BGH Beschluss v. - 5 StR 255/24

Instanzenzug: Az: 602 Ks 7/23

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und Entscheidungen im Adhäsionsverfahren getroffen. Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Beweisantragsrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

21. Zu Recht macht der Beschwerdeführer geltend, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft die beantragte Einvernahme zweier Zeugen abgelehnt.

3a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

4Der Beschwerdeführer hat in der Hauptverhandlung die erneute Vernehmung des Zeugen T.   zum Beweis der Tatsache beantragt, dass der Nebenkläger im Anschluss an die erste Vernehmung des Zeugen im Hauptverhandlungstermin vom diesen noch im Gerichtsgebäude im Foyer angesprochen und massiv damit bedroht habe, ihm und seiner Familie etwas anzutun. Aus der Antragsbegründung geht hervor, dass der Zeuge in seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung die Einlassung des Angeklagten gestützt hatte, wonach dieser die ihm vorgeworfene Tat nur zum Zweck der Abwehr eines Angriffs des Nebenklägers verübt haben will, zu dem es gekommen sei, nachdem er ein Angebot des Nebenklägers zum Erwerb von Drogen abgelehnt habe. Die erneute Einvernahme des Zeugen T.   sei erforderlich, um das erhebliche und sich plötzlich und unvermittelt entfaltende Aggressionspotential des Nebenklägers zu dokumentieren, welcher nicht einmal in einem öffentlichen Gerichtsgebäude davor zurückschrecke, ihm zuvor vollkommen unbekannte Personen derart zu bedrohen, dass diese nachhaltig verängstigt seien und um ihre Gesundheit und Leben fürchteten. Zum Nachweis desselben Geschehens hat die Verteidigung zugleich beantragt, auch den zum Zeitpunkt des Vorfalls im Gerichtsgebäude diensthabenden Pförtner als Zeuge zu vernehmen.

5Das Landgericht hat den Beweisantrag wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit gemäß § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO abgelehnt. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass die unter Beweis gestellten Tatsachen selbst im Falle ihres Erwiesenseins nur mögliche, aber keine zwingenden Rückschlüsse auf das angeklagte Tatgeschehen zuließen. Es fehle schon an einem Bezug zum Tatvorwurf; das unter Beweis gestellte Geschehen habe sich gut acht Monate später im Gerichtsgebäude abgespielt. Es möge so sein, dass der Nebenkläger und der Zeuge am in der beschriebenen Art und Weise im Gerichtsgebäude aufeinander getroffen seien. Aber zu der Frage, ob der Angeklagte am in einer Notwehrsituation dem Nebenkläger einen Messerstich in den Rücken versetzt habe und ob er von weiteren möglichen Stichen freiwillig Abstand genommen habe, gebe der Vorfall – unterstellt, er habe so stattgefunden – keine zwingenden Antworten und lasse keine zwingenden, sich selbsterklärenden Rückschlüsse zu.

6b) Die zulässig erhobene Rüge ist begründet, da die Ablehnungsentschei-dung des Landgerichts den Anforderungen des § 244 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht genügt.

7Tatsächlich bedeutungslos sind Indiz- beziehungsweise Hilfstatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Sachzusammenhang besteht oder sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulassen und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will ( Rn. 63 mwN, StV 2023, 293; vom – 3 StR 549/16, NStZ 2018, 111; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 244 Rn. 220). Der angegriffene Ablehnungsbeschluss lässt jedoch schon nicht klar erkennen, auf welchen dieser denkbaren Gründe einer Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen er gestützt sein soll.

8Sofern die Strafkammer schon jeglichen Zusammenhang zwischen der mit dem Antrag unter Beweis gestellten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung verneinen wollte, weil ein „Bezug zum Tatvorwurf“ fehle, stünde dies im Gegensatz zu den Urteilsgründen. Dort wurde ausgeschlossen, dass der Nebenkläger den Angeklagten – wie von letzterem behauptet – plötzlich und nur wegen des abgelehnten Drogenangebots mit Faustschlägen angegriffen hatte. Begründet wurde dies damit, dass sich ein derartiges Agieren für den erst 22 Jahre alten, unbewaffneten, nicht vorbestraften und aus Afghanistan geflüchteten Nebenkläger in keiner Weise erschließe und der Strafkammer lebensfremd erscheine. Mit der Beweistatsache zielt der abgelehnte Antrag aber ausdrücklich darauf ab, gerade ein sich „plötzlich und unvermittelt entfaltendes Aggressionspotential“ des Nebenklägers zu dokumentieren, als dieser eine ihm zuvor vollkommen unbekannte Person bedrohte, und damit ein der Sachverhaltsschilderung des Angeklagten potentiell vergleichbares Geschehen unter Beweis zu stellen. Angesichts dessen hätte näherer Begründung bedurft, wie ein Zusammenhang zwischen Beweistatsache und Untersuchungsgegenstand gleichwohl schon dem Grunde nach auszuschließen sein könnte. Dabei erlaubt § 244 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO es dem Tatgericht nicht, die Bedeutungslosigkeit lediglich aus dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme abzuleiten ( Rn. 63 mwN, StV 2023, 293).

9Sollte die Strafkammer dagegen einen solchen Zusammenhang für möglich erachtet und lediglich entschieden haben, die mit dem Antrag intendierte Folgerung nicht vorzunehmen, hat sie dabei einen falschen Maßstab zugrunde gelegt. Eine Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache konnte auf diesem Weg nicht bereits damit begründet werden, dass diese „keine zwingenden Rückschlüsse“ auf das Tatgeschehen gebot. Denn tatsächliche Schlüsse müssen nicht zwingend sein. Es genügt vielmehr, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist (vgl. , NJW 2020, 2741; Urteile vom – 5 StR 320/21, NStZ 2023, 568; vom – 5 StR 535/23). Entsprechend hätte es im Ablehnungsbeschluss konkreter fallbezogener Erwägungen dazu bedurft, warum – obwohl dies grundsätzlich in Betracht kam – aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen gezogen werden sollen (vgl. ; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 244 Rn. 220). Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache dabei so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen. Sodann hat es im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde (st. Rspr.; vgl. nur , NStZ 2024, 379). Die Anforderungen an diese Begründung entsprechen grundsätzlich denjenigen, denen das Tatgericht genügen müsste, wenn es die Indiz- oder Hilfstatsache durch Beweiserhebung festgestellt und sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, warum sie auf seine Überzeugungsbildung ohne Einfluss geblieben ist ( mwN). Entsprechende Ausführungen finden sich in dem Ablehnungsbeschluss des Landgerichts nicht.

10c) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich der Angeklagte bei rechtsfehlerfreier Entscheidung über den Beweisantrag erfolgreicher als geschehen hätte verteidigen können und das Landgericht zu einer anderen, für den Angeklagten günstigeren Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen gelangt wäre.

112. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Sollte das neue Tatgericht dabei im Wesentlichen zu gleichen Feststellungen gelangen, wie sie im ersten Rechtsgang getroffen wurden, so wird es diese um solche zur Frage einer möglichen Korrektur des Rücktrittshorizonts zu ergänzen haben. Denn die Frage, ob nach den hierzu bestehenden Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu von dem Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (vgl. nur mwN, NStZ-RR 2020, 272).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:160724B5STR255.24.0

Fundstelle(n):
MAAAJ-73243