Psychiatrieoberarztes (Aufgabe: Fach- und Dienstaufsicht über die Stationsärzte und -psychologen, keine Fachaufsicht nur bezüglich der den Ärzten vorbehaltenen Medikationen und Unterbringungen).
36 c) Das FG hat das Gutachten des Sachverständigen gewürdigt und sich dessen Ausführungen angeschlossen (s. dazu in den Entscheidungsgründen unter II.1.a aa (2) zum Vorliegen einer Behinderung im Zeitraum Oktober 2016 bis Oktober 2017 sowie unter II.1.a bb (2) zur erheblichen Mitursächlichkeit für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt). Auf der Grundlage des Gutachtens und der Aussage des Sachverständigen hat sich das FG die Überzeugung gebildet, dass D im gesamten Streitzeitraum (aber nicht darüber hinaus) nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen sei.
37 Der gesundheitliche Zustand von D sei von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand aufgrund einer psychischen Störung (Neurose, mittelgradige depressive Episode) abgewichen, die sich aus einer unbehandelt gebliebenen psychischen Anpassungsstörung entwickelt habe (Ursache: Diagnose des Brustdrüsentumors nach vorheriger Entfernung der Schilddrüse, Erwartung, dass auch die Brust entfernt werden müsse, irrationale und phobische Informationsverarbeitung). Die Erkrankung sei bis Oktober 2017 erhalten geblieben. D sei seelisch behindert gewesen, da sie infolge der seelischen Störung und deren Breite, Tiefe und Dauer in ihrer Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft unter Berücksichtigung des sozialen Umfelds beeinträchtigt gewesen sei (Bezugnahme auf einzelne Aspekte des Gutachtens). Die prognostisch zu erwartende Dauer der Funktionsbeeinträchtigung habe mehr als sechs Monate betragen.
38 d) Das FG durfte die Überzeugung vom Vorliegen einer seelischen Behinderung im Streitzeitraum auf das Gutachten und die Aussage des Sachverständigen stützen. Auch die tatrichterliche Beweiswürdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden und für den erkennenden Senat deshalb bindend.
39 aa) Die Frage, ob eine Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorlag, hat das FG ebenso wie die Frage der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt als Tatsacheninstanz aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Die Sachverhaltsfeststellungen und insbesondere auch die Beweiswürdigung des FG binden den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO, wenn sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind und nicht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen. Die Bindung an die rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung des FG besteht auch dann, wenn eine andere Beweiswürdigung gleichermaßen möglich oder gar naheliegend ist (vgl. , BFHE 220, 332, BStBl II 2009, 842, unter II.3.b bb (3) und vom - XI R 44/11, BFH/NV 2013, 1409, Rz 15; , BFH/NV 2015, 1237, Rz 16 und vom - III R 44/14, HFR 2017, 412, Rz 22).
40 bb) Nach diesen Grundsätzen ist die Beweiswürdigung des FG im vorliegenden Fall für den erkennenden Senat bindend. Das FG durfte sich auf das sorgfältig erstellte Sachverständigengutachten stützen und hat dies mit einer sehr gut nachvollziehbaren Begründung getan. Der Sachverständige, der nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen des FG sowohl über die auf dem zu begutachtenden Gebiet erforderliche Fachkunde als auch über die nötige Berufserfahrung verfügt, vermittelte dem Gericht das für die Entscheidung notwendige Fachwissen. Aus dem Gutachten und der ergänzenden Aussage in der mündlichen Verhandlung konnte das FG im Rahmen seiner Gesamtwürdigung ohne einen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze die Überzeugung ableiten, dass eine seelische Behinderung der D vorlag, die im Streitzeitraum für ihre Unfähigkeit zum Selbstunterhalt in erheblicher Weise mitursächlich war. Während das FG in tatsächlicher Hinsicht von der Fachkompetenz des Sachverständigen profitierte, hat es die sich stellenden Rechtsfragen in der gebotenen Weise selbst beantwortet (vgl. Senatsurteil vom - III R 44/14, HFR 2017, 412, Rz 21).
41 cc) Soweit die Familienkasse einwendet, dass das FG weder die Dauer der Erkrankung noch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der D nachvollziehbar begründet habe und dass der Verweis auf das Gutachten insofern nicht genüge, als der Sachverständige hinsichtlich der Dauer ohne Bezug zum konkreten Fall nur auf den allgemein zu erwartenden Verlauf verwiesen und auch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit nur vage Aussagen getroffen habe, greifen diese Einwände nicht durch.
42 Der Sachverständige hat in seinem Gutachten unter 7. (Zusammenfassung und Beurteilung der Leistungsfähigkeit) die Leidensgeschichte der D in den Blick genommen. Er hat dabei auf das Ende ihres sozialen und beruflichen Rückzugs ungefähr im Herbst 2017 verwiesen (Wiederaufnahme eines bereits zuvor ausgeübten Nebenjobs in einer Bäckerei), bevor er sich zum Zeitraum äußerte, in dem die depressive Episode vorlag (Operation im April 2017, „ein halbes Jahr nach der Operation…Arbeitsversuch in Form eines Aushilfsjobs“).
