BGH Urteil v. - VIa ZR 1012/22

Instanzenzug: Az: 4 U 113/21vorgehend LG Tübingen Az: 4 O 340/20

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2Der Kläger kaufte am von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten VW Multivan T5, der mit einem Motor der Baureihe EA 189 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. Den Kaufpreis finanzierte er teilweise mithilfe eines Darlehens. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung abhängig von der Außentemperatur gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" außerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs reduziert. Das Fahrzeug ist nicht von einem vom Kraftfahrt-Bundesamt veranlassten Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen.

3Der Kläger hat zuletzt den Ersatz des Kaufpreises und der Kreditkosten nebst Prozesszinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen begehrt.

4Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.

Gründe

5Die Revision des Klägers, die entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung sämtliche deliktischen Schadensersatzansprüche nebst davon abhängige Nebenansprüche erfasst (vgl. VIa ZR 1031/22, NJOZ 2023, 1133 Rn. 10 f.; Urteil vom - VIa ZR 1470/22, juris Rn. 6), hat Erfolg.

I.

6Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:

7Aus der Installation des Thermofensters ergebe sich kein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB. Dabei könne als wahr unterstellt werden, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug nur innerhalb des vom Kläger behaupteten Temperaturbereichs uneingeschränkt funktioniere und damit eine unzulässige Abschalteinrichtung implementiert sei. Der Kläger habe jedoch keine Anhaltspunkte vorgebracht, die einen Rückschluss auf eine besonders verwerfliche Gesinnung der Mitarbeiter der Beklagten zuließen. Dasselbe gelte für die erstmalige Behauptung des Klägers im Berufungsverfahren, sein Fahrzeug sei mit einer sogenannten "Akustikfunktion" versehen, die die Einspritzstrategie des Kraftstoffs verändere. Dieser Vortrag könne schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil der Kläger nicht dargelegt habe, warum er ihn nicht schon im erstinstanzlichen Verfahren hätte halten können. Soweit er vorgebracht habe, er habe nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist neue Informationen in Form eines nun vorliegenden Schreibens der Beklagten vom erlangt, habe er weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, wann und auf welche Weise er diese Erkenntnisse erlangt haben wolle.

8Dem Kläger stehe auch kein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit europarechtlichen Schutzgesetzen zu. Die relevanten Normen der Richtlinie 2007/46/EG und der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bezweckten nicht den Schutz des Käufers vor dem vom Kläger geltend gemachten Schaden in Form des Abschlusses eines ungewollten Vertrags.

II.

9Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

101. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte hafte nicht wegen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung im Sinne des § 826 BGB, lässt einen entscheidungserheblichen Rechtsfehler nicht erkennen. Die dagegen gerichteten Einwände der Revision greifen nicht durch.

11a) Eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ist indiziert, wenn eine im Fahrzeug verbaute unzulässige Abschalteinrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung grenzwertkausal verstärkt aktiviert ( VIa ZR 535/21, zVb, Rn. 11 mwN). Funktioniert die unzulässige Abschalteinrichtung dagegen auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise oder ist sie nicht grenzwertkausal, kommt eine objektive Sittenwidrigkeit nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung und/oder Verwendung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm (BGH, Urteil vom 6. November, aaO, Rn. 12 mwN).

12b) Auf dieser Grundlage hat das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach §§ 826, 31 BGB zu Recht verneint.

13aa) Die Revision beanstandet erfolglos, das Berufungsgericht habe verkannt, dass es sich nach dem Vortrag des Klägers bei dem Thermofenster und der Akustikfunktion um die Sittenwidrigkeit indizierende prüfstandsbezogene Abschalteinrichtungen handele.

14(1) Der Kläger hat vorgebracht, das Thermofenster reduziere die Abgasrückführung bei einer Temperatur unter 15° C. Wie die Revision einräumt, ist die Funktionsweise danach nicht exakt auf die Bedingungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) zugeschnitten, sondern ihnen allenfalls angenähert. Das genügt für die Annahme eines sittenwidrigen Vorgehens der Beklagten nicht (vgl. , NJW 2021, 3721 Rn. 15 ff.).

15(2) Nichts anderes gilt für die vom Kläger behauptete Akustikfunktion. Die Revision rügt allerdings zu Recht, das Berufungsgericht hätte den Vortrag des Klägers mit der gegebenen Begründung nicht nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zurückweisen dürfen. Der Kläger war weder ohne weiteres gehalten, Einzelheiten zu der behaupteten Kenntniserlangung erst während des Berufungsverfahrens mitzuteilen (vgl. , VersR 2021, 1252 Rn. 20; Beschluss vom - VIII ZR 160/21, juris Rn. 18), noch musste er sein Vorbringen ohne gerichtliches Verlangen glaubhaft machen (vgl. § 531 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Auch war er grundsätzlich nicht zur Ermittlung ihm unbekannter Umstände verpflichtet (vgl. Xa ZR 110/09, NJW-RR 2011, 211 Rn. 28; Beschluss vom - VII ZR 339/12, NJW-RR 2014, 85 Rn. 9). Aus dem Vortrag des Klägers folgt indessen nicht die Prüfstandsbezogenheit der behaupteten Akustikfunktion. Wie die Revision zugesteht, ist der vom Kläger angeführte Temperaturrahmen für die Aktivierung der Akustikfunktion von 18° C bis 33° C weiter als derjenige des NEFZ.

16bb) Ebenfalls erfolglos macht die Revision geltend, die unterbliebene Offenlegung der genauen Wirkungsweise des Thermofensters und der Akustikfunktion im Typgenehmigungsverfahren zeige, dass den für die Beklagte handelnden Personen die Verwendung von unzulässigen Abschalteinrichtungen bewusst gewesen sei und sie diese verheimlicht hätten. Dem steht entgegen, dass die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG) gehalten war, gegebenenfalls erforderliche Angaben zu den Einzelheiten der Funktionsweise der Einrichtungen zu erfragen und sich auf diese Weise in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Einrichtungen zu prüfen (vgl. , NJW 2021, 3721 Rn. 26).

172. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den die Richtlinie 2007/46/EG umsetzenden Vorschriften der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV in der jeweils maßgeblichen Fassung (vgl. VIa ZR 374/22, WM 2023, 2194 Rn. 9 ff.) aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

18Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

19Das Berufungsurteil hat gleichwohl Bestand, soweit der Kläger die Freistellung von Zinsen aus den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten begehrt. Insoweit stellt sich die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Auf den Befreiungsanspruch findet die Regelung des § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB zur Geldschuld weder unmittelbare noch entsprechende Anwendung ( VIa ZR 1139/22, juris Rn. 11 mwN).

IV.

20Im Übrigen ist das Berufungsurteil aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

21Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen zu haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:111223UVIAZR1012.22.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-57336