Sozialgerichtliches Verfahren - Einlegung einer Sprungrevision ohne gegnerische Zustimmung beim SG - Weiterleitung an LSG als Berufung - Fristablauf der Berufungsfrist in wenigen Tagen - unvertretener Kläger - Hinweispflicht für SG bzw LSG aufgrund ihrer Fürsorgepflicht - Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand von Amts wegen bei Nachholung der Berufseinlegung in Wiedereinsetzungsfrist
Gesetze: § 67 Abs 1 SGG, § 67 Abs 2 S 4 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG
Instanzenzug: Az: S 35 KA 11/20 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 3 KA 32/22 Beschluss
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten um eine Honorarkürzung wegen fehlender Anbindung des Klägers an die Telematikinfrastruktur und eines nicht durchgeführten Online-Abgleichs der Versichertenstammdaten im Jahr 2019.
2Der klagende Zahnarzt ist im Bezirk der beklagten Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZÄV) zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassen. Die Beklagte kürzte den Honoraranspruch des Klägers für das Jahr 2019 pauschal um 1 vH (1587,27 Euro) mit der Begründung, dass dieser den vorgeschriebenen Online-Abgleich von Versichertenstammdaten nicht durchgeführt habe (Bescheid vom ). Der hiergegen gerichtete Widerspruch und die erhobene Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom , ).
3Gegen das ihm am zugestellte Urteil des SG hat sich der - bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens unvertretene - Kläger mit einem am beim SG eingegangenen Schreiben vom selben Tag gewandt, mit dem er um "Sprungrevision zum BSG" gebeten hat. Eine Zustimmungserklärung der Gegners zur Einlegung der Sprungrevision war dem Schreiben des Klägers nicht beigefügt.
4Das SG hat dieses Schreiben des Klägers als Berufung an das LSG am weitergeleitet und das LSG gebeten, den Eingang unter Mitteilung des dortigen Aktenzeichens zu bestätigen. Eine Abgabenachricht an die Beteiligten sei nicht erfolgt. Das beim LSG zunächst vergebene Aktenzeichen (L 3 KA 29/22) ist den Beteiligten - soweit aus den Akten ersichtlich - nicht mitgeteilt worden. Vielmehr hat der Vorsitzende Richter des zuständigen Senats am verfügt, die Akten mit dem Hinweis an das SG zurückzusenden, dass der Kläger keine Berufung eingelegt, sondern die Zulassung der Sprungrevision beantragt habe. Hierüber habe das SG zu entscheiden. Auch dazu ist keine Mitteilung an die Beteiligten erfolgt. Daraufhin hat das dem Kläger am zugestellt - entschieden, die Sprungrevision nicht zuzulassen.
5Dagegen hat sich der Kläger mit einem beim SG am eingegangenen Schreiben vom selben Tag gewandt, in dem er nochmals um Sprungrevision gebeten hat und "ansonsten von der Revision zum LSG ausgehe".
6Dieses Schreiben hat das SG erneut „zur Durchführung des Verfahrens sowie des Berufungsverfahrens“ an das LSG weitergeleitet. Mit Schreiben vom hat der Vorsitzende Richter am LSG dem Kläger mitgeteilt, dass dessen Schreiben vom als Berufung gegen das Urteil des LSG ausgelegt werde. Diese sei jedoch nicht innerhalb der Berufungsfrist, die am Montag, den abgelaufen sei, eingelegt worden. Zwar beginne der Lauf der Berufungsfrist unter Umständen mit der Zustellung des die Sprungrevision ablehnenden Beschlusses des SG von neuem. Dies setze nach § 161 Abs 3 Satz 1 SGG aber voraus, dass dem Antrag auf Sprungrevision eine Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt sei. Der Kläger habe es versäumt, die Erklärung vorzulegen, obwohl er mit der Rechtsmittelbelehrung zum Urteil des SG auf dieses Erfordernis hingewiesen worden sei. Der Kläger hat darauf erwidert, dass die Rechtsmittelbelehrung für ihn als juristischem Laien in diesem Punkt unverständlich gewesen sei. Er erwarte, dass sich das LSG ordnungsgemäß mit seinem Begehren befasse.
7Mit Beschluss vom hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG wegen Versäumung der Berufungsfrist (§ 151 SGG) als unzulässig verworfen. Der Kläger habe mit seinem am beim SG eingegangenen Schreiben noch keine Berufung eingelegt, sondern die Zulassung der Sprungrevision nach § 161 Abs 1 SGG beantragt. Ein Begehren, die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils durch das LSG überprüfen zu lassen, habe diesem Schreiben nicht entnommen werden können, sondern erst dem an das SG adressierten Schreiben vom . Das letztgenannte Schreiben sei aber erst neun Tage nach Ablauf der Berufungsfrist beim SG eingegangen.
8Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, zu deren Begründung er einen Verfahrensfehler geltend macht (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hätte seine Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Bereits das Schreiben vom an das SG hätte als Berufung ausgelegt werden müssen, sodass über die fristgerecht eingelegte Berufung in der Sache hätte entschieden werden müssen.
9II. A. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.
10Der Entscheidung des LSG liegt ein formgerecht gerügter (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) zugrunde. Insoweit genügen die Darlegungen des Klägers, der im Ergebnis zutreffend aufgezeigt hat, dass anstelle eines Prozessurteils ein Sachurteil hätte ergehen müssen (vgl - juris RdNr 5 mwN). Bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; siehe nur - SozR 4-1500 § 160a Nr 19 RdNr 6; - juris RdNr 4; - juris RdNr 13 jeweils mwN). Entgegen der Auffassung des LSG war die Berufung des Klägers nicht wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig zu verwerfen. Das LSG hätte - ausgehend von seiner Rechtsansicht zur Verfristung der Berufung - Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und sodann über die Berufung in der Sache entscheiden müssen.
11Nach § 67 Abs 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist. Unter Berücksichtigung des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht dabei aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei der Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl nur - BVerfGE 93, 99, 115 f, juris RdNr 29 ff; - SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61, juris RdNr 19; - juris RdNr 13).
12Ein solcher Fall liegt hier vor. Das SG hat das Schreiben des Klägers vom als Berufung an das LSG weitergeleitet. Das LSG hat dieses Schreiben, mit dem der Kläger um "Sprungrevision zum BSG" gebeten hatte, insoweit zutreffend als Sprungrevision ausgelegt und es deshalb zur Entscheidung darüber an das SG zurückgesandt. Dieses beim SG zwölf Tage vor Ablauf der Berufungsfrist eingegangene und von dort an das LSG als Berufung weitergeleitete Schreiben des Klägers vom hat dem LSG am Dienstag, den gegen 7:05 Uhr und damit fast eine Woche vor Ablauf der Berufungsfrist (Montag, den , 24:00 Uhr) vorgelegen. Bereits am hat der Vorsitzende Richter am LSG die Rücksendung an das SG zur Entscheidung über die "Zulassung der Sprungrevision" verfügt. Da die erforderliche Zustimmungserklärung der Gegenseite zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag, war bereits absehbar, dass der Antrag auf Zulassung der Sprungrevision vom SG zurückgewiesen werden würde und dass damit auch der Lauf der Berufungsfrist nach § 161 Abs 3 SGG nicht von neuem beginnen würde. Dass die Versäumung der Berufungsfrist drohte, war zu diesem Zeitpunkt damit offensichtlich.
13Unter diesen Umständen hätten entweder bereits das SG oder jedenfalls das LSG den nicht vertretenen Kläger im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht auf den bevorstehenden Ablauf der Berufungsfrist und auf die Folgen der fehlenden Zustimmungserklärung des Gegners zur Einlegung der Sprungrevision hinweisen müssen (zur gebotenen Gewährung von Wiedereinsetzung für den Fall, dass das Gericht seiner Verpflichtung, notwendige Maßnahmen zu treffen, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden, nicht nachkommt vgl - SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 = juris RdNr 19; - juris RdNr 5 jeweils mwN). Durch unverzüglich erteilte Hinweise hätte der Kläger ausreichend Gelegenheit gehabt, noch innerhalb der Frist Berufung einzulegen. Statt dessen ist das beim SG am eingegangene Schreiben vom SG an das LSG und von dort wieder zurückgesandt worden, ohne den Kläger - vor Ablauf der Berufungsfrist - über diesen Verfahrensgang bzw prozessuale Erfordernisse zu informieren.
14Da die Fristversäumnis durch das fehlerhafte gerichtliche Verhalten mitverursacht wurde, hätte das LSG dem Kläger nach § 67 Abs 2 Satz 4 SGG von Amts wegen Wiedereinsetzung gewähren müssen, nachdem der Kläger die versäumte Rechtshandlung mit der Einlegung der Berufung beim SG am nachgeholt hatte.
15Eine Zurückweisung der Beschwerde unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG (vgl dazu Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160a RdNr 18 mwN) war nicht geboten. Der erkennende Senat hat - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - mit Urteil vom (B 6 KA 23/22 R) die Grundsatzfrage der Rechtmäßigkeit von Honorarkürzungen wegen fehlender Anbindung an die Telematikinfrastruktur und eines nicht durchgeführten Online-Abgleichs von Versichertenstammdaten im Quartal 1/2019 geklärt. Der Kläger kann nach Kenntnis der Urteilsgründe und unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des BSG das Berufungsverfahren vor dem LSG durchführen.
16Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückverwiesen.
17B. Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:240724BB6KA723B0
Fundstelle(n):
SAAAJ-74774