BAG Urteil v. - 2 AZR 134/23

Fahrberechtigung für Triebfahrzeuge - Entziehung der Zusatzbescheinigungen

Instanzenzug: ArbG Mönchengladbach Az: 5 Ca 1138/21 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 13 Sa 13/22 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung sowie vom Kläger geltend gemachte Ansprüche auf Herausgabe von Zusatzbescheinigungen nach der Triebfahrzeugführerscheinverordnung in der bis zum geltenden Fassung (im Folgenden: TfV aF), Zahlung von Annahmeverzugsvergütung und Erstattung von Schulungskosten.

2Der Kläger arbeitet seit Dezember 2017 als Triebfahrzeugführer bei dem beklagten Eisenbahnverkehrsunternehmen, das regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer in seinem Betrieb beschäftigt. Der Kläger hat eine Fahrberechtigung für Triebfahrzeuge nach § 3 TfV aF. Diese setzt sich zusammen aus einem Triebfahrzeugführerschein gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TfV aF, den das Eisenbahn-Bundesamt ausstellt, und Zusatzbescheinigungen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 2 TfV aF der Klassen A (Rangierfahrten) und B1 (Personenverkehr), die von der Beklagten erteilt wurden.

3Im Januar 2019 überfuhr der Kläger bei der Einfahrt in einen Bahnhof ein auf „Halt“ stehendes Signal. Er erhielt daraufhin eine Ermahnung vom Betriebsleiter, der ihn zudem im Februar 2019 bei einer Zugfahrt begleitete und auf die strikte Einhaltung aller sicherheitsrelevanten Vorschriften hinwies.

4Am bestätigte der Kläger bei der Ausfahrt aus einem Bahnhof durch Bedienen der „Wachsamkeitstaste“, das Vorsignal gesehen zu haben, welches sich ca. 1.350 Meter vor dem Hauptsignal befindet und zu diesem Zeitpunkt entweder „Halt erwarten“ oder „Langsamfahrt erwarten“ anzeigte.

5Nach Verlassen des Bahnhofs beschleunigte der Kläger den Zug auf 58 km/h und leitete ca. 14 Sekunden später eine Schnellbremsung bis zum Stand ein, wobei trotz Überfahrens des Hauptsignals keine Zwangsbremsung ausgelöst wurde. Diese wird aktiviert, wenn ein auf Höhe des Hauptsignals verbauter Magnet bei einem „Halt“ zeigenden Signal mit dem Magnet an der Lokomotive des Zugs Kontakt aufnimmt. An der vom Kläger geführten Lokomotive befand sich der Magnet ca. 4,00 bis 4,80 Meter hinter der Zugspitze. Der Kläger kontaktierte per Funk den Fahrdienstleiter, der ihm eine Weiterfahrt auf Sicht erlaubte.

6In seiner schriftlichen Stellungnahme vom gab der Kläger an, das „Halt“ zeigende Hauptsignal aufgrund einer Unachtsamkeit zu spät gesehen zu haben, weshalb er eine Schnellbremsung eingeleitet, es aber nicht mehr geschafft habe, rechtzeitig vor dem Signal anzuhalten. Deswegen habe er den Vorfall gemeldet. Er sei ca. 8,00 bis 10,00 Meter hinter dem Signal zum Stehen gekommen. Da keine Zwangsbremsung ausgelöst worden sei, müsse das Signal entweder noch rechtzeitig umgesprungen sein oder er habe den Magnet noch nicht überfahren. In einer E-Mail des für „Ereignisuntersuchungen“ zuständigen Eisenbahnbetriebsleiters der D ist aufgeführt, dass das „Halt“ zeigende Hauptsignal um etwa eine halbe Zuglänge überfahren worden sei.

7Aufgrund des Vorfalls sperrte der Betriebsleiter der Beklagten den Kläger am für den Betrieb und forderte ihn spätestens am auf, die von der Beklagten erteilten Zusatzbescheinigungen nach der TfV aF herauszugeben.