43 Bei der Begründung der Kausalität der Behinderung für die fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt (behinderungsbedingt eingeschränkte Fähigkeit zur Teilnahme am Arbeitsmarkt) hat das FG im Rahmen der Gesamtwürdigung die konkreten vom Sachverständigen im Gutachten beschriebenen und in der mündlichen Verhandlung erläuterten Auswirkungen der Behinderung angeführt und die geminderte Leistungsfähigkeit den Anforderungen des Arbeitsmarktes gegenübergestellt. Hiervon ausgehend hat das FG klar und verständlich seine Überzeugung dargelegt, dass D schon die Befassung mit der Frage, ob und welche Beschäftigung oder Ausbildung sie aufnehmen könnte, und erst recht eine Übernahme von Arbeitstätigkeiten von mehr als 15 Stunden pro Woche im Streitzeitraum nicht möglich gewesen sei. Weshalb die Familienkasse hier zusätzliche medizinische Diagnosen vermisst, erschließt sich nicht, zumal sie weder die Qualifikation des Sachverständigen noch die dessen Gutachten zugrundeliegende Methodik beanstandet.
44 dd) Entgegen der Auffassung der Familienkasse musste das FG in Anbetracht des fundierten psychologisch-psychotherapeutischen Gutachtens und der Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung keine zusätzliche Stellungnahme eines Arztes einholen. Insbesondere war es nicht gehalten, die zuvor bereits schriftlich befragte Hausärztin um eine weitere Stellungnahme zu ersuchen oder sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu vernehmen. Vielmehr war aus den für das FG wenig aufschlussreichen schriftlichen Auskünften ersichtlich, dass die Hausärztin weder aus eigener Anschauung und Expertise noch anhand ihrer Dokumentation weiterführende Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen zu machen vermochte.
45 e) Unabhängig davon, ob die Familienkasse einen Verfahrensfehler des FG in Gestalt eines Verstoßes gegen das Gesamtergebnis des Verfahrens oder einer Sachaufklärungspflichtverletzung rügen wollte oder sinngemäß gerügt hat, ist ein solcher Verfahrensfehler aus den dargelegten Gründen jedenfalls nicht gegeben. Insbesondere musste das FG nicht der Anregung der Familienkasse nachkommen, eine zusätzliche medizinische Begutachtung durchzuführen, sondern durfte seine Überzeugung von der im Streitzeitraum gegebenen seelischen Behinderung auf das in der mündlichen Verhandlung erläuterte psychologisch-psychotherapeutische Gutachten des Sachverständigen stützen.
46 f) Das FG hat im Urteil zwar keine ausdrückliche Würdigung zu den Einkünften und Bezügen sowie zum Bedarf der D im Streitzeitraum vorgenommen. Nach den getroffenen Feststellungen ist jedoch unzweifelhaft, dass D außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Dies steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Ein Grund für die Aufhebung und Zurückverweisung an das FG ist im Hinblick darauf nicht gegeben.
47 4. Die im Urteil des FG getroffene Kostenentscheidung ist schließlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Die diesbezügliche Rüge der Familienkasse ist zwar zulässig, insbesondere steht ihr § 145 FGO nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom - III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, Rz 34 f.; , BFHE 250, 172, BStBl II 2016, 353, Rz 19). Im Rahmen der den Streitzeitraum betreffenden Klagestattgabe bestand nach den Feststellungen des FG aber keine Rechtfertigung dafür, die Verfahrenskosten gemäß § 137 Satz 1 oder 2 FGO ganz oder teilweise der Klägerin auch insoweit aufzuerlegen, als sie nach dem FG-Urteil obsiegte.
48 Die Klägerin hatte der Familienkasse noch vor der Einspruchsentscheidung vom xx.09.2019 mit Schreiben vom mitgeteilt, dass D zur Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit bereit sei, falls diese notwendig sei. Gleichzeitig hatte sie das Attest der Hausärztin vom xx.07.2019 vorgelegt, wonach D während der Radiotherapie nach der Entfernung der Schilddrüse an einer Depression gelitten habe, die sich nach der Diagnose eines Brustdrüsentumors verstärkt habe. Im Anschluss daran erließ die Familienkasse ohne weitere Ermittlungen die Einspruchsentscheidung. Vor diesem Hintergrund ist der Klägerin weder ein verspätetes Vorbringen (§ 137 Satz 1 FGO) noch ein Verschulden an der Kostenentstehung (§ 137 Satz 2 FGO) anzulasten.
49 5. Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:U.160125.IIIR9.23.0- 4 -
Fundstelle(n):
XAAAJ-87135