BGH Beschluss v. - XIII ZB 47/21

Instanzenzug: Az: 39 T 87/21vorgehend AG Bergheim Az: 49 XIV(B) 32/21

Gründe

1I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit - spätestens seit August 2020 bestandskräftigen - Bescheiden ab und forderte ihn auf, das Bundesgebiet zu verlassen. Auf Antrag der beteiligten Behörde, die den Betroffenen am mit einem Sammelcharter nach Pakistan abschieben wollte, ordnete das Amtsgericht am im Wege der einstweiligen Anordnung an, den Betroffenen bis zum Ablauf des in Ausreisegewahrsam zu nehmen.

2Mit Beschluss vom hat das Amtsgericht den Antrag der beteiligten Behörde auf Anordnung von Ausreisegewahrsam bis zum abgelehnt. Auf die dagegen von der beteiligten Behörde eingelegte Beschwerde hat das Beschwerdegericht mit Beschluss vom die Entscheidung des Amtsgerichts abgeändert und gegen den Betroffenen, der bereits aus der Haft entlassen worden war, Ausreisegewahrsam bis zum Ablauf des angeordnet. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene, der nicht erneut in Haft genommen wurde, die Feststellung, dass er durch den Beschluss des Beschwerdegerichts in seinen Rechten verletzt worden ist.

3II. Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

41. Allerdings ist das Rechtsmittel gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft. Danach ist die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde gegen solche Entscheidungen des Beschwerdegerichts eröffnet, die eine Freiheitsentziehung anordnen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil das Beschwerdegericht - in Abänderung der Entscheidung des Amtsgerichts - gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam bis zum Ablauf des angeordnet hat. Dass sich der Betroffene tatsächlich aufgrund dieser Anordnung nicht in Haft befunden hat, steht dem nicht entgegen. Auf den Vollzug der angeordneten Freiheitsentziehung kommt es nach dem klaren Wortlaut der Norm für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels nicht an.

52. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unzulässig, weil sich der Beschluss des Beschwerdegerichts in der Hauptsache erledigt hat und der Betroffene kein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, dass ihn dieser in seinen Rechten verletzt hat.

6a) Der Gegenstand der angefochtenen Entscheidung - die Anordnung der Freiheitsentziehung in Form des Ausreisegewahrsams gegen den Beklagten - hat sich mit Ablauf des , dem Ende der am selben Tag für den Zeitraum bis 23.59 Uhr festgelegten Haftzeit, in der Hauptsache erledigt. Die Erledigung der Hauptsache hat die Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde zur Folge (, FamRZ 2011, 1390 Rn. 6), sofern nicht zugunsten des Betroffenen ein besonderes Feststellungsinteresse besteht.

7b) Ein solches Feststellungsinteresse ist im Streitfall nicht gegeben.

8aa) Nach § 62 Abs. 1 FamFG spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt und der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat. Diese Vorschrift findet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechende Anwendung (vgl. nur , InfAuslR 2010, 249 Rn. 9 f.). Ein berechtigtes Interesse liegt gemäß § 62 Abs. 2 FamFG in der Regel vor, wenn entweder schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen oder eine Wiederholung konkret zu erwarten ist. Erforderlich ist allgemein ein schützenswertes Interesse daran, eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen (vgl. Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Aufl., § 62 FamFG Rn. 6; Abramenko in Prütting/Helms, FamFG, 6. Aufl., § 62 Rn. 9).

9bb) Ein schwerwiegender Grundrechtseingriff liegt hier unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung im Beschluss des Beschwerdegerichts vom bereits deshalb nicht vor, weil diese Haft nicht vollzogen worden ist.

10(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein tiefgreifender Grundrechtseingriff insbesondere im Fall einer Freiheitsentziehung gegeben. Dies gilt auch dann, wenn die Freiheitsentziehung aufgrund einer Haftanordnung zur Sicherung der Abschiebung erfolgt (vgl. , InfAuslR 2021, 289 Rn. 15 mwN). Da sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf häufig auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann, gebietet es effektiver Grundrechtsschutz in diesen Fällen, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung auch des tatsächlich nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 3/88, BVerfGE 81, 138 [juris Rn. 8]; vom - 2 BvR 817/90, BVerfGE 96, 27 [juris Rn. 49]; vom - 2 BvR 527/99, BVerfGE 104, 220 [juris Rn. 34]; Urteil vom - 1 BvR 330/96, BVerfGE 107, 299 [juris Rn. 132]; BVerfG, InfAuslR 2021, 289 Rn. 15). Zudem indiziert eine unberechtigte Inhaftierung ein Rehabilitierungsinteresse. Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit, mit denen der Staat auf festgestelltes, begründeterweise vermutetes oder zu besorgendes rechtswidriges Verhalten des Einzelnen reagiert, berühren den davon Betroffenen im Kern seiner Persönlichkeit, auch wenn sie nicht mit einer strafrechtlichen Unwerterklärung verbunden sind. Daher hat eine solche Anordnung, wenn sie rechtswidrig ist, diskriminierenden Charakter und lässt eine auch nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit schutzwürdig erscheinen (vgl. BVerfGE 104, 220, 235; BVerfG, InfAuslR 2021, 289 Rn. 15).