8Am nahm der Kläger auf Anweisung der Beklagten an einer Simulatorüberprüfung teil. Diese fand bei einem zum selben Konzern wie die Beklagte gehörenden Unternehmen statt. Der Kläger beschleunigte einen virtuellen Zug hierbei auf ca. 40 km/h, obwohl ihm zuvor durch ein „Vorsichtsignal“ angezeigt worden war, dass auf den nachfolgenden 400 Metern auf Sicht und langsam gefahren werden müsse. Zudem setzte er nach einer simulierten Zwangsbremsung die Weiterfahrt fort, ohne sich vorher den betreffenden Befehl der Fahrdienstleitung diktieren zu lassen. Bei einer weiteren Simulatorfahrt am überschritt der Kläger die durch ein „Langsamfahrtsignal“ vorgegebene Höchstgeschwindigkeit mit 56 km/h statt der erlaubten 40 km/h um 40 % und überfuhr zudem ein „Haltsignal“.

9Am kam der Kläger dem Herausgabeverlangen der Beklagten betreffend die Zusatzbescheinigungen nach.

10Die Beklagte informierte das Eisenbahn-Bundesamt gegen Ende April 2021 über den Vorfall vom sowie über die vom Kläger nicht bestandenen Simulatorüberprüfungen am 19. und . Mit Schreiben vom hörte das Eisenbahn-Bundesamt den Kläger hierzu an und äußerte Zweifel an seiner Eignung, ein Triebfahrzeug führen zu können. Es räumte ihm die Möglichkeit ein, bis zum an einer Schulung durch eine vom Eisenbahn-Bundesamt anerkannte Schulungseinrichtung teilzunehmen, die mit einem Leistungsnachweis und einer Simulatorüberprüfung abgeschlossen werden muss. Es sei beabsichtigt, seinen Triebfahrzeugführerschein auszusetzen, soweit er nicht bis die Zweifel an seiner Eignung ausgeräumt habe.

11Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich zum und zahlte ab Mai 2021 dem Kläger keine Vergütung mehr. Seit dem erhält er Arbeitslosengeld.

12Ende Mai 2021 besuchte der Kläger eine zweitägige Nachschulung bei einem vom Eisenbahn-Bundesamt anerkannten Schulungsunternehmen und absolvierte dort erfolgreich ein Simulatortraining. Das Schulungsunternehmen stellte dem Kläger dafür 2.903,60 Euro in Rechnung, zu deren Zahlung er die Beklagte mit Schreiben vom erfolglos aufforderte.

13Mit Schreiben vom bestätigte das Eisenbahn-Bundesamt dem Kläger, dass der Nachschulungsnachweis ausreichend sei, um die Zweifel an seiner Eignung als Triebfahrzeugführer auszuräumen. Es sah von der Aussetzung des Triebfahrzeugführerscheins des Klägers ab.

14Mit seiner rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigung der Beklagten gewandt. Der Vorfall vom sowie die Simulatorüberprüfungen vom 19. und rechtfertigten diese nicht. Am habe das Vorsignal nur auf „Langsamfahrt erwarten“ gestanden. Die Schnellbremsung habe er eingeleitet, weil er gemeint habe, das Hauptsignal stehe auf „Halt“. Er sei sich jedoch nicht sicher, ob das zutreffe, oder er dies wegen der tief stehenden Sonne nur angenommen habe. Ferner bestreite er die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch der Kündigung. Für eine dauerhafte Entziehung der Zusatzbescheinigungen gebe es keine Grundlage. Die Beklagte müsse sie wieder herausgeben. Ihm stünden für den Zeitraum Mai 2021 bis Januar 2022 Vergütungsansprüche gegen die Beklagte wegen Annahmeverzugs zu. Ab Juni 2021 könne er jedenfalls Schadensersatz verlangen. Die Beklagte müsse ferner seine Schulungskosten tragen.

15Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - sinngemäß beantragt

16Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

17Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten betreffend den Kündigungsschutzantrag zurückgewiesen und auf die Berufung des Klägers dem Weiterbeschäftigungsantrag entsprochen. Weiterhin hat es die Beklagte zur Zahlung von Annahmeverzugsvergütung und zur Herausgabe der Zusatzbescheinigungen verurteilt. Hinsichtlich der Schulungskosten hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision insoweit nicht zugelassen. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die vollständige Abweisung der Klage. Der Kläger macht im Wege einer Anschlussrevision weiterhin einen Anspruch auf Zahlung der Schulungskosten gegen die Beklagte geltend.

Gründe

18Die zulässige Revision der Beklagten ist nur bezüglich des Herausgabeanspruchs und des Annahmeverzugsanspruchs begründet. Insoweit war das Berufungsurteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO), da es eine Rechtsnorm verletzt (§ 73 Abs. 1 Satz 1 ArbGG). Hinsichtlich der Annahmeverzugsvergütung für den Monat Mai 2021 kann der Senat selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO) und unter Zurückweisung der Berufung des Klägers die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts wiederherstellen. Im Übrigen war die Sache im Umfang der Aufhebung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Hinsichtlich des Kündigungsschutzantrags ist die Revision der Beklagten unbegründet. Dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers kommt daher keine Bedeutung mehr zu. Die Anschlussrevision des Klägers ist unzulässig.

19I. Die Revision der Beklagten ist unbegründet, soweit sie die Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom betrifft. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass die Kündigung als personenbedingte mangels sozialer Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam ist.

201. Als Gründe in der Person, die eine ordentliche Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial rechtfertigen können, kommen Umstände in Betracht, die auf den persönlichen Verhältnissen oder Eigenschaften des Arbeitnehmers beruhen. Eine auf sie gestützte Kündigung kann sozial gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitnehmer aus Gründen in seiner Person - die nicht von ihm verschuldet sein müssen - zu der nach dem Vertrag vorausgesetzten Arbeitsleistung ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist. In diesen Fällen liegt in der Regel eine erhebliche und dauerhafte Störung des vertraglichen Austauschverhältnisses vor, der der Arbeitgeber, wenn keine andere Beschäftigung mehr möglich ist, mit einer Kündigung begegnen kann. Allerdings ist eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist.

212. Wird - wie vorliegend - die Kündigung auf einen Eignungs- oder Befähigungsmangel gestützt, der zu einer Störung des Arbeitsverhältnisses führt, ist diese nur verhältnismäßig, wenn der Eignungs- oder Befähigungsmangel nach einer vorzunehmenden Prognose nicht in einem vertretbaren Zeitraum behoben werden kann (vgl.  - Rn. 15; - 2 AZR 233/11 - Rn. 34). Die Nichterfüllung der Arbeitspflicht muss sich außerdem nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Arbeitgeber typischerweise von der Vergütungspflicht befreit ist, wenn der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung nicht mehr vertragsgerecht erbringen kann (vgl.  - Rn. 15; - 2 AZR 359/89 - zu C V der Gründe). Diese Voraussetzungen gelten auch bei dem Verlust oder Fehlen einer öffentlich-rechtlichen Befugnis (Erlaubnis) bzw. Bestehen eines damit einhergehenden Beschäftigungsverbots (vgl.  - Rn. 45; - 2 AZR 68/95 - zu II 2 der Gründe, BAGE 82, 139). Die soziale Rechtfertigung einer darauf gestützten personenbedingten Kündigung setzt voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung mit der Erteilung einer neuen Erlaubnis in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist ( - zu II 2 der Gründe, BAGE 96, 336; - 2 AZR 74/95 - zu B II 2 der Gründe).

223. Die Beklagte ist ihrer Obliegenheit nicht nachgekommen, die für einen dauerhaften Entzug der Zusatzbescheinigungen für die Tätigkeit eines Triebfahrzeugführers oder zumindest für deren Fehlen auf absehbare Zeit sprechenden Tatsachen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG).

