Instanzenzug: Az: 30 U 4281/22vorgehend LG Augsburg Az: 41 O 4158/21
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Der Kläger erwarb im Dezember 2018 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten VW Tiguan 2.0, der mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 288 ausgerüstet ist.
3Der Kläger hat zuletzt die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer bezifferten Nutzungsentschädigung nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs (Berufungsantrag zu 1), die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu 2) und die Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen (Berufungsantrag zu 3) begehrt.
4Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schlussanträge aus der Berufungsinstanz weiter.
Gründe
5Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
6Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
7Dem Kläger stünden keine deliktischen Ansprüche zu, weil er keine greifbaren Anhaltspunkte für eine unzulässige, grenzwertrelevante Abschalteinrichtung vorgetragen habe. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) habe zwischenzeitlich verschiedenste Motoren der Baureihe EA 288 untersucht, aber in keinem Fall eine unzulässige grenzwertrelevante Abschalteinrichtung festgestellt. Denn die Untersuchungen hätten ergeben, dass Motoren dieser Baureihe zwar eine prüfstandsbezogene Fahrkurvenerkennung aufwiesen, aber auch bei Deaktivierung der Funktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren einhielten. Selbst wenn die Beklagte eine unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut haben sollte, sei dies für den Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht ausreichend. Auch wenn die Beklagte insoweit fahrlässig gehandelt hätte, könne von einer Unkenntnis des KBA hinsichtlich der Abschalteinrichtungen nicht ausgegangen werden, nachdem verpflichtende Rückrufe nicht erfolgt seien. Letztlich sei auch ein Schaden des Klägers nicht ersichtlich, weil bezüglich des Fahrzeugs des Klägers eine Betriebseinschränkung oder -untersagung nicht drohe.
II.
8Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
91. Soweit der Kläger Ansprüche auf §§ 826, 31 BGB stützt, hat das Berufungsgericht eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung des Klägers aufgrund einer tatrichterlichen Würdigung der vom Kläger vorgetragenen Umstände rechtsfehlerfrei verneint. Die dagegen gerichteten Einwände der Revision greifen nicht durch.
10a) Damit eine unzulässige Abschalteinrichtung eine Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auslösen kann, müssen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Fahrzeug- und Motorherstellers als besonders verwerflich erscheinen lassen.
11Einen solchen Umstand kann es darstellen, dass die unzulässige Abschalteinrichtung danach unterscheidet, ob das Kraftfahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird oder ob es sich im normalen Fahrbetrieb befindet. Bei der Prüfstandbezogenheit handelt es sich um eines der wesentlichen Merkmale, nach denen eine - hier zugunsten des Klägers als vorhanden revisionsrechtlich zu unterstellende - unzulässige Abschalteinrichtung die Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllt. Die Tatsache, dass eine Software ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (, juris Rn. 12). Die Indizwirkung entfällt entgegen der Rechtsauffassung der Revision allerdings, sofern die unzulässige Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist ( VIa ZR 535/21, WM 2024, 40 Rn. 11). Im Fall der fehlenden Grenzwertkausalität bestehen keine Anhaltspunkte für eine Täuschung der Genehmigungsbehörde mit dem Ziel, die EG-Typgenehmigung zu erhalten (vgl. , juris Rn. 17).
12Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass der Hersteller bei der Entwicklung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. zuletzt nur , WM 2023, 1839 Rn. 12; - III ZR 303/20, juris Rn. 13 mwN).
13b) Auf dieser Grundlage hat das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB zutreffend verneint. Das Berufungsgericht ist rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgetragen habe, dass bei dem Fahrzeug des Klägers eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne einer grenzwertrelevanten Prüfstandserkennung vorhanden sei. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten insoweit einer Überprüfung anhand der von der Revision erhobenen Verfahrensrügen stand. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
142. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den die Richtlinie 2007/46/EG umsetzenden Vorschriften der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
15Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
16Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere kann ein Schadenseintritt nicht deshalb verneint werden, weil das Kraftfahrt-Bundesamt bislang von betriebsbeschränkenden Maßnahmen abgesehen hat (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 41 f.). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
17Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230124UVIAZR165.23.0
Fundstelle(n):
NAAAJ-60063