BGH Beschluss v. - V ZR 59/23

Gehörsverletzung bei unterbliebener Vernehmung der Zeugen in Berufungsrechtszug

Gesetze: § 398 Abs 1 ZPO, § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 8 U 72/21vorgehend LG Magdeburg Az: 9 O 903/19

Gründe

I.

1Mit notariellem Vertrag vom verkauften die Beklagten an die Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten. Nach Besitzübergabe am führte die Klägerin den Hotelbetrieb weiter fort. § 5 des notariellen Vertrages, der am Beurkundungstag noch gegenüber einem vorherigen Entwurf geändert worden war, lautet u.a. wie folgt:

2Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe eines Betrages von 335.725,21 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten. Das Landgericht hat der Klage bis auf einen geringfügigen Teil der Zinsen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise geändert und die Klage bis auf einen Betrag von 50.023,20 € nebst Zinsen abgewiesen. Die Revision gegen seine Entscheidung hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen.

II.

3Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch - so die Auffassung des Landgerichts - für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag () ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung i.H.v. 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Die Beklagten seien nach Betriebsübergang nicht mehr in der Lage gewesen, die eingegangenen Verbindlichkeiten für bereits gebuchte Veranstaltungen zu erfüllen und Hotelleistungen für die ausgegebenen Gutscheine zu erbringen. Sie seien deshalb darauf angewiesen gewesen, dass die Klägerin die verabredeten Veranstaltungen nach Betriebsübergang durchführte sowie die Gutscheine gegen sich gelten ließ und die entsprechenden Leistungen erbrachte. Deshalb sehe der Vertrag zu den „Events, Übernachtungen, Feiern o.ä.“ auch keine einseitige Zahlungsverpflichtung der Beklagten vor, sondern gehe von einer gegenseitigen Verpflichtung im Sinne eines Synallagmas aus, wenn dort eine Erstattungspflicht des Verkäufers voraussetze, dass die entsprechenden Veranstaltungen „nach dem Übergabetag stattgefunden haben.“ Bei noch offenen, einzulösenden Gutscheinen sei die Interessenlage ähnlich, so dass insoweit im Hinblick auf die in der Klausel enthaltene Formulierung „Gleiches gilt“ entsprechend verfahren werden müsse. Aus der Vertragshistorie ergebe sich nichts Anderes.

4Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kund zu tun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation, der das Landgericht gefolgt sei, eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des Zeugen V.            als ehemaligem Hotelleiter der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des Landgerichts nicht, auch wenn der Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen, und über eine Verjährung sei nicht gesprochen worden. Ein Anspruch auf Erstattung vorprozessualer Rechtsanwaltskosten scheide mangels Verzuges der Beklagten aus.

III.

5Die Nichtzulassungsbeschwerde hat ganz überwiegend Erfolg. Das angefochtene Urteil ist gemäß § 544 Abs. 9 ZPO in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Klägerin rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat.

61. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen. Liegt ein solcher Ausnahmefall nicht vor, verletzt die unterbliebene erneute Vernehmung der Zeugen den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. , NJW-RR 2009, 1291 Rn. 4 f.; Urteil vom - VI ZR 98/22, NJW-RR 2023, 700 Rn. 6 f.).

72. Hier hat das Berufungsgericht die Zeugenaussagen anders als das Landgericht gewürdigt.

8a) Das Landgericht ist in dem Urteil zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Die dahingehende Änderung des ursprünglichen Vertragsentwurfs sei übereinstimmend gewollt gewesen, um einen klaren Schnitt zu machen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des Zeugen V.              gestützt. Hiernach habe sich die Erstattungsfähigkeit vollumfänglich auf sämtliche Gutscheine erstrecken sollen.

9b) Demgegenüber geht das Berufungsgericht davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem Landgericht abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das Landgericht hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des Zeugen V.            . Abweichend von der Würdigung des Landgerichts soll sich nach dem Verständnis des Berufungsgerichts aus den Angaben dieses Zeugen nicht ergeben, dass sich die Erstattungsfähigkeit auf sämtliche Gutscheine erstrecken sollte.

103. Der Verstoß gegen den Anspruch auf das rechtliche Gehör ist ganz überwiegend auch entscheidungserheblich.

11a) Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an. Gäbe es einen solchen Willen der Parteien, hätte er in § 5 Nr. 4 des notariellen Vertrages auch einen ausreichenden Ausdruck gefunden (vgl. zu dieser Voraussetzung Senat, Urteil vom - V ZR 89/22, NJW 2023, 2942 Rn. 15 mwN).

12b) Auf die Unbegründetheit des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten hat die unterbliebene erneute Vernehmung der Zeugen hingegen keinen Einfluss. Das Berufungsgericht verneint einen solchen Anspruch der Klägerin bereits dem Grunde nach, weil sich die Beklagten nicht im Verzug befunden hätten. Insoweit fehlt es deshalb an der Entscheidungserheblichkeit der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Dass die Ausführungen des Berufungsgerichts an einem sonstigen zulassungsrelevanten Rechtsfehler leiden, zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde nicht auf.

Brückner                      Haberkamp                      Hamdorf

                     Laube                               Grau

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:231123BVZR59.23.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-56180