23a) Die Beklagte beruft sich zur Rechtfertigung der von ihr ausgesprochenen Kündigung allein auf den aus ihrer Sicht wirksamen Entzug der Zusatzbescheinigungen nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TfV aF. Deshalb habe der Kläger im Zeitpunkt der Kündigung über keine Fahrberechtigung gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 TfV aF verfügt, weshalb er nicht mehr als Triebfahrzeugführer habe beschäftigt werden können.

24b) Das bloße Fehlen der Zusatzbescheinigungen und damit der Fahrberechtigung gemäß § 3 Abs. 1 TfV aF vermag für sich genommen die erklärte Kündigung nicht zu rechtfertigen. Es müsste hinzutreten, dass nicht damit gerechnet werden kann, der Kläger werde die vertraglich geschuldete Tätigkeit innerhalb einer dem Arbeitgeber zumutbaren Zeit wieder ausüben können. Hierzu fehlt es aber an jeglichem darauf bezogenen Vorbringen der Beklagten. Sie hat sich schon vorinstanzlich nicht darauf berufen, dem Kläger sei es dauerhaft oder jedenfalls in absehbarer, vertretbarer Zeit nicht möglich, die Zusatzbescheinigungen nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TfV aF (erneut) zu erwerben. Sie hat nur gemeint, diese seien zu Recht entzogen worden, deshalb liege bereits ein Kündigungsgrund vor.

25c) Im Revisionsverfahren hat die Beklagte vorgetragen, mit Ausnahme des allgemeinen Appells zur Beachtung von Verkehrsvorschriften und Verkehrszeichen gebe es keine schulbaren Methoden, einen Kraft- oder Schienenfahrzeugführer dahin zu festigen, zukünftig keinerlei Verkehrsverstöße der in Rede stehenden Art mehr zu begehen. Auch damit genügt sie ihrer Darlegungslast nicht, weshalb die Beurteilung der Zulässigkeit ihres Vorbringens nach § 559 Abs. 2 ZPO dahingestellt bleiben kann. Ihre Ausführungen lassen nicht erkennen, warum es dem Kläger generell nicht möglich sein soll, eine Zusatzbescheinigung (künftig wieder) zu erhalten, oder wie lange - jedenfalls allgemein - Schulungen für eine Zusatzbescheinigung dauern. Dass eine (Nach-)Schulung im Fall des Klägers nicht völlig aussichtslos war, zeigen die Umstände im Zusammenhang mit seinem Triebfahrzeugführerschein nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TfV aF, der zwar anderen Schulungs- und Prüfungsregeln als die Zusatzbescheinigung unterliegt, wobei es in Teilbereichen aber Überschneidungen gibt. Die vom Eisenbahn-Bundesamt geäußerten Zweifel an der Eignung des Klägers als Triebfahrzeugführer konnten innerhalb von vier Wochen durch eine Nachschulung im Umfang von zwei Tagen mit anschließendem Simulatortraining und Überwachungsfahrt ausgeräumt werden.

26d) Der Senat musste den Rechtsstreit insoweit nicht an die Vorinstanz zurückverweisen, um der Beklagten Gelegenheit zu ergänzendem Tatsachenvorbringen zu geben. Zwar ist dieser Gesichtspunkt vom Landesarbeitsgericht nicht vertieft behandelt worden, jedoch hat der Kläger ausweislich der Feststellungen im angegriffenen Urteil bereits in seiner Berufungsbegründung Vortrag zur Dauerhaftigkeit der Entziehung der Zusatzbescheinigungen vermisst.

27II. Der Weiterbeschäftigungsantrag fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an. Er ist auf eine Beschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens gerichtet. Dieses ist mit der Entscheidung des Senats rechtskräftig beendet (vgl.  - Rn. 31; - 2 AZR 50/19 - Rn. 31). Einen darüber hinausgehenden Beschäftigungsanspruch hat der Kläger nicht geltend gemacht. Nur vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass mit der Rechtskraft der Entscheidung über den Bestandsschutzantrag nicht nur der Weiterbeschäftigungsanspruch, sondern auch die Vereinbarung der Parteien über die vorläufige Weiterbeschäftigung gegenstandslos geworden sein dürfte.

