Instanzenzug: LG Verden Az: 1 Ks 108/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen der Nebenkläger, mit der sie die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes beanstanden, haben Erfolg.
21. Nach den Feststellungen war der Angeklagte im Anschluss an die Trennung von der Geschädigten wütend auf diese, weil sie ihm den Kontakt zu dem gemeinsamen Sohn verweigerte. Der Angeklagte war der deutschen Sprache nicht mächtig und wusste nicht, wie er ein Umgangsrecht durchsetzen konnte. Zudem befürchtete er, dass sich die Geschädigte nicht gut um das Kind kümmern würde. Um sie beobachten zu können, ließ er sich heimlich zunächst auf dem Dachboden des Mehrfamilienhauses, in dem die Geschädigte lebte, nieder und bezog dort später unbemerkt die leerstehende Wohnung gegenüber derjenigen der Geschädigten. Da ihm sein Sohn fehlte, nahm seine Wut auf sie weiter zu; er entwickelte Tötungsfantasien und bedrohte sie in Sprach- und Kurznachrichten. Die Geschädigte befürchtete, dass sich der Angeklagte Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffen könnte, brachte Kameras an, um die Räume in ihrer Abwesenheit überwachen zu können, und beschaffte sich zu ihrer Verteidigung ein Reizstoffspray.
3Am Vormittag des beobachtete der Angeklagte durch den Türspion, wie die Geschädigte das Haus verließ. Aus seiner aufgestauten Wut heraus entschloss er sich nun, sie zu töten. Als sie mit dem Sohn zurückkehrte und das Treppenhaus betrat, verließ der mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 20 cm bewaffnete Angeklagte die Wohnung. Er stach wiederholt auf die Geschädigte ein, die Reizgas einsetzte und die Treppen hinab in Richtung Hauseingangstür flüchtete. Der Angeklagte setzte ihr nach, nahm sie vor der Haustür in den „Schwitzkasten“ und versetzte ihr mindestens drei weitere Stiche. Als die Geschädigte zu Boden sackte, ließ er von ihr ab und lief davon. Sie erlitt 15 Stichverletzungen auf der Vorderseite des Rumpfes und zwei rückseitige. Sie verstarb innerhalb weniger Minuten.
4Das Landgericht hat die Tat als Totschlag gewertet (§ 212 Abs. 1 StGB); vom Vorliegen eines Mordmerkmals, insbesondere der Heimtücke, hat es sich nicht zu überzeugen vermocht. Feststellungen hätten sich weder zur Reihenfolge der Stichverletzungen noch dazu treffen lassen, ob dem Angriff ein Streitgespräch vorausgegangen sei, ob die Geschädigte das Reizstoffspray vor dem ersten Messerstich eingesetzt und ob der Angeklagte sie angegriffen habe, als sie ihm den Rücken zugekehrt habe. Daher ist das Schwurgericht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass die Geschädigte den bewaffneten Angeklagten im Treppenhaus wahrgenommen habe, wegen der von ihr ernstgenommenen Drohungen nicht arglos gewesen sei und das Reizgas noch vor dem ersten Angriff eingesetzt habe. Die dem Angeklagten körperlich überlegene Geschädigte sei ferner nicht wehrlos gewesen.
52. Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht das Vorliegen des Mordmerkmals der Heimtücke verneint hat, hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.
6Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Es hat das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht kann die tatgerichtliche Beweiswürdigung nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Solche liegen in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt, naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert oder einzelne Beweisanzeichen nur isoliert bewertet worden sind und die gebotene umfassende und erschöpfende Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse unterblieben ist (st. Rspr.; vgl. etwa , Rn. 11 mwN). Hieran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke in zweifacher Hinsicht als lückenhaft.
7a) Das Landgericht hat schon nicht in den Blick genommen, dass bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat das heimtückische Vorgehen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB auch in Vorkehrungen liegen kann, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken. Wird das Tatopfer etwa planmäßig in einen Hinterhalt gelockt oder ihm gezielt eine raffinierte Falle gestellt, kommt es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos war (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, aaO, Rn. 13 mwN). Das festgestellte Vorgehen des Angeklagten, namentlich die von ihm getroffenen Vorkehrungen, um der Geschädigten vor ihrer Wohnungstür auflauern zu können, hätte dem Landgericht Anlass zu der Prüfung geben müssen, ob hier ein solcher Fall gegeben ist.
8b) Dem Urteil ist zudem nicht zu entnehmen, ob bei dem Tatopfer Kampf- oder Abwehrverletzungen festgestellt wurden. Ihr Fehlen kann schon für sich genommen ein gewichtiges Beweisanzeichen für das Vorliegen von Heimtücke sein (vgl. , Rn. 16). Erst recht gilt dies hier mit Blick darauf, dass die Geschädigte dem Angeklagten körperlich überlegen und infolge der Sprach- und Kurznachrichten mit bedrohlichem Inhalt auf eine mögliche Auseinandersetzung grundsätzlich vorbereitet war.
93. Das angefochtene Urteil lässt im Übrigen besorgen, dass das Landgericht von einem zu engen Verständnis des Mordmerkmals Heimtücke ausgegangen ist. Das Tatopfer kann auch dann arglos (und deshalb wehrlos) sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren, wobei für die Beurteilung die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs maßgebend ist (vgl. , NStZ 2024, 167; Beschluss vom – 3 StR 120/16, NJW 2016, 2899).
104. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf deshalb erneuter Verhandlung und Entscheidung. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten ist, zugunsten eines Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. , Rn. 8; vom – 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116, Rn. 12; vom – 3 StR 288/19, Rn. 19).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:280524U6STR479.23.0
Fundstelle(n):
TAAAJ-69111