BFH Beschluss v. - IX S 16/24

Fortwirkung der Erklärung auf Verzicht einer mündlichen Verhandlung

Leitsatz

NV: Die Erklärung, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten, verbraucht sich jedenfalls dann nicht durch eine nachfolgende gerichtliche Entscheidung, wenn hierdurch lediglich der äußere Fortgang des Verfahrens betroffen und nicht die tatsächliche oder rechtliche Grundlage der Endentscheidung berührt wird.

Gesetze: FGO § 90 Abs. 2; FGO § 133a

Tatbestand

I.

1 Die Kläger, Revisionskläger und Rügeführer (Kläger) führten beim Bundesfinanzhof (BFH) ein Revisionsverfahren, in dem sie sich gegen die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes wandten. Die ursprünglich bevollmächtigten Prozessvertreter der Kläger erklärten mit Schreiben vom den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt —FA—) schloss sich dieser Erklärung mit Schreiben vom an.

2 Der seinerzeit für Streitfragen zum Solidaritätszuschlaggesetz geschäftsplanmäßig zuständig gewesene II. Senat des BFH setzte das Revisionsverfahren auf Anregung der Beteiligten mit Beschluss vom wegen des damals beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Normenkontrollverfahrens 2 BvL 6/14 aus. Im Nachgang zu der Entscheidung des nahm der inzwischen geschäftsplanmäßig zuständig gewordene erkennende Senat das Revisionsverfahren wieder auf. Hierauf wies die Senatsgeschäftsstelle die Beteiligten mit Schreiben vom hin und bat die Kläger im richterlichen Auftrag um Mitteilung, ob das Verfahren im Hinblick auf die Senatsentscheidung vom  - IX R 15/20 (BFHE 279, 403, BStBl II 2023, 351) aufrechterhalten bliebe. Nachdem die Kläger dies mit Schreiben vom —ohne nähere Begründung— bejaht hatten, entschied der erkennende Senat über die Revision ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom . Er hob das vorinstanzliche Urteil aus verfahrensrechtlichen Gründen auf und wies die Klage ab.

3 Hiergegen richtet sich die vorliegende Anhörungsrüge. Die Kläger sehen eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs darin, dass der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Das FA hat sich zu der Rüge nicht geäußert.

Gründe

II.

4 Die Anhörungsrüge hat keinen Erfolg.

5 1. Nach § 133a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist das Verfahren auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Rüge muss das Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen darlegen (§ 133a Abs. 2 Satz 5 FGO).

6 2. Die Darlegungen der Kläger rechtfertigen nicht die Annahme, der Senat habe mit der angegriffenen Entscheidung den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 133a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FGO verletzt.

7 a) Gemäß § 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet der BFH in Revisionsverfahren aufgrund mündlicher Verhandlung. Mit Einverständnis der Beteiligten kann der BFH allerdings ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 121 Satz 1, § 90 Abs. 2 FGO). Eine Verletzung des Gehörsanspruchs liegt vor, wenn die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 FGO nicht gegeben sind, das Gericht aber dennoch ohne mündliche Verhandlung entscheidet (statt vieler , Rz 15, m.w.N.).

8 b) Im Streitfall konnte der Senat das angegriffene Urteil ohne mündliche Verhandlung treffen. Die Beteiligten haben mit Schreiben vom und klar, eindeutig und vorbehaltlos ihr Einverständnis erklärt, dass die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen könne (vgl. zu den Anforderungen an eine solche Erklärung unter anderem Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 90 Rz 10). Das Einverständnis hat —anders als die Kläger offensichtlich meinen— seine prozessrechtliche Wirkung nicht verloren.

9 aa) Die Rechtsprechung sieht das Einverständnis für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung als „verbraucht“ und damit wirkungslos an, wenn das Gericht im Nachgang zu den Erklärungen der Beteiligten eine die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitende Entscheidung erlässt. Dies wurde angenommen bei einem der Verzichtserklärung nachfolgenden Auflagenbeschluss gemäß § 79 FGO (BFH-Entscheidungen vom  - I R 28/81, BFH/NV 1987, 651 sowie vom  - XI B 7/13, Rz 11), bei einer erneuten Verzichtsanfrage des Gerichts und deren Ablehnung (, BFH/NV 1999, 1480, unter II.2.b), bei einer Ladung zu einem Erörterungstermin und der Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers (, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 22), bei der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (, BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556, Rz 8) sowie bei einem der Verzichtserklärung nachfolgenden Beweisbeschluss (, Rz 5). Diesen Entscheidungen ist gemein, dass das Gericht den Beteiligten gegenüber durch eine prozessgestaltende Handlung zum Ausdruck bringt, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung allein durch den früher erklärten Verzicht nicht mehr für hinreichend legitimiert ansieht (vgl. , BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 22). Ein genereller „Verbrauch“ des Einverständnisses infolge jeder nachfolgenden sachlichen Entscheidung des Gerichts ist der höchstrichterlichen finanzgerichtlichen Rechtsprechung allerdings nicht zu entnehmen.