28III. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist rechtsfehlerhaft, soweit es auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Beklagte verurteilt hat, an ihn die Zusatzbescheinigungen zum Triebfahrzeugführerschein herauszugeben. Der Senat kann diesbezüglich nicht selbst entscheiden, so dass die Sache insofern an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.

291. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Herausgabeanspruch des Klägers nicht bejaht werden.

30a) Anders als bei einem Kündigungsschutzantrag, bei dem es auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ankommt, ist bei einem Herausgabeverlangen der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgeblich (vgl.  - zu VI der Gründe). Diese hat im ersten Berufungsverfahren am stattgefunden.

31b) Das Landesarbeitsgericht stellt insoweit allein darauf ab, dass dem Kläger die Zusatzbescheinigungen (ursprünglich) zu Unrecht entzogen worden seien. Dies verkennt den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für die Entscheidung über das Herausgabeverlangen, was insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.

322. Der Senat kann nicht selbst darüber befinden, ob zu diesem Zeitpunkt das Herausgabeverlangen begründet war.

33a) Es kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, dass es auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz an den Voraussetzungen für eine Entziehung der Zusatzbescheinigungen gefehlt hätte, wofür allerdings nicht viel spricht (vgl. Rn. 45 ff.). Selbst dann könnte die Beklagte jedenfalls berechtigt gewesen sein, diese dem Kläger erneut zu entziehen, da nach § 12 Abs. 2 Satz 2 TfV aF die Zusatzbescheinigungen auszusetzen oder zu entziehen sind, wenn die Erteilungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen. Einem Herausgabeverlangen des Klägers würde insoweit der Grundsatz von Treu und Glauben in der Form des sog. Dolo-agit-Einwands entgegenstehen.

34b) Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung und setzt der (auch gesetzlich zulässigen) Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt. So verbietet er die Durchsetzung eines Anspruchs, wenn der Gläubiger das Erlangte wieder an den Schuldner herauszugeben hätte („dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“; st. Rspr., vgl. nur  - Rn. 17;  - Rn. 74). Es fehlt dann an einem schutzwürdigen Eigeninteresse des Gläubigers an der Durchsetzung der ihm formal zustehenden Rechtsposition (vgl.  - Rn. 50).

35c) Die Beklagte könnte zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung am berechtigt gewesen sein, - unabhängig von den Geschehnissen, die ursprünglich zur Entziehung der Zusatzbescheinigungen geführt haben - diese dem Kläger zu entziehen, wenn die Erteilungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen.

36aa) Zu diesen gehören nach § 11 Abs. 2 Satz 2 iVm. Anlage 11 Nr. 1 TfV aF ärztliche Untersuchungen, die beim Kläger, entsprechend seinem Lebensalter, jährlich durchzuführen sind. Nach Nr. 2 Buchst. b der Anlage 11 TfV aF sind Infrastrukturkenntnisse einschließlich der Kenntnisse von Betriebsverfahren, Zugbeeinflussungssystemen und Signalsystemen alle drei Jahre und immer dann zu überprüfen, wenn eine bestimmte Strecke länger als ein Jahr nicht befahren worden ist. § 11 Abs. 2 Satz 2 TfV aF bezeichnet dies als „Mindesthäufigkeiten“, wozu der Unternehmer selbst genauer festzulegen hat, in welchen Abständen die Überprüfungen stattfinden. In dem für den vorliegenden Fall maßgeblichen Katalog des Sicherheitsmanagementsystems heißt es, dass die Zusatzbescheinigung ua. dann entzogen werden kann, wenn der Triebfahrzeugführer keine ausreichende Fahrpraxis hat („weniger als 100 Stunden/Jahr“).

37bb) Das Landesarbeitsgericht hat weder zu einer erfolgten ärztlichen Untersuchung des Klägers noch zu seinen Infrastrukturkenntnissen Feststellungen getroffen. Dies wird es im fortgesetzten Berufungsverfahren nachzuholen haben, wobei zunächst den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben sein wird.

