Feststellung von Prozessunfähigkeit
Leitsatz
1. NV: Die Annahme von Prozessunfähigkeit setzt grundsätzlich voraus, dass sämtliche Beweismittel ausgeschöpft werden, insbesondere ein Sachverständigengutachten eingeholt und zuvor eine persönliche Anhörung durchgeführt wird. Die fehlende Mitwirkung an der Aufklärung geht zu Lasten des Antragstellers.
2. NV: Ist für einen Antragsteller in der Vergangenheit eine sachverständige Begutachtung durchgeführt worden, die zur Feststellung von Prozessunfähigkeit geführt hat, und setzt der Antragsteller sein Prozessverhalten (hier: Anhängigmachung von hunderten aussichtslosen Verfahren bei den Obergerichten) unverändert fort, kann auch ohne erneute Begutachtung der Schluss auf das Fortbestehen der Prozessunfähigkeit gerechtfertigt sein.
Gesetze: FGO § 58 Abs. 1 Nr. 1; BGB § 104 Nr. 2; ZPO § 57
Tatbestand
I.
1 Die Antragstellerin erhob beim Niedersächsischen Finanzgericht (FG) am die beiden folgenden Klagen wegen vermeintlicher Verstöße gegen datenschutzrechtliche Regelungen:
- gegen die Präsidentin des Oberlandesgerichts Celle, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (Aktenzeichen 12 K 248/20),
- gegen den Präsidenten des Landgerichts Hannover, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (Aktenzeichen 12 K 249/20).
2 Das FG teilte der Antragstellerin mit, es beabsichtige, die Klagen an das für die Bearbeitung zuständige Verwaltungsgericht zu verweisen. Mit einem am eingegangenen Schreiben widersprach die Antragstellerin der beabsichtigten Verweisung.
3 Ebenfalls am erhob die Antragstellerin beim FG sieben weitere Klagen wegen vermeintlicher Verstöße gegen datenschutzrechtliche Regelungen. Für diese Verfahren vergab das FG nicht die für Klageverfahren vorgesehenen Aktenzeichen, sondern trug sie lediglich in das Allgemeine Register (AR) ein:
- gegen den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Hannover, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 1/21),
- gegen den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Braunschweig, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 2/21),
- gegen Richter . vom Verwaltungsgericht Hannover, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 3/21),
- gegen die Landesbeauftragte des Landes Niedersachsen (Frau .), das Land Niedersachsen und den Bundesdatenschutzbeauftragten (12 AR 4/21),
- gegen den Präsidenten des Landgerichts Lüneburg, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 5/21),
- gegen den Präsidenten des Landgerichts Stade, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 6/21),
- gegen den Präsidenten des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, den Landesbeauftragten des Landes Niedersachsen und das Land Niedersachsen (12 AR 7/21).
4 In einem Vermerk vom machte der Vorsitzende des angerufenen Senats des FG aktenkundig, dass die Antragstellerin beim FG schon früher zahlreiche Verfahren anhängig gemacht habe, für die das FG unzuständig gewesen sei. Diese Verfahren seien an die zuständigen Gerichte verwiesen worden. Einige der jeweiligen Beklagten hätten auf den gegen die Antragstellerin ergangenen 5 A 4.17 hingewiesen, aus dem sich nach Überzeugung des FG die Prozessunfähigkeit der Antragstellerin ergebe. Diese wende sich offensichtlich allein deshalb an das FG, weil dieses Gericht ihre Verfahren noch bearbeitet habe. Die nunmehr anhängig gemachten Verfahren würden daher nicht weiter bearbeitet, sondern lediglich zu den Akten genommen. Dies teilte das FG der Antragstellerin mit Schreiben vom mit.
5 Am erhob die Antragstellerin Verzögerungsrügen und beantragte die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Verfahrenspfleger. Mit einem am eingegangenen Schreiben rügte sie, eine Austragung aus den Registern des Gerichts könne nur durch Beschluss angeordnet werden.