11Vor diesem Hintergrund bejaht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG, wenn der Betroffene nach Ablauf der Haftzeit die Rechtswidrigkeit der Anordnung einer gegen ihn vollzogenen Sicherungshaft rügt (vgl. nur BGH, InfAuslR 2010, 249 Rn. 9 f.). Gleiches gilt für die nachträgliche rechtliche Überprüfung eines vollzogenen Ausreisegewahrsams (vgl. nur , juris Rn. 7).

12(2) Das mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbundene Rehabilitierungsinteresse ist jedoch grundsätzlich nur dann zu bejahen, wenn es infolge der angefochtenen Entscheidung auch zu einem effektiven Eingriff in die Rechte des Betroffenen gekommen, die Rechtsverletzung also auch als solche eingetreten ist (vgl. OLG Hamm, FGPrax 2004, 231 [juris Rn. 12, 13]; OLG Brandenburg, FamRZ 2013, 802 Rn. 20; OLG Düsseldorf, FamRZ 2015, 1047 Rn. 24; Obermann in Hahne/Schlögel/Schlünder, BeckOK FamFG, 48. Ed., § 62 Rn. 23; Göbel in Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 62 Rn. 20). Das ist nicht der Fall, wenn die - unterstellt rechtswidrig - angeordnete Haft, wie hier, gar nicht vollzogen worden und somit die persönliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen nicht eingeschränkt worden ist. Denn dann ist auch die gerade mit dem (unrechtmäßigen) Freiheitsentzug verbundene Verletzung der Persönlichkeit nicht eingetreten.

13Bei einer nur angeordneten, tatsächlich aber nicht vollzogenen Haft kann daher unter dem Gesichtspunkt des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs jedenfalls solange, wie nicht auf Seiten des Betroffenen besondere Umstände hinzutreten, die bereits die Androhung des Freiheitsentzugs als eine schwerwiegende Beeinträchtigung seiner Grundrechte erscheinen lassen, ein Feststellungsinteresse nicht bejaht werden. Solche besonderen Umstände sind im Streitfall nicht ersichtlich, denn der Betroffene hat nicht einmal vorgebracht, vor Ablauf der angeordneten Haftzeit Kenntnis von der angefochtenen Entscheidung erhalten zu haben.

14cc) Auch eine Wiederholungsgefahr nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 FamFG besteht entgegen der Ansicht des Betroffenen im Streitfall nicht. Die Rechtsbeschwerde stützt die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Haftanordnung durch das Beschwerdegericht allein auf die fehlende Anhörung des Betroffenen in der Beschwerdeinstanz, die sie deshalb für unverzichtbar erachtet, weil das Beschwerdegericht abweichend vom Amtsgericht eine beim Betroffenen bestehende Fluchtgefahr bejaht hat. Sie legt jedoch nicht dar, dass eine Wiederholung dieses Verfahrensfehlers durch das Beschwerdegericht gegenüber dem Betroffenen konkret zu erwarten wäre, was Voraussetzung für die Bejahung eines Feststellungsinteresses wäre (vgl. zu diesem Erfordernis Obermann in Hahne/Schlögel/Schlünder, aaO, § 62 Rn. 24). Eine solche Wiederholung erscheint auch schon deshalb fernliegend, weil offen ist, ob die beteiligte oder eine andere Behörde einen erneuten Haftantrag gegen ihn stellt, und weil zudem in einem solchen Fall die tatsächlichen Umstände neu festzustellen und von den Gerichten zu würdigen wären.

15dd) Soweit die Rechtsbeschwerde schließlich meint, dem Betroffenen stehe ein besonderes Rehabilitierungsinteresse zur Seite, weil dieser sich nach seiner Festnahme am über Stunden in einer verschmutzten Zelle des Amtsgerichts befunden habe, ist auch dem nicht zu folgen. Sie verkennt dabei, dass dieser von ihr genannte - mögliche - Grundrechtseingriff nicht auf der angefochtenen Entscheidung beruhte, sondern im Gegenteil im ersten Rechtszug des vorliegenden Verfahrens durch die Ablehnung des Haftantrags der beteiligten Behörde im gerade beendet wurde.

16III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:191223BXIIIZB47.21.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-57794