38IV. Dem Kläger steht gegen die Beklagte für den Zeitraum Mai 2021 bis Januar 2022 entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts die eingeklagte Vergütung nicht unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB) zu. Auch insoweit war das Berufungsurteil aufzuheben. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht darauf abgestellt, die Beklagte habe es dem Kläger mit ihrem Verlangen der Herausgabe der Zusatzbescheinigungen unmöglich gemacht, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Dabei hat es nicht berücksichtigt, dass die Beklagte hierzu nach pflichtgemäßem Ermessen berechtigt war, zumal der Kläger auch nach seiner eigenen Darstellung bei seiner Tätigkeit als Triebfahrzeugführer am einen Pflichtverstoß begangen hat.

391. Der Gläubiger kommt nicht in Verzug, wenn der Schuldner zur Zeit des Angebots oder im Fall des § 296 BGB zu der für die Handlung des Gläubigers bestimmten Zeit außerstande ist, die Leistung zu bewirken, § 297 BGB. Die Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit des Arbeitnehmers sind vom Leistungsangebot und dessen Entbehrlichkeit unabhängige Voraussetzungen, die während des gesamten Annahmeverzugszeitraums vorliegen müssen (vgl.  - Rn. 15; - 5 AZR 346/21 - Rn. 15).

40a) Der Kläger war im streitigen Zeitraum rechtlich nicht in der Lage, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Am händigte er der Beklagten auf deren Verlangen seine Zusatzbescheinigungen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 2 TfV aF der Klassen A (Rangierfahrten) und B1 (Personenverkehr) aus, die zuvor von ihr entzogen wurden. Damit fehlte ihm die nach § 3 Abs. 1 Satz 1 TfV aF erforderliche Fahrberechtigung, derer er für die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten bedurfte.

41b) Dem steht - anders als das Landesarbeitsgericht meint - nicht entgegen, dass die Entziehung der Zusatzbescheinigungen auf einem Verlangen der Beklagten beruhte. Allerdings ist die vom Verordnungsgeber gewählte rechtliche Aufspaltung der Erlaubniserteilung in § 3 Abs. 1 TfV aF, wonach die Fahrberechtigung sowohl einen Triebfahrzeugführerschein erfordert, der auf öffentlich-rechtlicher Grundlage vom Eisenbahn-Bundesamt erteilt wird, sowie Zusatzbescheinigungen, die im Ergebnis vom Arbeitgeber erteilt und entzogen werden können, nicht nur mangels einer trennscharfen Abgrenzung zueinander wenig geglückt. Letztlich hat es der Arbeitgeber durch die Erteilung und den Entzug der Zusatzbescheinigung in der Hand, auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer in gewissem Umfang Einfluss zu nehmen.

42c) Zur Objektivierung der Entscheidung über den Entzug oder die Aussetzung der Erlaubnis ist § 12 TfV aF dahingehend auszulegen, dass der Arbeitgeber bei Entscheidungen über die Zusatzbescheinigung nur die in § 12 Abs. 2 Satz 2 TfV aF normierten Voraussetzungen zu beachten hat und diese, ähnlich wie bei der Ausübung des Weisungsrechts nach § 106 GewO, nur im Rahmen billigen Ermessens vornehmen darf.

43aa) § 12 Abs. 1 Satz 1 TfV aF sieht bei Zweifeln an der Befähigung des Triebwagenführers ein Verfahren vor, um diese Zweifel auszuräumen. Dazu gehört eine Überprüfung nach § 12 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 11 TfV aF, ob die Erteilungsvoraussetzungen iSv. § 9 TfV aF noch vorliegen. Als Reaktion auf fortbestehende Befähigungszweifel sieht § 12 Abs. 2 Satz 1 TfV aF eine erneute Überprüfung vor, bei deren negativem Ergebnis § 12 Abs. 2 Satz 2 TfV aF mehrere Handlungsmöglichkeiten bis hin zur Entziehung der Zusatzbescheinigung vorsieht.