6 Am gingen beim Bundesfinanzhof (BFH) Schriftsätze der Antragstellerin ein, nach deren Wortlaut sie Entschädigungsklagen erhob (nach dem Rubrum gegen das Land Niedersachsen; nach dem Einleitungssatz der Begründung indes gegen das Land Berlin) und hierfür Prozesskostenhilfe (PKH) beantragte. Beim BFH sind diese Eingaben ausschließlich als PKH-Anträge registriert worden.
7 Aus dem vom FG erwähnten 5 A 4.17 ergibt sich, dass das Amtsgericht (AG) X als Betreuungsgericht die Antragstellerin auf Anregung des örtlichen Familiengerichts mit Beschluss vom nach sachverständiger Begutachtung für den Bereich der Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten unter Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt gestellt hat. Der Gutachter war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Antragstellerin unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung leide, da sie logischen und sinnvollen Argumentationen gegenüber unzugänglich sei und den Realitätsbezug verloren habe. Die Anordnung der Betreuung wurde in der Beschwerdeinstanz vom Landgericht bestätigt.
8 Mit Beschluss vom hob das AG die Anordnung der Betreuung wieder auf. Grund hierfür war ausweislich der Ausführungen des BVerwG allerdings nicht etwa, dass die Voraussetzungen für eine Betreuung entfallen waren. Vielmehr habe sich die Antragstellerin als unbetreubar erwiesen. Sie habe ihr Prozessverhalten nicht nur unverändert fortgesetzt, sondern unter der Betreuung noch erheblich gesteigert und ihre Anträge nunmehr auch gegen den Betreuer gerichtet, so dass ein Ergänzungsbetreuer habe bestellt werden müssen.
9 Mit dem bereits erwähnten Beschluss vom - 5 A 4.17 sah das BVerwG die Antragstellerin als prozessunfähig an. Hierfür legte es die Beschlüsse des Betreuungsgerichts sowie das Prozessverhalten der Antragstellerin vor dem BVerwG zugrunde (457 Verfahren in gut drei Jahren, die allesamt erfolglos geblieben waren).
10 Beim BFH hat die Antragstellerin von 2016 bis heute 118 Verfahren anhängig gemacht, von denen 109 bereits entschieden wurden und sämtlich erfolglos waren.
Gründe
II.
11 1. Die Verbindung der Verfahren beruht auf § 73 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Dies ist sachgerecht, da die Verfahren gleichgelagert sind.
12 2. Der Senat legt die am eingegangenen Eingaben der Antragstellerin dahingehend aus, dass damit lediglich PKH für beabsichtigte Entschädigungsklagen beantragt werden soll. Zwar hat die Antragstellerin nach dem Wortlaut ihrer Eingaben auch Entschädigungsklagen erhoben. Diese wären aber im Hinblick auf die fehlende Postulationsfähigkeit der Antragstellerin (§ 62 Abs. 4 FGO) unzulässig. Die vom Senat vorgenommene Auslegung ist daher zur Vermeidung einer die Antragstellerin belastenden Kostenpflicht geboten. Für die Antragstellerin tritt dadurch kein Rechtsnachteil ein, da im Fall der Gewährung von PKH die Entschädigungsklagen —gegebenenfalls unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand— in wirksamer Form durch einen Prozessbevollmächtigten erhoben werden könnten.
III.
13 Die Anträge sind unzulässig, weil die Antragstellerin prozessunfähig ist.
14 1. Fähig zur Vornahme von Prozesshandlungen ist grundsätzlich, wer nach dem bürgerlichen Recht geschäftsfähig ist (§ 58 Abs. 1 Nr. 1 FGO). Geschäftsunfähig ist unter anderem, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Dabei ist auch eine partielle Geschäftsunfähigkeit —beschränkt auf einen bestimmten Teilbereich des Lebens— möglich ( V C 147.67, BVerwGE 30, 24).