10 bb) Nach diesen Maßstäben hatte die Erklärung der Beteiligten, auf eine mündliche Verhandlung für das Revisionsverfahren zu verzichten, durchgängig rechtlichen Bestand.

11 aaa) Dies gilt insbesondere trotz der Entscheidung vom , das Revisionsverfahren im Hinblick auf das seinerzeit anhängige Normenkontrollverfahren 2 BvL 6/14 gemäß § 121 Satz 1, § 74 FGO auszusetzen. Hierbei handelte es sich lediglich um eine Entscheidung, die den äußeren Fortgang des Verfahrens betraf und nicht um eine solche, durch die die Grundlage der Endentscheidung berührt wurde. Ebenso wenig wurde durch den —von den Beteiligten selbst angeregten— Aussetzungsbeschluss zum Ausdruck gebracht, dass der kurz zuvor erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung obsolet geworden sei, eine spätere Entscheidung somit nur aufgrund einer mündlichen Verhandlung hätte getroffen werden können. Jener Beschluss hat für sich betrachtet keine neuen rechtlichen Gesichtspunkte für das Revisionsverfahren hervorgebracht.

12 bbb) Soweit dies von den Klägern überhaupt gerügt wurde, konnte auch das im richterlichen Auftrag erlassene Senatsgeschäftsstellenschreiben vom nicht zu einem „Verbrauch“ der Einverständniserklärungen führen. Eine die spätere Endentscheidung wesentlich vorbereitende Sachentscheidung ging hiermit nicht einher. Das Schreiben erschöpfte sich im Kern in einem rechtlichen Hinweis auf die zwischenzeitlich ergangene Senatsentscheidung vom im Revisionsverfahren IX R 15/20 (BFHE 279, 403, BStBl II 2023, 351).

13 ccc) Das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung wurde zudem nicht durch den Ablauf eines erheblichen Zeitraums nach Abgabe der entsprechenden Erklärungen (im Jahr 2015) prozessrechtlich unwirksam. § 128 Abs. 2 Satz 3 der Zivilprozessordnung, der insofern eine Drei-Monatsfrist bestimmt, ist nicht entsprechend über § 155 Satz 1 FGO anwendbar (vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren , Rz 11, m.w.N.). § 90 Abs. 2 FGO ist abschließend.

14 ddd) Die fortbestehende Wirksamkeit des Verzichts auf mündliche Verhandlung wurde schließlich nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Erklärungen der Beteiligten ein Wechsel auf Seiten des Prozessbevollmächtigten der Kläger stattgefunden hatte (s. hierzu Senatsbeschluss vom  - IX B 110/15, Rz 15). Gleiches gilt für den geschäftsplanmäßigen Zuständigkeitswechsel für die Entscheidung über die Revision (vgl. , BFHE 263, 337, BStBl II 2021, 717, Rz 52). Ohnehin hätten diese Änderungen die Wirkung des Verzichts nicht von sich aus verbraucht. Vielmehr hätten sich die Kläger —vor der Entscheidung des Senats— auf eine veränderte Prozesslage berufen und ihre Verzichtserklärung widerrufen müssen. Dies blieb aus.

15 3. Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr von 60 € erhoben. Die Rüge bezieht sich auf eine gerichtliche Entscheidung, deren Verfahren vor dem und damit vor Inkrafttreten des Kostenrechtsänderungsgesetzes 2021 vom (BGBl I 2020, 3229) anhängig geworden ist (Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses, Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes; vgl. Senatsbeschluss vom  - IX S 6/23, Rz 9, m.w.N.).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:B.150524.IXS16.24.0- 5 -

Fundstelle(n):
AO-StB 2024 S. 238 Nr. 8
AO-StB 2024 S. 239 Nr. 8
BFH/NV 2024 S. 940 Nr. 8
ZAAAJ-68244