44bb) Dem Arbeitgeber verbleibt dabei ein nach billigem Ermessen auszufüllender Spielraum, für dessen Einhaltung er die Darlegungs- und Beweislast trägt. Erforderlich ist eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Ob die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle, wobei es nicht auf die vom Arbeitgeber angestellten Erwägungen, sondern darauf ankommt, ob das Ergebnis der getroffenen Entscheidung den gesetzlichen Anforderungen genügt. Weil der Begriff des billigen Ermessens ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, steht den Tatsacheninstanzen bei der Ausübungskontrolle ein Beurteilungsspielraum zu, der vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen ist, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (vgl.  - Rn. 38 f.).

45d) Das Berufungsgericht hat verkannt, dass die Entziehung der Zusatzbescheinigungen durch die Beklagte die Grenzen dieser Vorgaben beachtet, zumal der Kläger durch mehrfache eigene Handlungen objektive Zweifel am Fortbestehen seiner Eignung als Triebwagenführer begründet hat.

46aa) Bereits im Jahr 2019 kam es zu einem sicherheitsrelevanten Pflichtverstoß des Klägers, als er bei der Einfahrt in einen Bahnhof ein „Halt“ zeigendes Signal überfahren hat. Auch am gefährdete der Kläger die Sicherheit des Schienenverkehrs, unabhängig davon, ob er - wie er später in Abrede stellte - ein „Halt“ zeigendes Signal überfahren hatte. Falls das Signal auf „Fahrt“ gestanden haben sollte, wäre jedenfalls die von ihm durchgeführte Schnellbremsung, bei der Risiken für die Fahrgäste entstehen können, ebenfalls ein sicherheitsrelevanter Pflichtverstoß. Dabei durfte die Beklagte auch berücksichtigen, dass der Kläger nach seiner eigenen schriftlichen Stellungnahme vom aus Unachtsamkeit ein „Halt“ zeigendes Signal überfahren und dies am Vortag auch per Funk dem Fahrdienstleiter der D AG mitgeteilt hatte. Auch der zuständige Eisenbahnbetriebsleiter der D AG kam zu dem Ergebnis, der Zug sei um eine halbe Zuglänge am „Halt“ zeigenden Signal vorbeigefahren.

47bb) Es hält sich ebenso im Rahmen des der Beklagten zustehenden Ermessens, wenn sie in dieser Situation ein Verfahren einleitet, um gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 TfV aF Zweifel an der Befähigung des Klägers als Triebfahrzeugführer auszuräumen als auch, dass sie nach wiederholten Überprüfungen der Erteilungsvoraussetzungen der Zusatzbescheinigungen, bei denen erneut sicherheitsrelevante Pflichtverstöße des Klägers erfolgten, die Zusatzbescheinigungen entzieht. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der , als der Kläger auf Anforderung der Beklagten die ihm erteilten Zusatzbescheinigungen zum Zwecke der Entziehung herausgab. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger anlässlich zweier Simulatorfahrten am 19. und erneut gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen, indem er Geschwindigkeitsbegrenzungen überschritt, die Verfahrensprozedur bei einem unerwarteten „Haltsignal“ nicht einhielt und ein „Halt“ zeigendes Signal überfuhr. Auch unter Berücksichtigung der ungewohnten Situation für den Kläger im Simulator durfte die Beklagte angesichts der Vielzahl der dortigen und bereits vorangegangenen Verstöße dem in § 12 TfV aF in den Vordergrund gerückten Sicherheitsgedanken eine größere Bedeutung beimessen, als dem Wunsch des Klägers an einer unveränderten Fortführung seiner Tätigkeit.

482. Der Senat kann über die vom Kläger geltend gemachten Vergütungsansprüche nur für den Monat Mai 2021 selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Für diesen Monat macht der Kläger seinen Anspruch allein unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs geltend, der aber nicht besteht (vgl. oben Rn. 38 ff.). Insoweit war die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

493. Der Kläger macht Vergütungsansprüche ab Juni 2021 auch unter Schadensersatzgesichtspunkten (§ 326 Abs. 2 BGB) geltend. Darüber hat das Landesarbeitsgericht - nach seiner Argumentationslinie konsequent - ausdrücklich nicht entschieden, was es im fortgesetzten Berufungsverfahren nachzuholen hat.