15 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) setzt die Annahme von Prozessunfähigkeit grundsätzlich voraus, dass sämtliche Beweismittel ausgeschöpft werden, insbesondere ein Sachverständigengutachten eingeholt und zuvor eine persönliche Anhörung durchgeführt wird. Ferner ist auf die Bestellung einer Betreuungsperson hinzuwirken (zum Ganzen , Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht - Rechtsprechungs-Report 2016, 495). Wenn jedoch auch nach Erschöpfung der Möglichkeiten des Gerichts Zweifel an der Prozessfähigkeit verbleiben, gehen diese zu Lasten der Antragstellerin, so dass von ihrer Prozessunfähigkeit auszugehen ist ( u.a., Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2021, 891, Rz 11 f.).
16 2. Nach diesen Grundsätzen ist von der Prozessunfähigkeit der Antragstellerin auszugehen.
17 a) Aus dem 5 A 4.17 und den darin in Bezug genommenen Unterlagen (Sachverständigengutachten, Beschlüsse des Betreuungs- und Beschwerdegerichts) ergibt sich, dass die Antragstellerin seinerzeit prozessunfähig war. Daran hat sich zur Überzeugung des Senats bis heute nichts geändert. Am BFH hat die Antragstellerin auch nach 2017 eine Vielzahl aussichtsloser Verfahren anhängig gemacht. Ferner ergibt sich aus weiteren gerichtlichen Entscheidungen jüngeren Datums, dass die Antragstellerin auch weiterhin hunderte aussichtslose Verfahren bei verschiedenen deutschen Gerichten anhängig macht (z.B. Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen —OVG NRW— vom - 4 A 394/22, dessen Art der Bezugnahme auf den 5 A 4.17 deutlich erkennen lässt, dass es sich um ein Verfahren der Antragstellerin handelte).
18 Dies zeigt —ebenso wie die in den Ausgangsverfahren erhobenen Klagen, für die eine Zuständigkeit der Finanzgerichtsbarkeit nicht einmal entfernt in Betracht kommt—, dass die Antragstellerin auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Bezug auf ihre Prozessangelegenheiten logischen und sinnvollen Argumentationen gegenüber unzugänglich ist und den Realitätsbezug verloren hat.
19 b) Der Senat ist unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht verpflichtet, die Antragstellerin nochmals sachverständig begutachten zu lassen. Die Antragstellerin ist im Verfahren vor dem Betreuungsgericht von einem Sachverständigen begutachtet worden, der aus der Begutachtung die Prozessunfähigkeit der Antragstellerin gefolgert hat. Anlass für eine erneute Untersuchung besteht erst dann, wenn Anzeichen für eine Änderung des Zustandes vorliegen (vgl. V C 223.65, BVerwGE 25, 36). Daran fehlt es. Auch wenn seitdem bereits gut neun Jahre verstrichen sind, hat sich das Prozessverhalten der Antragstellerin, das für den Gutachter und das Betreuungsgericht für den Schluss auf das Bestehen von Prozessunfähigkeit maßgeblich war, nicht geändert. Sowohl nach den Ausführungen des BVerwG als auch nach denen des OVG NRW als auch nach den eigenen Erkenntnissen des Senats macht die Antragstellerin weiterhin hunderte aussichtslose Verfahren vor den (Ober-)Gerichten anhängig. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin in dem seit der Begutachtung verstrichenen Zeitraum ihre Prozessfähigkeit wiedererlangt haben könnte, sind nicht ersichtlich.
20 3. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass ein Verfahrenspfleger nach § 58 Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 57 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO), wie von der Antragstellerin —in den Ausgangsverfahren— beantragt, nicht zu bestellen ist. Sie soll nicht als nicht prozessfähige Partei verklagt werden, wie es § 57 Abs. 1 ZPO seinem Wortlaut nach verlangt. Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise dem Kläger ein Pfleger zu bestellen ist (vgl. nur Senatsbeschluss vom - X S 47/15, BFH/NV 2016, 1044, Rz 14, m.w.N.), liegen nicht vor.
21 4. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen. In Ermangelung eines Gebührentatbestands nach dem Kostenverzeichnis zum Gerichtskostengesetz (GKG) werden keine Gerichtskosten erhoben (§ 3 Abs. 2 GKG). Kosten, die dem Gegner entstanden sind, werden nicht erstattet (§ 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:B.310124.XS32.23.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-59379