50V. Die Anschlussrevision des Klägers (§ 554 ZPO) betreffend die Kosten der ihm vom Eisenbahn-Bundesamt auferlegten Nachschulung ist unzulässig. Ihrer Zulässigkeit steht entgegen, dass das Landesarbeitsgericht die Revisionszulassung auf die Beklagte beschränkt hat, und die davon betroffenen Ansprüche des Klägers mit dem Anspruch betreffend die Schulungskosten nicht in dem erforderlichen unmittelbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang stehen.

511. Die Neuregelung der Anschlussrevision im Jahr 2001 ändert nichts daran, dass sie als unselbständiges Rechtsmittel akzessorischer Natur ist. Dieser Abhängigkeit der Anschlussrevision würde es widersprechen, wenn mit ihr Streitstoff in das Revisionsverfahren eingeführt werden könnte, der mit dem Gegenstand der Hauptrevision weder in einem rechtlichen noch in einem wirtschaftlichen unmittelbaren Zusammenhang steht. Eine unbeschränkte Statthaftigkeit der Anschlussrevision würde zudem in Fällen, in denen die Revision zugunsten einer Partei nur teilweise zugelassen wurde, zu einer Benachteiligung des Revisionsklägers führen und somit über den Gesetzeszweck der Schaffung einer Art Waffengleichheit zwischen den Parteien hinausgehen. Bei uneingeschränkter Statthaftigkeit der Anschlussrevision könnte der Revisionsbeklagte das Urteil - soweit er unterlegen ist - insgesamt anfechten, selbst wenn seine Nichtzulassungsbeschwerde wegen des Fehlens eines Zulassungsgrundes nicht erfolgreich gewesen wäre. Dagegen kann bei einer beschränkten Zulassung der Revision der Revisionskläger das Urteil im Revisionsverfahren lediglich zum Teil angreifen. Eine Benachteiligung des Revisionsklägers wäre nur dann nicht gegeben, wenn ihm das Recht zu einer Gegenanschließung gewährt würde. Eine derartige Möglichkeit hat der Gesetzgeber indes nicht vorgesehen. Die insoweit bestehende Ungleichbehandlung ist lediglich dann gerechtfertigt, wenn der Gegenstand der Anschlussrevision in einem unmittelbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Hauptrevision steht (vgl.  - Rn. 15).

522. Der Senat muss nicht darüber befinden, ob zwischen den Lebenssachverhalten, die die Kündigung, den Entzug der Zusatzbescheinigungen und den Annahmeverzugsansprüchen einerseits und dem Aufwendungsausgleichsanspruch betreffend die Nachschulungskosten auf Anforderung des Eisenbahn-Bundesamts überhaupt ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang besteht. Es fehlt jeweils an der Unmittelbarkeit eines solchen Zusammenhangs.

53a) Ein Antrag nach § 4 Satz 1 KSchG steht allenfalls mit Klageansprüchen in einem unmittelbaren rechtlichen Zusammenhang, deren Erfolg davon abhängt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die betreffende arbeitgeberseitige Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Das trifft für die Kosten der auf Veranlassung des Eisenbahn-Bundesamts durchgeführten Nachschulung nicht zu.

54b) Ebenso fehlt ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang. Die den Gegenstand von Haupt- und Anschlussrevision bildenden Ansprüche beruhen weder unmittelbar auf einer identischen vertraglichen Grundlage noch auf einer einheitlichen Verletzungshandlung. Sie sind nur „lose“ durch die Vorkommnisse vom verknüpft. Die vom Eisenbahn-Bundesamt dem Kläger auferlegte Nachschulung ist weder notwendige noch hinreichende Bedingung für einen von der Beklagten mit ihrer Hauptrevision angegriffenen Anspruch und umgekehrt.

55VI. Das Landesarbeitsgericht hat im fortgesetzten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:200624.U.2AZR134.23.0

Fundstelle(n):
IAAAJ-76059